Richard Voß
Römisches Fieber
Richard Voß

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15. Die »Tochter der Semiramis«

Die Folge dieses Abenteuers war eine Reihe schlafloser Nächte und arbeitsloser, ruheloser Tage. Steffens befand sich in einem Zustand, von dem er einige Male selbst glaubte, es sei das römische Fieber.

Das hielt ihn auch gepackt, und zwar für eine Natur wie seine in bedenklichster Art.

Denn noch niemals war er in Wahrheit ernstlich verliebt gewesen. Noch niemals hatte er eine Frau gesehen, die der häßlichste der Männer schön genug befunden hätte. Auf einmal nun war er nicht nur verliebt, sondern er liebte!

Wahrscheinlich, vielmehr ganz sicher, liebte er hoffnungslos; denn wie würde, wie könnte solch wunderbares Geschöpf einen Menschen lieben, der sein Gesicht hatte? Unmöglich! Der bloße Gedanke an die Möglichkeit einer Gegenliebe besaß für ihn, den rasend Verliebten, den leidenschaftlich Liebenden, etwas, das sein ästhetisches Gefühl empörte.

So hoffnungslos er sich auch fühlte, begab er sich dennoch Abend für Abend in die Nähe ihrer Wohnung, um sie von einem versteckten Platz aus glücklich heimkommen zu sehen und in Sicherheit zu wissen. Natürlich erfuhr er, wer sie sei: ein Modell, das berühmteste in Rom, über dessen kapriziöses Wesen die seltsamsten Dinge erzählt wurden, ebenso wie von ihrer Sittsamkeit.

Sie war ein Modell, und er ein Künstler. Warum sollte sie nicht auch ihm Modell stehen? Modell zu seiner »Tochter der Semiramis«, deren verkörpertes Ideal sie war.

Man zahlte ihr selbstredend einen Preis, der für ihn unerschwinglich war, da er sie jedenfalls lange, sehr lange gebrauchte. Unerschwinglich?! Unsinn! Der Preis mußte geschafft werden, und sollte er sich dem Teufel selber oder, was das nämliche bedeutete, einem Kunsthändler verkaufen müssen.

Doch was sollte daraus werden, wenn er sich noch mehr in sie verliebte – noch leidenschaftlicher sie lieben würde? Und daß es so kam, war eine Naturnotwendigkeit.

Was sollte daraus werden?

Er fühlte, wie er brennend rot wurde vor Scham. Nichts sollte daraus werden; denn niemals würde sie erfahren – Karl Steffens war nicht nur ein einsamer, sondern auch ein stolzer Mensch. Niemand ahnte, wie stolz er war.

Also nahm er sich vor, sie an einem der nächsten Tage in durchaus geschäftsmäßiger Weise zu fragen, unter welchen Bedingungen sie ihm Modell stehen wolle. Natürlich mußte er dann sofort ein andres Atelier suchen, denn er durfte sie nicht der Gefahr aussetzen, in seinem Studio die Malaria zu bekommen.

Die Vorstellung, daß so viel Schönheit so leicht vergänglich sein könnte – durch einen Zufall, einen Atemzug, eine Erkältung, hatte etwas Brutales.

So oft er auch den Entschluß faßte, sie aufzusuchen, führte er ihn doch niemals aus. Wahrscheinlicherweise würde sie ihm Modell stehen; hatte er sie doch aus Todesgefahr gerettet, wofür sie sich, vielleicht nicht einmal ungern, erkenntlich erwies. Aber ihre Dankbarkeit wollte er nicht.

Eines Vormittags stand er in schlechtester Stimmung vor seinem Wachs, daraus irgend etwas zurechtknetend, als an seine Tür geklopft wurde. Das war sehr ungewöhnlich; denn er empfing keine Besuche, erhielt auch keine Briefe. Er öffnete, und vor ihm stand die Maria von Rocca.

Sie trat sogleich ein, vorüber an ihm, der die Tür weit offen hielt und kein Wort hervorbrachte; so ruhig und sicher trat sie ein, als hätte er sie bestellt, als wäre es ihre Pflicht gewesen, zu kommen. Als sie den feuchtkalten Raum betrat, zog sie mit einer unwillkürlichen Bewegung das schmale, buntgestreifte Wollentuch fester um die Schultern.

