Richard Voß
Römisches Fieber
Richard Voß

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29. Katastrophen

Prisca sah den Geliebten nicht wieder. Zunächst wollte sie Steffens alles sagen. Sie hielt es für unmöglich, ihrem Verlobten das Vorgefallene zu verschweigen, und verschwieg es dann doch. Ihr erster Gedanke war: ›Du hast nicht das Recht, diesen Treubruch – denn ein solcher war es für ihre Empfindung, deinem künftigen Gatten zu verheimlichen.‹ Ihr letzter Entschluß, zu dem sie erst nach einer schweren Stunde gelangte, lautete: es wäre ein Unrecht gegen ihn, würdest du ihm deine Schuld gestehen. Du mußt sie für dich tragen, mußt sie allein sühnen. Dein Verschweigen muß deine Strafe sein.

Wenn sie mit einem Geständnis vor ihn getreten, wäre dann ihr Bekenntnis nicht zugleich die Forderung gewesen: Gib mich frei!? Du mußt mich freigeben! Durfte sie ihm zumuten, sie nicht freizugeben? Da es noch Zeit war! Und was dann? Dann hätte sie jenen schändlichen Diebstahl begangen, hätte sie dem Hungernden das Brot genommen, eine Tat, vor welcher der Geliebte zurückgebebt war.

»Es ist zu spät!«

So hatte sie ihm zugerufen, und es war zu spät. An das Verbrechen, welches sie gegen sich selbst beging, das Weib eines ungeliebten Mannes zu werden, daran durfte sie nicht denken. Sie wußte, daß diese Heirat nicht allein das Opfer ihres ganzen Menschen, sondern auch der Tod ihrer ganzen Frauenwürde war; aber dennoch gelangte sie immer wieder zu dem Entschlusse, schweigen zu müssen.

Ihre Handlungsweise entsprang keiner Feigheit, es war Mut. Aber es war der Mut des Fanatikers; und in der tiefen Verwirrung, in die ihre sonst so klare und feste Natur gestürzt war, bedachte sie nicht, daß der Mensch – besonders das Weib, sehr oft zur unrechten Zeit Held ist, und daß die Ekstase sehr leicht Märtyrer macht, und das häufig vollkommen nutzlos.

Immer war es ein und dasselbe fanatische Wort, welches Prisca mit flammenden Buchstaben ihr Wesen durchlodern fühlte: Entsagung! Es war das Motto ihres Lebens geworden. Und warum diese Aszese? Auch die Antwort auf diese Frage lautete stets gleichmäßig: um eine wertvolle Existenz zu retten, die ohne sie verloren war! Doch das Glück des Geliebten? Sie konnte nicht zu der Überzeugung durchdringen, daß sie sein Glück wirklich gewesen wäre. Er war solche Kraft! Wer mit so großem, gelassenem Mute einsehen konnte, daß er sich in seiner Kunst, die sein Lebensglück gewesen, auf falschen Bahnen befunden, wer zu erkennen vermochte, daß es nicht in seiner Natur, also nicht in seiner Macht lag, andre Bahnen einzuschlagen, und dann starken Herzens die Entsagung übte, den Künstler aufzugeben und einen andern Beruf zu ergreifen, der würde mit solcher Alltagsenttäuschung in der Liebe schnell fertig werden; der hatte des Lebensbrotes zu sehr im Überfluß, um jemals Mangel leiden zu können. Was dagegen ihren Verlobten anbetraf, so besaß sie nun einmal die für sie unumstößliche Gewißheit, daß er ihrer bedurfte, wie nur jemals ein Mensch der Hilfe und Kraft eines andern bedurft hatte. Durch alles, was ihr in der letzten Zeit begegnete, war sie in diese Zuversicht gewaltsam hineingetrieben worden; Personen sowohl wie Umstände hatten dazu beigetragen, sie in den Glauben zu versetzen, es wäre ihre Pflicht, demjenigen anzugehören, dem sie mit ihrem ganzen Sein nützen konnte. So hatte sie denn dem Geliebten gegenüber nur das eine Wort der Hoffnungslosigkeit: zu spät!

Jeder Mensch muß sein Leben ausbauen, wie seine Natur von ihm verlangt. In Priscas Natur waren von frühester Kindheit an Selbstverleugnung und Hingabe machtvoll entwickelt worden; mit ihrem Vater hatte ihre Übung im Verneinen des eignen Ichs begonnen; mit ihrem Gatten sollte es sich vollenden; sie glaubte eine eigne Persönlichkeit zu sein und war doch stets mit ihrer ganzen Existenz in der eines andern aufgegangen.

Ja, Prisca Auzinger, für dich ist es zu spät!

Den Abend vor ihrem Hochzeitstage sollten Steffens und Prisca bei Friedrike und Peter Paul verbringen. Die Freunde hatten die ganze Wohnung mit Grün und Blumen geschmückt, vor dem Hause den Tisch gedeckt und ihn mit Malmaison-Rosen und Myrtenzweigen bestreut. In Fräulein Friedrikens »Küche« wurden frisch von Anzio eingetroffene Hummern gesotten und junge Hühner gebraten. Sogar ein Hochzeitskuchen war am Vormittage aus den Händen von Signorina Rica hervorgegangen und ihr besser geraten als seinerzeit die Kopien von Guido Renis Beatrice Cenci.

Mit ihren besten Feiertagsgewändern angetan und in tiefgerührter, gefühlvoller Stimmung erwarteten die Wirte das Brautpaar, welches Arm in Arm erschien.

