Richard Voß
Römisches Fieber
Richard Voß

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5. Prisca verläßt die Solitude

An jenem grauen Regennachmittag ward es frühzeitig dunkel. Das Glöcklein, das die noble Passion für taghell erleuchtete Räume besaß (nicht Petroleum, am liebsten Öl, am allerliebsten Kerzenlicht), hüllte sich in ihre schwedischen Handschuhe, um mit deren Hilfe und einem leisen Seufzer, den ihr jeden Abend ihr bescheidenes Lämplein abpreßte, Licht anzuzünden. Jeden Abend gereichte ihr die Vorstellung zum Trost: welchen feenhaften Eindruck die Solitude bei Kerzenglanz machen würde. Zur Feier ihres sechzigsten Geburtstages sollte Schwabing dieses Ereignis bestaunen, Grund genug für Gismonda, das Ende ihrer fünfzig Jahre sehnlichst herbeizuwünschen.

Jener Winkel der Solitude, der den Namen Boudoir trug, war erleuchtet. Gismonda umschleierte die häßliche Lampe mit einer Riesenhülle aus rosa Seidenpapier und zerknitterten seidenen Apfelblüten, schloß die Läden, steckte die aus den verschiedensten Courschleppen genial komponierten Gardinen zusammen und deckte sodann ein Tischchen für den afternoon tea – alles mit den Schwedischen an ihren Händlein.

Nachdem diese Vorbereitungen vollbracht waren, sah es auch wirklich recht niedlich aus: das Tischchen mit dem blütenweißen Deckchen und einem der herzoglichen japanischen Teeservice, mit dem Körbchen selbstgebackener Zwiebäcke und in einem chinesischen Väschen – von Gismonda auf den feierlichen Namen »Jardiniere« getauft – ein Sträußlein purpurfarbiger Blüten.

Ungeduldig erwartete jetzt die kleine Hofdame ihre große Prinzessin – denn dieses Verhältnis hatte sich im Lauf der Jahre zwischen den beiden Bewohnerinnen des Idyllenhäuschens herausgebildet; und während sie wartete, stellte sie ihre stillen Betrachtungen an.

›Wie sich der Mensch doch an alles gewöhnt! Sogar an die Kunst. Wenn Ihre Hoheiten geahnt hätten, daß es unter diesen Leuten ein Wesen geben könnte, wie meine liebe Lange eines ist: durch und durch comme il faut und ladylike. Dabei keine Spur von einem Modell oder sonst etwas Unanständigem. Und daß die Kunst selbst etwas so Hübsches sein kann, etwas so – Großes. Jawohl: Großes! Das hätten Ihre Hoheiten niemals geahnt, das weiß aber ich. Meine liebe Lange hat es mich gelehrt. Überhaupt sie! Ach Gott, aber –‹

Und jetzt brachen über das Gemüt Glöckleins tausend Ängste und Befürchtungen herein. Denn: ›Sie hält es hier nicht aus. Nein, nein! Es ist etwas in ihr; wohl von ihrer Mutter her, die immerhin ein Modell gewesen war. Das soll so sein in der Welt. (Mit einem scheuen Blick auf das Porträt Seiner Höchstseligen Hoheit.) Und dann kann sie eben nichts dafür. Wäre ich nur größer, ich wollte ihr schon helfen. Aber so kann ich nichts für sie tun, rein gar nichts! Es ist wirklich sehr ungerecht, daß ich so klein bin.‹

Und das sagte sie Seiner Hoheit so paff ins Gesicht hinein. Im nächsten Augenblick bereits erstarrte sie schier vor Schreck über solchen völligen Mangel an schuldiger Devotion. Beinah wäre sie aufgesprungen, hätte sich kerzengerade hingestellt und mit ihrem perfektesten Hofknicks Seine Hoheit untertänigst um Verzeihung gebeten. Aber der Durchlauchtigste Herr lächelte so harmlos huldreich auf sie herab, als könnte Hochderselbe sich absolut nicht erinnern, irgendwie an dieser Miniaturfigur schuld zu sein.

Dann erschallte ein helles Klingelchen, das sich entschieden die Stimme des Glöckleins zum Vorbild genommen hatte, und Gismonda huschte hinaus, um ihrer lieben Langen die Pforte der Solitude zu öffnen.

Die beiden Damen saßen beim Tee. Nachdem Regenmantel und Kapuze abgeworfen, erschien Prisca in ihrer ganzen germanischen Eckigkeit, dafür aber auch in dem vollen Schmuck ihres hellen, prachtvollen Haares. Sie trug es in starken Zöpfen einfach um den Kopf gewunden, was ihr das Aussehen einer Achtzehnjährigen gab.