»Guten Tag, Signor Carlo.«

»Du weißt meinen Namen?«

Es war das einzige, was ihm einfiel; dabei stand er noch immer mit der offenen Tür in der Hand.

»Die andern sagten mir, wie Ihr heißet und wo Ihr wohnt. Und da bin ich.«

»Da bist du. Nun ja. Und da bist du.«

Er sagte es stammelnd, während er jetzt auch von der Tür zurücktrat, die krachend hinter ihm zufiel und ihn mit ihr zusammen abschloß von der ganzen übrigen Welt.

»Die andern sagten mir, Ihr brauchtet ein Modell,« nahm Maria das Wort. »Der Künstler, bei dem ich zu tun hatte, wurde mit seiner Arbeit nicht früher fertig; und ich konnte doch nicht nur so von ihm fortgehen. Aber da bin ich jetzt. Könnt Ihr mich brauchen?«

Ob er sie brauchen konnte! Und sie entschuldigte sich förmlich bei ihm, daß sie nicht früher hatte kommen können! Aber jetzt war sie da!

Es war wie ein Traum, eine Fieberphantasie! Richtig: das römische Fieber ...

Mit Anstrengung brachte er hervor, daß er sie freilich brauchen konnte, sogar recht gut. Längst hatte er sie fragen wollen, ob sie einmal – aber sie hatte ja immer so viel zu tun! Und überdies müßte er erst ein andres Studio haben. Dieses war zu ungesund wegen der Malaria. Erst wollte er einen andern Raum suchen; wenn sie dann Zeit hatte ...

Statt aller Antwort warf Maria ihr dickes Tuch ab. Steffens sah ihr schweigend zu. Dann stieß er hervor:

»Nicht jetzt, nicht hier!«

»Fangt nur immerhin an.«

»Wie, jetzt gleich? Hier?«

»Warum nicht?«

»Wegen des Fiebers; fürchtest du dich nicht vor der Malaria?«

»Ich fürchte mich vor nichts.«

»Die andern kamen doch deshalb nicht zu mir.«

»Pah, die andern!«

»Wenn du nun das Fieber bekämst?«

»Das kann ich auch wo anders; und soll ich es nicht bekommen, so bekomme ich es auch hier nicht. Sagt mir nur, wie ich mich aufstellen soll.«

Steffens hörte kaum, was sie sprach. Er betrachtete sie staunend und wurde sich dabei nur des einen Gedankens bewußt: Gleich jetzt bleibt sie hier. Du kannst gleich jetzt deine »Tochter der Semiramis« anfangen. Fange an! Aber Mensch, so fange doch an! Worauf wartest du denn?

Und er fing an.

Vorerst begann er eine flüchtige Skizze in Wachs.

Er versuchte, seinem Modell die Sache verständlich zu machen. Maria hörte aufmerksam zu und nahm dann sofort die bezeichnete Pose an. Fast hätte Steffens laut aufgeschrien: in einer so erschreckend richtigen Weise hatte sie die furchtbare Situation erfaßt.

Er machte eine Skizze, darauf noch eine und noch eine dritte. Stunde um Stunde verstrich. Er zeichnete die Umrisse seiner Idee in Wachs, schaute auf sein Modell, zeichnete wieder, schaute ... Stunde auf Stunde blieb Maria unbeweglich, auch ihre Mienen veränderten sich nicht. Steffens arbeitete wie im Rausch. Sein Modell inspirierte ihn; er befand sich in einem Zustande der Ekstase.

Ermattet ließ er endlich die Arme sinken ... Er hatte einen Augenblick erlebt, in welchem der sterbliche Mensch einem unirdischen Wesen gleichkommt! Der Künstler schafft ein Werk, welches der Odem ewigen Lebens beseelt.

In dem Dasein dieses Künstlers sollte eine zweite gleichgroße Stunde nie wieder kommen.

»Ich danke dir. Ich brauche dich heute nicht mehr. Wenn du also wirklich wiederkommen willst ...«

Er dachte nicht mehr an das römische Fieber.