Wer Steffens vor einem Jahre gesehen, hätte den Mann heute nicht wieder erkannt, eine solche Wunderkraft besah selbst für einen Menschen von seinem zerrissenen Wesen das Glück, jenes Glück, welches allein der sichere Besitz eines teuren Weibes zu gewähren vermag. Seine Blicke ließen nicht von Priscas Gesicht, von Priscas Augen. Ach, diese Augen, die es ihm angetan hatten!

Sie trug ein hellgraues Kleid und sah heute auch ohne Kranz von blaßvioletten Malven fremdartig schön aus, aber mehr wie eine Geweihte als wie eine glückliche Braut am Vorabend ihres Hochzeitstags.

Nur Steffens war redselig. Zum erstenmal sprach er von seiner Kindheit und Jugend, die elend gewesen waren. Er konnte als Beispiel dafür gelten, wie die Leiden und Drangsale einer jammervoll verbrachten ersten Lebenszeit im Gemüte unverlöschbare Spuren zurücklassen, die oft unvertilgbaren Verwüstungen gleichen; wie Geschick und Glück eines Menschen oft schon durch frühe, trostlose Erfahrungen bestimmt werden, ebenso wie Begabungen und Eigenschaften. Nur wer die Kindheit- und Jugendgerichte dieses Mannes kannte, war imstande, die Entstellungen milder zu beurteilen, die für manchen den Menschen sowohl wie den Künstler unverständlich und unsympathisch machten.

Während Steffens erzählte, mußte Prisca unausgesetzt denken: »Wenn jetzt auch du ihn verlassen hättest, nachdem du dich ihm doch gegeben hast! Wie hättest du ihm das antun dürfen? Er liebt dich, er vertraut dir, er sieht in dir seine Zukunft, und du könntest ihm alles das nehmen, nachdem er es kaum empfing? Und es ihm nehmen, um mit einem andern Manne, der dich auch nicht mehr liebt als dieser, glücklich zu sein. Glücklich zu sein... Vermöchtest du das? Bedenke doch!«

»Gewiß, o gewiß, du tust das Rechte! Niemals tatest du etwas, das richtiger gewesen wäre. Sei ganz ruhig, dein Tun wird gesegnet sein.«

Als sie dann auseinandergingen, sagte Steffens mit Ergriffenheit:

»Morgen ist der erste glückliche Tag meines Lebens. Möchte ich seiner wert sein!«

Prisca faßte seine Hand und behielt sie in der ihren. Gott sei Dank, daß sie seine Hand fassen und halten konnte!

Obgleich sie sich sehr müde fühlte, ging sie nicht zu Bette. Fräulein Friedrike, die noch einen Auftrag für sie hatte, fand sie vor dem Hause sitzen und in der warmen Septembernacht ausruhen. Aber als müßte sie sich dem Frieden und der Schönheit der Stunde gewaltsam entreißen, stand sie bei dem Kommen der Freundin rasch auf und ging mit ihr ins Zimmer, wo sie sogleich Licht anzündete und das Fenster schloß.

Fräulein Friedrike geriet ins Plaudern. Erst als sie endlich gehen wollte, fiel ihr ein, daß sie Prisca etwas zu geben hatte: »Ein Modell aus Rocca di Papa brachte es für dich. Ich glaube, es ist ein Brief deiner Wirtin und sollte dir längst übergeben worden sein. Aber das Mädchen kannte dich nicht und lieferte das Schreiben erst heute an mich ab.«

Da Fräulein Friedrike neugierig zu sein schien, was die gute Frau aus Rocca, die als echte Latinerin des Lesens und Schreibens unkundig war, Prisca Wichtiges zu sagen hatte, öffnete diese das mit einem schwarzen wollenen Faden vielfach umwundene, in ein Exemplar des »Messaggiero« eingewickelte kleine Paket. Es enthielt einen Brief, dessen Papier und Schrift vergilbt waren, und eine Photographie in Kabinettformat.

Fräulein Friederike bemächtigte sich sogleich des Bildes und rief aus:

»Welch schöner Mensch! Nein, sieh doch nur! Welch wunderschöner Mensch! Wer ist denn das?«

Prisca las inzwischen den Brief. Er war italienisch, von einer ungeübten Hand im Auftrag eines andern geschrieben, aus München vor vierundzwanzig Jahren datiert, und enthielt die Mitteilung eines jungen Mädchens an eine Freundin, daß ihr Vater gestorben, sie selbst seit einigen Monaten verheiratet wäre: mit einem jungen Maler, der sich wie verrückt – come un matto, in sie verliebt hätte. Zum Schluß einen Gruß ihres hübschen blonden »Giusé« an die Landsmännin seiner sposa, die Maria hieß.

Ihres Giusé ...

Mechanisch wiederholte Prisca den Namen. Fräulein Friedrike rief:

»Das ist gewiß das Bild des Mannes der Fürstin Romanowska! Wie gut, daß ich vor deinem Bräutigam nicht von der Sache sprach ... Nein, sieh doch nur, welch wunderschöner Mensch! Er gleicht deinem jungen Siegfried, der übrigens wirklich bis zu eurer Hochzeit hätte hierbleiben können ... Mein Gott, was fehlt dir?«

Prisca hatte die Photographie genommen, einen Blick darauf geworfen und einen dumpfen Jammerlaut ausgestoßen. Totenbleich stand sie und sah aus weit aufgerissenen, entsetzten Augen auf das Bild des ersten Gatten der Fürstin Romanowska.

»Priska! Um Gottes willen! Was hast du? So sprich doch!«

Sie konnte nicht sprechen. Als sie versuchte, ein Wort zu sagen, einen Namen zu stammeln, war's ein Stöhnen, das sich ihren Lippen entrang. Fräulein Friedrike verlor die Fassung. Sie stürzte nach ihrer Wohnung und kam mit Peter Paul zurück; sie fanden Prisca noch am Tische stehend, darauf die Photographie lag, und mit den Augen einer Wahnsinnigen das Bild anblickend. Sie merkte kaum, daß die Freundin Peter Paul geholt hatte und die beiden sie beschworen, sich zu beruhigen und ihnen zu sagen, was um Gottes willen geschehen sei.

Endlich erfuhren sie's in wirren, gestammelten Worten: »Mein Vater! Mutter! Mutter! Mein Vater! Also nicht gestorben! Gelogen! Aus Erbarmen gelogen! Damit ihre Tochter sie lieben sollte! Und ei, er! Verlassen von ihr! Deswegen das gebrochene Herz! Deswegen am gebrochenen Herzen gestorben! Vater! Mein Vater!«

Sie stürzte nieder, wo sie stand. Ihr Kopf fiel hart gegen den Tisch, darauf Joseph Auzingers vergilbtes Jugendbild lag und seiner in Verzweiflung hingesunkenen Tochter zulächelte. Fräulein Friedrike kniete neben sie hin und zog sie in ihre Arme. Prisca lag regungslos, wie tot. Nicht einmal weinen konnte sie.

Plötzlich erhob sie sich. Ohne ein Wort, mit weit offenen, starren Augen suchte sie nach einem Tuche, das sie hastig überwarf, und nach ihrem Hute. Da sie diesen nicht sogleich fand, wollte sie ihre Wohnung ohne Hut verlassen.

»Prisca! Wohin willst du? So komm doch zu dir!«

Sie hörte nicht auf Fräulein Friedrikens angstvollen Ruf; sie wollte fort.

»Wohin willst du?«

Und die alte Dame umfaßte Prisca mit beiden Armen, um sie gewaltsam zurückzuhalten.

»Laß mich! Ich will – ich muß! Zu meiner Mutter muß ich! Meine Mutter ist die Fürstin Romanowska! Ich muß meine Mutter fragen, warum sie meinen Vater verließ, warum sie ihre Tochter verließ! Sie hat meinem Vater das Herz gebrochen, sie hat ihrer Tochter die Mutter gestohlen! Sie hat an meinem Vater und an mir ein Verbrechen begangen, schlimmer als Totschlag! Sie soll Rechenschaft ablegen! Verantworten soll sie sich. Ich will sie anklagen! Des Totschlags an dem Herzen meines Vaters will ich sie beschuldigen! Diese Frau, oh, diese Frau!« ...

»Es ist ja Nacht! Jetzt kannst du nicht zu ihr. So sei doch nur ruhig. Warte bis morgen. Morgen! Ach Gott, morgen ist ja dein Hochzeitstag!«

»Steffens!«

An ihn hatte sie nicht gedacht. Was kümmerte sie jetzt dieser fremde Mann, wo sie ihre totgeglaubte und als Tote angebetete Mutter gefunden hatte! Ja, ja! Angebetet hatte sie diese Frau, die ihren Vater verlassen, die ihrem Vater das Herz gebrochen. Und Steffens hatte dieses Weib geliebt wie ein Unsinniger, wie – ihr Vater es geliebt hatte. Das Herz hatte sie ihm nicht gebrochen, aber um seine Menschenwürde hatte sie ihn gebracht. Und morgen sollte sie die Frau des Mannes werden, der ihre Mutter so unsinnig geliebt hatte.

»Die Frau des Mannes, der meine Mutter wahnwitzig geliebt hat ...«

Sie mußte es sich selbst laut vorsagen, um den Sinn der Worte zu fassen.

Seine Frau? Jetzt noch seine Frau?

Konnte sie jetzt noch seine Frau werden? War das möglich? War das nicht wider die Natur? Und wenn sie nicht mehr seine Frau werden konnte, so war sie frei. Und wenn sie frei war, so konnte sie – Gott im Himmel, so konnte sie –

»Was willst du, Friedrike?«

Die alte Dame, die Prisca, um sie von ihrem unsinnigen nächtlichen Wege abzuhalten, umschlungen hielt, glitt an ihr herunter, so daß sie vor ihr auf den Knien lag.

Mit leidenschaftlichem Flehen rief sie:

»Dein Bräutigam darf es nicht erfahren! Du darfst ihn nicht verlassen, wie Maria deinen armen Vater verließ. Du würdest an Steffens ein Verbrechen begehen, wie jenes Weib an deinem Vater beging, und – ›es wäre ein Verbrechen, schlimmer als Totschlag‹! Prisca! o Prisca! Solltest du daran denken, Steffens zu verlassen, so würde die Verantwortung auf dich fallen, und du würdest sie nicht tragen können. Gedenke deines unglücklichen Vaters und schweige deinem Verlobten gegenüber.«

»Aber wenn er doch meine Mutter geliebt hat!« rief Prisca wild.