»Ich komme morgen wieder. Lebt wohl.«

Sie nahm ihr Tuch, wickelte sich fest ein, als fröre sie's, und ging, ohne die Gestalt, die nach ihr geschaffen worden war, zu betrachten. Ganz zufällig fiel ihr Blick darauf.

Wie angenagelt blieb sie stehen: »Das ist schön!«

Erst nach einer ganzen Weile sagte sie das. Dann sah sie auch den Mann an, der das Schöne geschaffen hatte, und wieder mußte sie denken: ›Wie häßlich er ist!‹

»Gefällt dir's?«

Daß er solche Frage stellen konnte! Einem Modell! Er, der stolze Karl Steffens!

Sie wiederholte gelassen: »Das ist schön. Also auf morgen.«

Er öffnete für sie die Tür und ließ die Schönheit, die den öden Raum wie Glanz aus einer andern Welt durchleuchtet hatte, hinaustreten. Dann blieb er lange, lange vor seiner Arbeit versunken stehen.

Es war die glücklichste Stunde seines Lebens, vielleicht die einzig glückliche.

*

Am nächsten Morgen kam sie wieder, und so alle Tage. Von einem andern Atelier war nicht mehr die Rede; der Künstler sowohl wie sein Modell fürchteten sich nicht vor dem römischen Fieber. Überdies war's die beste Jahreszeit: Winters Anfang.

Steffens hatte den herrlichsten Ton angeschafft und das Werk in der geplanten Größe, etwas über lebensgroß, aufgebaut. Er arbeitete, daß er in seinem Feuereifer die empfindliche Kälte nicht spürte, für die auch sein Modell unempfindlich zu sein schien. Aber eigens für Maria hatte er ein altertümliches, sehr schönes Kupfergefäß erhandelt, das, mit glühenden Kohlen gefüllt, neben ihr aufgestellt wurde. Häufig genug indessen erlosch die Glut, ohne daß er es gewahrte, und Maria erinnerte ihn nicht daran.

Nachdem die erste Woche vorbei war, wollte er sein Modell bezahlen. Er hatte es nicht über sich gewinnen können, sie vorher zu fragen, was sie fordere. Denn natürlich hatte sie keinen festen Preis für die Sitzung, sondern konnte verlangen, was ihr gut dünkte.

Ohne zu zählen, reichte er ihr eine Anzahl von Geldscheinen, die einen nicht geringen Teil seines Barvermögens ausmachten, und wartete, ob sie damit zufrieden sein würde. Sie nahm das Geld, zählte es und gab dann mehr als zwei Drittel zurück: der Signor Carlo hätte sich verrechnet, ihr viel zu viel gegeben.

Das sagte sie wieder mit jenem Ton, jener Miene, der selbst ein Mann wie Karl Steffens gehorchen mußte. Schweigend nahm er sein Geld wieder zurück und wandte sich hastig ab, damit sie sein glückliches Gesicht nicht sehen sollte. Er nahm sich vor, wenn seine Gruppe vollendet, ihr etwas sehr Schönes zu schenken, und hätte er das Geld dazu durch niedrige Lohnarbeit, so nannte er das Kopieren, verdienen müssen. Ob sie sein Geschenk wohl annehmen würde?

Sie hatte in ihrer ganzen Art eine stolze Heiligkeit, die ihn nicht minder entzückte als ihre klassische Schönheit. Um keinen Preis hätte er sie weniger stolz, weniger unzugänglich gewünscht. War doch ihre Unnahbarkeit der einzige Trost, den er bei der Hoffnungslosigkeit seiner Leidenschaft zu finden vermochte, an den er sich in dem Orkan seiner aufgerührten Empfindungen festklammerte wie ein Schiffbrüchiger an die rettende Planke.

Er blieb seinem Stolz und sich selber getreu; mit keiner Silbe, keinem Blick verriet er das Geheimnis seiner Liebe; nur daß er sie nicht behandelte wie ein Künstler sein bezahltes Modell, sondern wie ein Ritter seine Dame. Sie ließ sich diese Art von Huldigung für ihre Schönheit gefallen, als merkte sie dieselbe gar nicht, und ihm war ihr apathisches Betragen beinahe lieb.