»Er hat sie geliebt; aber du weißt, daß er sie unglücklich geliebt hat. Und er ist darüber beinahe zugrunde gegangen. Was deine unselige Mutter an ihm verbrach, kannst du jetzt sühnen. Das ist herrlich, Prisca! Das ist groß! Sage, daß du ihn nicht verlassen, ihm nicht das Herz brechen willst. Bedenke, daß er dann verloren wäre. Verstehst du mich? Er wäre verloren.«

»Verloren...«

»Nicht wahr, du wirst ihm nichts verraten, wirst ihn nicht verlassen? Versprich es uns, seinen und deinen besten Freunden. Du bist ja so gut, so stark... Ach, Prisca, Prisca, was sagtest du?«

Prisca hatte gesagt, daß sie Steffens Frau werden wolle.

»Gott segne dich, Gott segne euch beide!... Peter Paul! Wo bist du? So höre doch!«

Aber Peter Paul war gleich, nachdem Prisca sich bereit erklärt hatte, trotz allem Steffens Frau werden zu wollen, aus dem Zimmer gegangen. Steffens, von ihm geweckt, war aufgestanden und hatte Licht gemacht. Sodann erfuhr er's.

»Die Fürstin ist Priscas Mutter. Deine Braut will es dir verheimlichen; aber mir ist, als müßtest du's wissen. Vielleicht, daß doch ... Verzeih einem alten Manne, der zugleich dein alter Freund ist.«

Steffens war bei der Nachricht zumute wie jemand, der auf einem hohen Gipfel steht und zu seinen Füßen den Boden, den er für unerschütterlichen Fels gehalten hatte, weichen fühlt. Er empfand, wie er in eine bodenlose Tiefe hinabglitt, wie der Abgrund sich vor ihm auftat und ihn verschlang; er empfand, wie die Schollen des offenen Grabes über ihm sich schlossen. Jetzt war es mit ihm vorbei. Wie aus weiter, weiter Ferne hörte er sagen:

»Die Frauen meinen, du würdest den Schlag nicht überwinden können, würdest dich davon zermalmen lassen. Das ist ja nicht möglich! Freilich, ich – wenn ich damals Friedrike nicht gehabt hätte ... Und auch jetzt noch. Aber ich bin auch ein andrer als du; ich bin auch kein großer Künstler. Du brauchst nur an deine Kunst zu denken, und du wirst es überwinden. Ja, und Priscas wegen! Sie ist so tapfer, so stark, so durch und durch ehrlich und gut. Ihr weidet treue Freunde sein, die besten Kameraden, wie Friedrike und ich ... Verzeih mir doch nur! Ich rede gerade, als ob du Prisca wirklich nicht heiraten könntest, als ob wirklich einmal, vielleicht damals in Frascati – Du hast es freilich keinem Menschen gesagt; ich habe auch mit niemand davon gesprochen, selbst nicht mit Friedriken ... Ich meine, daß ich immer geglaubt habe – du bist mir gewiß nicht böse? Ich weiß ja eigentlich von solchen Dingen gar nichts. Möglicherweise ist alles anders, und du heiratest morgen die arme Prisca, der ein starker Kalt und großer Trost jetzt so notwendig sind.«

Steffens verstand jedes Wort, obwohl Peter Paul nur wie aus weiter, weiter Ferne zu ihm sprach. Er antwortete und hörte seine eigne Stimme, als gäbe es zwei Steffens, von denen der eine in einem tiefen verschlossenen Gewölbe aussprach, was der andre wie eine Geisterstimme vernahm.

»Ich danke dir. Es war notwendig, daß du zu mir kamst. Ich mußte es wissen. Du hast mir einen großen Freundschaftsdienst geleistet. Es wäre furchtbar gewesen, wenn ich es nicht erfahren hätte. Jetzt kann noch alles gut werden – jetzt wird alles gut! Ich werde mich endlich ermannen. Sei ganz ruhig. Du siehst ja, wie ruhig ich bin. Gute Nacht. Ich muß allein bleiben, denn ich muß überlegen. Endlich werde ich stark sein. Grüße Friedrike von mir. Gute Nacht, ihr treuen Seelen, ihr guten Menschen ... Nicht doch, du kannst mich ohne jede Sorge allein lassen. Habt Dank! Lebt wohl!«

»Lebt wohl?«

»Gute Nacht!... Du siehst wohl noch Friedriken? Ich lasse sie bitten, diese Nacht über bei Prisca zu bleiben. Seid ganz ruhig; alles wild gut. Morgen früh komme ich zu euch. Dann besprechen wir uns. Aber jetzt geh!«

Ja, alles wird gut! Er war fertig mit allem – endlich, endlich! Das war das letzte. Endlich würde er tun, was er längst hätte tun müssen, wenn er nicht durch und durch ein angefaulter Mensch gewesen wäre, ein Mensch, den römische Schirokkoluft entnervt hatte bis in den Grund der Seele hinein. Sie, die er jetzt verloren, hatte sein sittliches Rückgrat sein sollen, ihre köstliche Gesundheit ihn gesund machen, ihr warmes, junges Lebensblut seinem matten Pulsschlag – kein Mensch ahnte, wie matt er war, neue Kräfte zuführen sollen. Jetzt war s vorbei damit, und bald, bald würde es mit allem vorbei sein.

Er holte Papier und Schreibzeug, stellte es auf einen kleinen Tisch, der vor seiner neuen Arbeit stand, setzte sich und schrieb:

»... Also daher hast Du diese Augen! Der Himmel in seiner Weisheit hat es wieder einmal herrlich gemacht! In seiner Weisheit – ich will in dieser letzten Stunde nicht lästern. Des Himmels unergründliche Weisheit bewahre Dich davor, das Weib eines unheilbaren Schwächlings zu werden. Und es gibt für eine Frau nichts, was trostloser wäre: lebendiges Leben, an einen Leichnam geschmiedet! Du wirst keine Träne einem Manne nachweinen, der erst durch die Liebe einer starken Frau zum Manne geschaffen werden sollte. Durch die Liebe ... In meiner letzten Stunde ermanne ich mich, Dir zu sagen: ich weiß, daß es nicht Liebe ist, sondern Mitleid! Noch dazu Mitleid mit einem Menschen, der dessen nicht würdig ist. Kannst Du Dir einen Mann vorstellen, der weiß, daß eine jungfräuliche Seele aus Mitleid sich ihm ergibt, und der doch dieses Seelenopfer annimmt? Mußt Du solchen Mann nicht verachten? Nein, Prisca! Nicht eine einzige Träne darfst Du um mich weinen. Dein Mitleid war Deiner würdig, Deine Träne würde es nicht sein. Fühle Du Dich erlöst, befreit! Weide das glückliche Weib des Mannes, den Du liebst, und von dem Du geliebt wirst. Auch das wußte ich, und trotzdem – stelle Dir vor: und trotzdem! Aber eine solche schändliche Schwäche kannst Du, Reine und Hohe, Dir an einem Manne nicht vorstellen. Die Mutter ruhte aus Mitleid eine kurze Sommernacht an meinem Herzen, und die Tochter wollte aus Mitleid ihr Leben lang an meinem Herzen ruhen! Und ich hätte es mir gefallen lassen ... Nein, Prisca! Der Himmel in seiner Weisheit hat es herrlich gemacht. Lebe erlöst und befreit; lebe wohl und glücklich, und – nicht eine einzige Träne! Hörst Du! Der Morgen dämmert. Es wird heute ein glanzvoller Tag. Wieder ein glanzvoller Tag unter diesem römischen Himmel, der auch Schuld an allem trägt. Hüte Dich vor diesem Glanz. Er mordet!«

Er ließ den Brief offen liegen, löschte das Licht und öffnete die Tür. Morgenlicht drang herein.

Er warf einen letzten, gleichgültigen Blick auf die Gruppe der »Tochter der Semiramis« und den »Prometheus«, welcher der Vollendung nahe war. Den mit den Göttern ringenden Titanen, der Geschlechter nach seinem Bilde schafft, hatte er bilden wollen, er, der unfähig war, sich selbst zu einem lebensfähigen Menschen zumachen. Im Morgengrauen schlich er aus den Reihen der Kämpfenden, nicht besiegt, sondern entfliehend.

Um an Priscas Tür nicht vorüber zu müssen, machte er einen weiten Umweg. Gegen Morgen war sie gewiß eingeschlafen, die Starke und Tüchtige, die ihn stark und tüchtig machen wollte. Verschweigen wollte sie ihm, was seine Ruhe hätte stören müssen. Sie fühlte sich kraftvoll genug, um das barmherzige, schwere Schweigen für ihr ganzes Leben zu bewahren. Wenn sie erwachte, würde ihr erster Gedanke sein, daß heute ihr Hochzeitstag war und daß ihr Gatte niemals erfahren dürfe, was ihr das Herz fast erdrückte. Sie würde sich gleich schmücken müssen zu ihrem Opfer!... Jetzt war sie fertig angezogen: in dem blaßvioletten Seidenkleide, das sie zusammen ausgesucht hatten, den mit Krokus und Veilchen besteckten Hut auf dem prachtvollen Haar. Jetzt kam Friedrike und ... Nein! Jetzt kam Peter Paul und brachte ihr seinen Brief.

Wie sie ihn verachten mußte, wie ihre erste Empfindung sein würde: erlöst, befreit! Gott sei ewig Dank, du bist von diesem Schwächling erlöst und befreit! Und frei von ihm, wirft du dem andern, dem Geliebten gehören, wirft du glücklich sein. Übrigens – so ganz feig und verächtlich war seine Tat nicht! Auch er hätte lebenslang ruhig schweigen können. Zu tausend Malen kam dergleichen vor in dieser krausen Welt, darin jedes Ding möglich war ... Wenn sie ihn dann aber mit den Augen ihrer Mutter angesehen, gerade wenn er sie hätte küssen wollen...

Er war stehengeblieben und ging jetzt weiter, langsam, langsam, mit schweren, schleppenden Schritten. Solcher Gang, den man tut, um sich selbst zu begraben, ist nicht gerade ein Spaziergang. Er beobachtete sich scharf und entdeckte, daß er an sich selbst wie an einen längst Gestorbenen dachte. Pfui! Was für ein erbärmlicher Wicht war dieser Karl Steffens gewesen, untüchtig und unbrauchbar für das Leben, ein Degenerierter.

Das war für diesen Menschen der richtige Ausdruck: ein Degenerierter. Weil er ein Degenerierter war, konnte er an einer gewaltigen Leidenschaft, die sonst den Menschen aus Abgründen zu Bergeshöhen erhebt, zugrunde gehen; weil er ein Degenerierter war, konnte er an Rom zugrunde gehen und – an sich selbst. Fort mit solchem Gesindel! Mit solchen Angefaulten fort aus der Welt, darin für seinesgleichen kein Platz war.