Während der langen Sitzungen fiel zwischen ihnen selten ein Wort. Einige Male versuchte er, sie über dieses und jenes in ihrem Leben zu befragen, fand sie jedoch so verschlossen, daß er schließlich aufgab, in sie zu dringen. Einmal sagte sie ihm aus freien Stücken und eigentlich ohne jede Veranlassung, daß sie niemals einen Liebhaber besessen hätte, niemals einen besitzen würde. Er mußte einen Jubellaut ersticken, um sich nicht zu verraten.

Wäre er ein andrer gewesen, hätte er nicht diese hagere Gestalt, nicht dieses unmögliche Gesicht gehabt – alles würde er daran gesetzt haben, Maria zu seinem Weibe zu gewinnen. Doch wie er nun einmal beschaffen war – unmöglich, ganz unmöglich! Nie würde er sie fragen, nie sie ahnen lassen – dabei mußte es bleiben!

Wäre er anders gestaltet gewesen, so hätte er noch andres getan: er hätte sich selbst dargestellt als jenen unglücklichen Jüngling, der sein kurzes Liebesglück mit seinem Leben zahlen mußte und entseelt zu den Füßen seiner königlichen Gattin lag. Er hätte in seinem eignen Antlitz ausgedrückt: ›Beklagt mich nicht. Mein war das höchste Glück des Lebens. Ein Glück, so selig, daß dessen Ende nur der Tod sein konnte.‹

Den Jüngling hatte Steffens immer noch nicht skizziert. Er gestand sich ein, daß er eifersüchtig auf den Toten war, den sein Meißel zu Marias Füßen verewigen sollte, und der von ihr geliebt wurde – wenn auch im Tode erst.

Steffens hatte bis dahin nur Nacken und Antlitz seiner weiblichen Figur geschaffen. Die Gestalt selbst blieb nur angelegt. In unverhüllter Schönheit sollte die junge Königin sich vom Lager erheben; dafür mußte er ein andres Modell suchen, denn Maria ließ nur ihr Antlitz abkonterfeien. Das wußte ganz Rom.

Für Marias Antlitz eine andre Gestalt!

Eines Tages sagte er ihr, daß er sie für den nächsten Morgen nicht benötige; er wolle die Arbeit an der weiblichen Figur ruhen lassen und einstweilen den toten Jüngling beginnen. Wieder hatte er sich abgewendet, damit sie nicht sein Gesicht sehen sollte.

Sie antwortete nicht, wickelte sich in ihr Tuch, öffnete die Tür ... Ihm war's, als bliebe sie zaudernd stehen. Aber er wendete sich nicht um. Gewiß täuschte er sich. Warum hätte sie denn zaudern sollen?«

»Lebt wohl.«

Er nickte nur.

Da ging sie.

*

Um seiner Stimmung nicht nachzugeben, begab er sich gleich am nächsten Morgen auf den Spanischen Platz, um für den toten Jüngling ein Modell zu suchen. In der kleinen Kolonie war es natürlich längst bekannt geworden, daß die Maria von Rocca dem brutto Tedesco wie das Völklein ihn getauft, den halben Winter über gestanden hatte, ohne auch nur einen Anfall der gefürchteten Malaria zu bekommen. Wie denn auch er immer noch lebte, freilich mit einem Gesicht, dessen bleiche Farbe und wilder Ausdruck ihm nicht gerade zur Verschönerung gereichte.

Allein der Umstand, daß die Maria von Rocca ihm Modell gestanden, verschaffte Steffens unter der bunten Bande mehr Achtung, als wenn er das Doppelte und Dreifache des üblichen Preises bezahlt hätte.

So wurde er denn, als er wiederum suchend erschien, mit ganz andern Augen betrachtet, und er konnte einen herrlich gewachsenen Sabinerjüngling dingen, der auch wirklich Wort hielt, am nächsten Morgen erschien und sich als ein wahrer Antinous erwies, nur kraftvoller und männlicher.