Er verließ die Kolonie, stieg den Berg hinunter, gelangte in die Via Flaminia, die er hinaufging bis zu der Stelle, wo es nach der Villa Papa Giulia abbog. Dann durch den Arco oscuro hinaus in die freie Landschaft, zu den Platanen an der Acqua acetosa und zum Tiber. Er ging ohne umzuschauen geradeaus, direkt auf den Strom zu, der durch die Herbstregen hoch angeschwollen war. In dem zerwühlten braunen Bett wälzten sich die gelben Wogen dem Meere zu. Immer noch ging er geradeaus fort. Die Augen hielt er offen, starr auf das mißfarbige, lehmige Wasser gerichtet. Schon wich unter seinen Füßen der Boden... In diesem letzten Augenblick sah er sich selbst. Er sah sich vor seinen Augen: tot, ertränkt, ein aufgedunsener Leichnam, der an einem öden Ufer ans Land gespült worden war und auf dem die Meergeier saßen. Pfui, wie häßlich! Die Füße bereits genäht durch die Flut, die sein Grab sein sollte, zauderte er, blieb stehen und wandte sich zurück.

Er ging den Strand entlang, kam zum Ponte Molle, ging die Flaminische Straße wieder hinunter. Ein seltsamer Gang! Eigentlich war er bereits ein toter Mann, und jetzt schritt er noch einmal dahin, atmete er noch, bewegte er sich, sah und hörte er.

Die Sonne war noch nicht aufgegangen. Eine keusche Frühe, die »heilige« Frühe, ruhte noch über der schlummernden Welt, die einen süßen Traum zu träumen schien: einen Tag des Glanzes und Glückes, ohne den Jammer des Lebens. Alle Dinge erschienen ihm fremd und neu, wie niemals gesehen; mit staunendem Künstlerblick schaute er alles, den siegreichen Kampf des Lichtes mit den Schatten der Dämmerung beobachtend. Wie reizvoll die Farben dem grauenden Morgen entstiegen, wie köstlich alles sichere Umrisse und feste Formen gewann!

Ländliche Karren brachten Obst und Gemüse in die große Stadt. Die Schellen an den Fuhrwerken hatten einen von Steffens noch niemals vernommenen hellen und klangvollen Ton. Die Kutscher und die wenigen, die ihm in der Frühe begegneten, gaben seltsamerweise gar nicht acht auf ihn, und sie mußten es ihm doch ansehen, daß er ein Gestorbener und Begrabener war. Als sein eigner Geist schritt er durch die Lebenden. Durch die Lebenden ... Was für eine unbegreifliche Sache es um das Leben war, wenn der Mensch so gut wie ein toter Mann ist! Dabei fühlte Steffens nicht den mindesten körperlichen Schmerz, fühlte sich voller Kraft, war immer noch jung.

Ja, das Leben!

Die Tiere, die er auf seinem Todeswege sah, waren, mit ihm verglichen, göttliche Geschöpfe, denn sie waren voll Lebens.

Er kam zurück zur Porta del Popolo. Links führte es in die Villa Borghese und hinauf zu der Kolonie. Zu tausend und tausend Malen war er diesen Weg gegangen, den er nie wieder gehen würde. Er schritt vorüber, schritt durch jenes Tor, das auf der Welt seinesgleichen nicht hatte, trat auf den herrlichen Platz mit dem Obelisken, dem wasserspeienden Löwen und dem Eingang in die drei Straßen.

Santa Maria del Popolo war noch geschlossen; sonst wäre er in die Kirche gegangen, um noch ein letztes Mal Pinturicchios Fresken, die Grabmale im Chor und Raffaels Jonas zu sehen: in der Stunde seines Todes als Symbol der Unsterblichkeit.

Die Kunst, die schaffende, göttliche Kunst! ... Und Karl Steffens, der tote Mann, war ein Künstler. An diesen Künstler war die Ausgießung des Heiligen Geistes verschwendet gewesen.

Links ging es auf den Pincio. Wenn er von der höchsten Terrasse, die dem Eingang der Villa Borghese gegenüberlag, über den niedrigen Mauerrand sich schwang – der Absturz war furchtbar! Und es würde vorüber sein, noch ehe sein Körper die Tiefe erreichte ... Schnell hinauf, schnell hinunter! Was hatte er noch einen Augenblick länger unter den Lebenden zu schaffen?

Er lief dem Eingang zu. Verschlossen! Er rüttelte an dem eisernen Tor, das seinen Todesweg aufhielt. Er wußte, daß kein Rütteln half, tat es indessen doch. Dann suchte er nach dem Pförtner, der ihn einlassen sollte. Es war noch zu früh; er mußte warten.

Das war entsetzlich, dieses ungeduldige, qualvolle Warten auf den letzten Augenblick, auf solchen letzten Augenblick ... Er ging vor dem verschlossenen Tor auf und ab, auf und ab und stellte sich vor – er sah sich durch das endlich geöffnete Tor den paradiesischen Hügel hinaufeilen. Oben, gleich linker Hand, war die Stelle. Er lief zur Mauer, schwang sich hinüber und – Und er mußte immer noch, immer noch warten!

Länger ertrug er's nicht. Auch sah er sicher so bleich aus, mit ganz verzerrtem Gesicht, daß es dem Pförtner, wenn er endlich zum Öffnen kam, auffallen mußte. Der Mann würde seine Absicht erraten, würde ihm nacheilen, ihn hindern. Nach all diesen ausgestandenen Qualen ihn hindern?

Zum Glück besann er sich auf einen andern Ort, wo er es unbeobachtet und ungestört vollbringen konnte. Leider lag der Platz ziemlich entfernt. Er konnte jedoch einen Wagen nehmen. Auf der Piazza dei Popolo befand sich noch kein Vetturin, er mußte in der Via Babuino nach einem suchen. Ohne sich umzusehen verließ er das Tor. Es wäre ihm unangenehm gewesen, wenn der Wächter gerade diesen Augenblick gekommen wäre und geöffnet hätte.

Langsamer, langsamer, damit er weniger auffiel! Rom belebte sich allmählich. Alle diese Menschen gingen eilig oder gemächlich ihres Weges; alle hatten ihre Leiden und Freuden; alle würden heute die Sonne auf- und untergehen sehen. Begaben sie sich abends zur Ruhe, so war er längst ein scheußlicher Leichnam.

Er begegnete einem Vetturin, der für die Hälfte der Taxe sich ihm anbot. Steffens ließ den Wagen vorüberfahren. Er würde ihn sicher genommen haben, hätte der Mann sich nicht für den halben Fahrpreis angeboten.

Auf dem Spanischen Platz standen Wagen genug. Steffens sprang in das erste beste Gefährt und befahl dem Kutscher, ihn zum Kolosseum zu fahren, möglichst rasch! Er würde ein gutes Trinkgeld erhalten.

Da stiegen schon einige Modelle die Treppe hinunter, und an der Fontana versammelten sich die Blumenverkäufer. Sie ordneten in ihren flachen Körben die Blüten, die sie mit Wasser besprengten. Wie hübsch es war, wie farbenfreudig und lebensfroh! Jetzt hatte Peter Paul gewiß schon nach ihm gesehen, hatte den Brief gefunden – jetzt wußten sie's! Jetzt hielten sie ihn schon für tot.

Vielleicht fuhr Peter Paul nach Frascati, um in dem Zypressenteich der Villa Falconieri suchen zu lassen. Das wäre ein schöner Ort zum Sterben gewesen! Schade, daß er ihm nicht früher eingefallen war ... Welch seltsames Gefühl, daß sie ihn schon für tot hielten, während er noch atmete, lebte, alle Geräusche vernahm, alle Dinge sah, sie sogar schön fand. Er hätte jetzt hingehen und arbeiten – schaffen können: ein Meisterwerk! Wenn er plötzlich lebend unter sie träte – was sie wohl sagen, wie sie sich wohl benehmen würden?

Wie langsam der Mensch fuhr! Der Gaul kroch förmlich!

Die Straßen waren bereits recht belebt. Römisches Straßenleben – kein andres war damit zu vergleichen! Plötzlich fiel ihm ein Bekannter ein, ein Deutscher, auch ein Künstler, auch einer von jenen sonderbaren Schwärmern, welche die gute Friedrike als »echte Römer« zu bezeichnen pflegte. Nun, dieser Echte war – auch an Rom zugrunde gegangen, moralisch und physisch. Auf ehrliches Deutsch nannte man's: ganz heruntergekommen, verlottert, verlumpt. Gute Freunde hatten dem Mann helfen wollen, dem auch nur dadurch zu helfen war, daß man ihn aus Rom fortschaffte. Ein guter Freund brachte den alten Römer also fort. Dieser kam denn auch glücklich bis zu den Alpen, hinter denen das »dort drüben« beginnt. Weiter kam er nicht. An der Grenze zwischen dem Diesseits und Jenseits stürzte sich der alte Römer aus dem ersten besten Fenster seines Gasthofs hinab auf das Straßenpflaster: was sollte er auf der Welt, wenn er nicht in Rom war?

Sich das Leben nehmen, weil man nicht mehr in Rom leben konnte ... Das war auch ein Grund! Ein verrückter Grund ohne Zweifel; indessen ... Ja, ja, ja! Er konnte jenen sonderbaren Schwärmer begreifen. In seiner Todesstunde begriff er ihn.

Hätten die guten Freunde den armen Kerl in Rom doch leben, immer mehr verlumpen lassen! Es gab dort so viele Winkel, wo ein Mensch, der sowieso zu den Toten zählte, sich verkriechen konnte wie ein angeschossenes Wild; wo niemand ihn aufgespürt hätte, wo er auf irgendwelche Weise sich das Glück schaffen konnte, noch ein paar Jahre lang römischen Himmel über sich zu haben, römische Luft zu atmen, römischer Sonne sich zu freuen. Er zum Beispiel ...

Was hatte er mit solcher unsinnigen Phantasie zu schaffen? Nur, daß er einen solchen heimlichen Winkel wußte und auch einen Mann kannte, der ihn dort würde verborgen halten, so tief und sicher, als ob er in seinem Grabe läge, einen guten Mann, der ihn füttern würde, sogar recht gut füttern.

»Schneller! Fahr schneller!«

Piazza Colonna. Der liebe, behagliche Platz, auf dem man sich wie in seinem Zimmer befand ... Piazza Venezia! Herrgott, ist dieser venezianische Platz schön ... Trajansforum! Steffens freute sich, die hohe goldige Säule des weisen und guten Kaisers noch einmal zu sehen.