Während Steffens den Jüngling modellierte, war die Gestalt des Weibes, zu dessen Füßen jener hingestreckt lag, mit feuchten Tüchern umwickelt, so daß die verhüllte Frauengestalt als das verschleierte Bildnis zu Sais erscheinen konnte; der Jüngling hatte dessen furchtbare Schönheit geschaut und war von derselben entgeistert worden.

Zur Zeit der Pfirsichblüte war auch dieser Teil des Werkes vollendet.

Es war Frühling! Ein Frühling mit heißen Tagen und schwülen Schirokkonächten, mit Fluten von Blumendüften und mit Chören von Amselgesang. Dabei jung sein und zum ersten Male verliebt, wie noch niemals vorher ein Mann auf Erden gewesen,– dabei Künstler sein und den ersten Frühling in Rom verleben; dabei im Atelier ein fast vollendetes Werk ...

Ein halbvollendetes Werk ...

Wie sollte es jemals fertig werden können, wenn er zu dem herrlichen Nacken und Haupt nicht auch den herrlichen Leib nachbilden konnte?

Es half nichts, er mußte ein andres Modell suchen. Nein und abermals nein! Es war ja ein Frevel. Für diesen Nacken, dieses Haupt eine andrer, fremder Leib – es war Entheiligung.

So mochte denn sein Werk niemals vollendet werden!

Schon lange ließ er jetzt seine Ateliertür offen, um wenigstens etwas Luft und Wärme einzulassen, womöglich auch einige Sonnenstrahlen. Bei offener Tür lag er auf einem sehr primitiven Diwan, den er sich aus Kisten und seiner Reisedecke zusammengestellt hatte.

Stundenlang lag er so, müßig sein Werk anblickend, davon er jetzt häufig die Tücher abnahm ... Am liebsten hätte er seine Arbeit wieder zerstört, denn wie sie jetzt dastand: unfertig und niemals fertig werdend, war sie ein Zerrbild, ein Unding.

Und wenn er denken mußte, daß sie sein Meisterstück hätte werden können! Sein Meisterstück, also etwas, das ihn überleben würde, ein Stück Ewigkeit!

Ja, ja! Er bekam in diesem feuchten Mauerloch sicher das Fieber.

Aber auch das war gut! Das war am besten.

Ein Schatten fiel in das Atelier, gerade auf die unvollendete Gruppe. Jemand war leise in die offene Tür getreten und darin stehen geblieben.

Steffens richtete sich auf und fühlte einen kalten Schauer, einen Fieberschauer.

Nein, es war Freude; ein Glück war's, das ihm für einen Augenblick das Blut erstarren machte.

Maria war wieder da! Und – sie blieb da! Den ganzen Vormittag, den ganzen Nachmittag! Auch am nächsten Morgen kam sie wieder und alle Tage, eine ganze Woche – viele Wochen lang.

Sein Werk sollte vollendet werden.

*

Es ward Sommer: der Sommer Roms, der die Seele dessen, der rettungslos dem großen Romzauber verfiel, umschlossen hält, als seien es die Arme eines schönen, üppigen Weibes: er kommt nicht mehr los davon.

Alle Fremden verschwunden, wie fortgefegt. Rom ohne Engländer, Amerikaner und Deutsche, ohne Baedeker, Gsell-Fels und Murray. Von neuem das unentweihte, das wiedergeheiligte Rom – trotz des bösen, bösen Jahres achtzehnhundertundsiebzig.

Nur einige wenige Künstler bleiben. Von allen sonderbaren Romschwärmern sind sie die sonderbarsten; die Fanatiker, welche der römische Sommer in Ekstase, die sehr irdischen Schweißströme aber dafür in den himmlischen Zustand von Siestakultus versetzt. Nüchterne Gemüter nennen eine solche Existenz vegetieren.

Schon am frühen Morgen der grelle, grelle Sonnenschein, der alles einhüllt, alles durchdringt. Wie ein funkelnder, flammender Goldteppich hängt er von den Wänden der Häuser herab, liegt er über die Plätze, die Terrassen, die Treppen gebreitet, scheint er hoch über all den Säulen, Obelisken, Türmen und Kuppeln hinweg durch die Lüfte gespannt.