Er merkte erst jetzt, daß dieser Schuft von Kutscher auf Umwegen zu seinem Grabe fuhr. Schon die Piazza Colonna hätte er nicht zu passieren brauchen; aber da war natürlich wieder irgendeine Straße aufgerissen. Und jetzt – anstatt den nächsten Weg zum Kolosseum durch die Via Torre de' Conti zu fahren, ging es durch die ganze Via Alessandrina zum Forum Romanum! Eines niedergerissenen Gebäudes willen mußte er diesen weiten Umweg machen. Wenn diese modernen Römer nur niederreißen konnten! Selbst den Weg zu seinem Grabe versperrten sie ihm mit ihrer barbarischen Baumut!

Am Kapitol vorbei!

Da der Umweg einmal gemacht war, wäre er beim Severusbogen am liebsten aus dem Wagen gesprungen und die Treppe hinausgelaufen, um auf den Marc Aurel einen letzten Blick zu werfen. Was für Gedanken und Gelüste ein Sterbender haben konnte! Er hätte es nicht für möglich gehalten.

Aber jetzt kein Gedanke mehr an Prisca, keine Sehnsucht mehr nach ihr und nach dem ganzen neuen Leben, das ihm durch sie hatte kommen sollen. Das war abgetan, als wäre es niemals gewesen. Hatte er sie wirklich jemals geliebt? Vielleicht doch nur in der Einbildung? Oder war es in seiner Selbstsucht?

Auch kein Schmerz um sein unfertiges hinterlassenes Werk, kein Verlangen mehr nach seiner Kunst ... Nein – ein großer Künstler war er nie gewesen! Nicht einmal ein kleiner. Er war immer nur ein Egoist und Schwächling, eben ein Degenerierter.

Aber jetzt sprang er wirklich aus dem Wagen, der ihm zu langsam fuhr. Als käme er zu Fuß früher an Ort und Stelle! Er warf dem verblüfften Rosselenker einen Zehnlireschein zu und eilte davon. Das ganze Forum mußte er umgehen, damit er, an dem ehemaligen Eingang zum Palatin vorüber, zum Titusbogen gelangte.

Er wollte von Rom nichts mehr sehen und mußte, wie unter einer Hypnose, jeden Stein an seinem Todeswege gewahren. In den schönsten und begeistertsten Stunden seiner römischen Jahre hatte er die Herrlichkeit Roms nicht so überwältigend gefühlt. Er geriet in Wut über den dämonischen Zauber, dem seine Seele in seinen letzten Augenblicken unterlag.

Mit einer lauten Verwünschung gegen die große römische Hexe wollte er den Sprung in die gräßliche Tiefe tun; sein Fluch sollte auf dieser Welt sein letzter Gedanke sein.

Jetzt war er angelangt!

Er kannte in der gewaltigen Ruine eine Stelle, von welcher aus er emporklettern konnte, ohne sich von dem jedenfalls noch abwesenden Wächter das Gitter zum Eingang aufschließen lassen zu müssen. Als er damals beim Kolosseum wohnte, war er an manchem frühen Morgen, in mancher leuchtenden Mondscheinnacht an dieser Stelle eingedrungen und in dem braunen Mauerwerk wie auf einem Gebirge herumgeklettert. Das waren Stimmungen und Eindrücke gewesen! In seiner Todesstunde empfand er, daß er in Rom gelebt – daß er Rom erlebt hatte, wie solches Glück nur wenigen Sterblichen zuteil wurde; denn ein Glück war es.

Jetzt befand er sich in dem einstmaligen Zuschauerraum; jetzt klomm er empor, ohne einen Blick um sich zu werfen.

Höher! Immer höher! Noch höher! Von der obersten Galerie aus, dort, wo sie nach den Titusthermen zu ganz abgebrochen war, wollte er sich herabwerfen; genau über der Stelle, wo er damals in den Gewölben Maria von ihrem Angreifer befreit hatte.

Oben!

Gott sei Dank! Jetzt vortreten, weit, weit vortreten, bis dicht an den Rand, daß ein Ruck ihn unfehlbar hinabschleuderte. Nicht hinuntergesehen! Die Augen geschlossen! Mit geschlossenen Augen den Sprung getan! Sogleich, ohne Zaudern!

In diesem Augenblick, der sein letzter sein sollte, brach durch eine über den Sabinerbergen lagernde Dunstschicht die Sonne hervor. Ihre ersten Strahlen trafen seine Augen, als er sie für ewig schließen wollte. Der Sterbende schaute in die aufgehende Sonne, schaute auf das glanzvolle Land, auf die strahlende Stadt... Herrgott, welche Schönheit!

Und dann sterben zu müssen – nein, dann sterben zu wollen. Diese leuchtende Schönheit freiwillig mit dem schwarzen Tode und der Verwesung zu tauschen ... Wenn er aber doch bereits tot war? Tot für die Freunde, tot für seine Braut, tot für seine Kunst, tot für sich selbst ... Konnte er sich noch mehr verachten, als er bereits tat, wenn er feige war, wenn er vor dem Tod sich fürchtete, wenn er leben blieb? ... Leben in Rom! Leben in irgendeinem Winkel als toter Mann, aber doch leben in Rom!

Herr, Herr, führe mich nicht in Versuchung!

Aber ein guter Christ war er nie gewesen. Dieses Gebet war in seinem Munde eine Lästerung. Er war schon so tief gesunken, daß es eines freiwilligen Sturzes in einen Abgrund hinab nicht mehr brauchte, und so –

Und so blieb er in Gottes Namen am Leben.

Er verdiente es nicht besser.


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