Auf den Straßen idyllische Ziegenherden; aus den Höfen der schwüle Wohlgeruch der Magnolienblüten; die Gärten glühend von den brennendroten Granaten, von den rosenfarbenen Büscheln des Oleanders.

Um die Mittagsstunde, jener heiligen Zeit, da ehemals der große Pan schlief, ist das sonst von Gedränge und Lärm erfüllte Rom fast dörflich still. Ja, das ist dann freilich ein Zauber ...

Die meisten Künstler fort aus Rom. Fort alle Modelle. Nicht doch, die Maria von Rocca war geblieben.

Steffens arbeitete rastlos, fieberhaft. Schon früh um sechs Uhr befand er sich in voller Tätigkeit, und schon früh um sechs Uhr war sein Modell bei ihm. Bis zehn oder elf Uhr arbeiteten sie, dann begab sich Steffens in seine Trattorie, Maria nach Hause. Um fünf Uhr waren sie wieder beisammen, oft bis in die Dämmerung hinein.

Die Tür konnten sie offen lassen, ohne fürchten zu müssen, gestört zu werden. In allen andern Höfen war die grünende, blühende Wildnis des Unkrauts längst von der Sonne verbrannt, so daß man es förmlich rascheln hörte, wenn die Lazerten durch das vertrocknete braune Blattwerk schlüpften. Aber in dem feuchten Grunde vor dem Studio des deutschen Bildhauers sproßten noch immer üppiges Grün und Blumen auf, die sonst nur an sumpfigen Orten gedeihen.

Seit dem Sommer waren der wenigen armseligen Mieter des neuen prächtigen Hauses gegenüber dem Kolosseum noch weniger geworden. Schwarz Vermummte mit den brennenden Wachskerzen hatten auch sie in der Dämmerungsstunde herausgetragen.

Nur noch eine Woche, und das Werk war vollendet! Nur noch eine Woche mußte die Kraft aushalten. Nur noch eine Woche keine Ermattung, keine tödliche Erkrankung, mochte hernach kommen, was da wollte, wenn das Werk nur vollendet war.

Schon seit Wochen konnte Steffens kaum noch etwas genießen. Er lebte ausschließlich von Gemüsen und Salat, trank Wasser und Limonaden, niemals Wein.

Er fühlte, wie die Krankheit sich an ihn heranschlich, wie sie ihn zu überwältigen drohte, wie das Fieber kam. Es durfte jedoch nicht kommen – noch nicht! Und er kämpfte dagegen mit wahrer Heldenkraft. Auch Maria durfte nichts wissen. Sie mußte fort sein aus Rom,– erst dann durfte er vielleicht sterben.

Nur noch drei Tage! ... Zwei Tage nur noch ... Um Gottes willen nur noch zwei Tage! ... Jetzt noch einen Tag, einen einzigen, letzten. Morgen schon lam der Gipsgießer. Wenn der Ton nur erst zertrümmert, wenn der Gips nur erst geformt war, dann, ja dann ...

Er sah sein Werk vollendet dastehen in der starren, weißen, toten Masse. Wie schön es war, selbst in dem häßlichen Stoff. Wie es lebte – wie sie lebte, die Tochter der Semiramis, die herrliche, grausame junge Königin, deren Kuß mordete. Von ihren Küssen sich töten zu lassen ... Mußte er nicht leben bleiben, um sein vollendetes Werk in Marmor erstehen zu sehen? In Marmor von Carrara. Marias Antlitz und Gestalt! Ihre göttliche Schönheit verklärt als glanzvolles Marmorbild.

Am nächsten Morgen wollte sie fort, irgend wohin in die Sabinerberge, nicht nach Rocca di Papa. Dort wollte sie den Rest des Sommers verbringen, und dann – nein! Ein zweites Mal würde sie ihm nicht wieder Modell stehen.

Nie wieder!

Er hatte Abschied von ihr genommen, hatte sich dann eingeschlossen, war zu seinem Lager getaumelt und darauf niedergesunken. Gleich danach wußte er nichts mehr von sich. Nur sein Werk sah er mit schwindenden Sinnen noch einmal aufleuchten, bevor es Nacht um ihn ward.


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