»Und dein Bild ist noch immer nicht verkauft?« klagte das Glöcklein. »Was wollen die Menschen denn eigentlich? Ich kann mir nur denken, daß den Leuten dein Bild zu klein ist. Male doch nur um Himmels willen große Bilder. Du kannst es ja. Du kannst alles.«

»Wie schade, daß deine Hoheiten nicht mehr am Leben sind, die hätten mir sicher meine Riesenbilder samt und sonders abgekauft. Ich habe eben meine rechte Zeit verpatzt.«

Prisca sprach wie von tiefster Überzeugung durchdrungen. Sie wußte, daß sie ihrer kleinen Freundin kein größeres Vergnügen bereiten konnte, als wenn sie deren Höchstselige Hoheiten als die wahren Mediceer hinstellte. Ein leiser, zweifelnder Seufzer Gismondas sollte der zuversichtlichen Behauptung der jungen Künstlerin bescheidentlich widersprechen. Aber Prisca wiederholte ihre Meinung mit solchem Nachdruck, daß des Glöckleins Gemüt von Gewissensbissen gepackt ward, sie hätte dem heiligen Gedächtnis ihrer Herrschaften ein himmelschreiendes Unrecht zugefügt, und mit Seiner Hoheit wäre ein erhabener Beschützer der Künste dahingegangen! Und von wem sollte sie selbst dieses erstaunliche Verständnis für Kunst empfangen haben? Etwa von ihrem Vater, dem Hoflakaien?

In glückseliger Verschämtheit über dieses neue, bedeutsame Argument stippte sie ihren Zwieback in den Tee, nicht wagend aufzusehen, um nicht dem Blick Seiner Hoheit zu begegnen.

Prisca unterbrach das feierliche Schweigen, indem sie mit ihrer sonnenhellen Stimme lustig sagte:

»Übrigens komme ich auch ohne deine Hoheiten durch die Welt. Freilich nicht ganz so leicht und, bequem. Große Bilder! Du triffst eben immer das rechte. Ich muß große Bilder malen. Wenn ich damit durchkomme – und ich komme durch! –, so habe ich das auf Gottes weiter Erde keiner Menschenseele zu danken als dir, du liebes, feines, silberhelles Glöcklein. Aber um solche riesigen Sachen überhaupt machen zu können, muß ich einen großen Raum haben; zum mindesten noch einmal so groß, als unsre ganze herrliche Solitude ist. Das wird meine weise Hofdame doch wohl einsehen?«

»Noch einmal so groß? Aber Prisca! Ein solches Atelier gibt es ja gar nicht.«

»In München schwerlich. Hier ist alles winzig. In Italien gibt es die vielen alten Paläste. Manche sollen ganz leer stehen, sollen verfallen, ohne daß man sich darum kümmert. In einem oder dem andern fände ein Sonntagskind vielleicht billige Unterkunft. Da könnte ich dann malen.«

»O Prisca!«

»Nun ja, liebes Glöcklein. Ich war heute auf dem Zentralbahnhof und erkundigte mich dort wegen eines Billetts nach Rom. Denke dir, es kostet nur siebenundfünfzig Mark! Der Mann fragte, ob ich kein Rundreisebillett nehmen wollte? Es käme bedeutend billiger und gälte zwei volle Monate. Ein Rundreisebillett, süßes Glöcklein! Und nach zwei Monaten in Rom wieder nach München zurück!«

So war es denn glücklich heraus ... Aber es dauerte eine gute Weile, bis Gismonda begriffen hatte, daß sie ihre liebe Prisca in kurzer Zeit und für lange verlieren sollte. Je weniger sie klagte, um so mehr griff es Prisca ans Herz. Diese ganze Woche hindurch sah sich die nach einem Ersatz für das treulose Pflegekind der Solitude um; und schließlich fand sie auch einen solchen. Es war eine junge Dame der höheren Stände, welche die Vorzüge des Schwabinger Lustschlosses nach Gebühr zu schätzen wußte; obenein Künstlerin und nach Menschenmöglichkeit hoch aufgeschossen. Aber das Glöcklein mochte von keinem Ersatz für ihre liebe Prisca hören. Ihr Kämmerchen sollte leer stehen bleiben, und die kleine Dame wollte zu ihren zehn Pfund Rindfleisch pro Monat zurückkehren: hatte sie doch dazu die Menüs von der herzoglichen Hoftafel aufliegen.

»Es mußte wohl einmal so kommen,« meinte das arme Geschöpf weinerlich. »Wenn es nur nicht Italien wäre! Das Land mag ja wohl angehen. Aber die Leute dort. Wenn du das Land mit all seinen Apfelsinen- und Zitronenbäumen auch noch so schön abmalst, mit den Leuten wirst du dein blaues Wunder erleben. Unter uns gesagt: ich begreife Bismarck nicht. Er weiß doch ganz gut, daß es alle Deutschen immerfort nach Rom zieht und daß sie dort von diesen abscheulichen Italienern rein ausgeplündert werden. Warum hat der Mann denn aus Italien nicht eine deutsche Provinz gemacht? Er hätte es ja doch gekonnt, wenn er nur gewollt hätte; geradeso, wie du alles kannst, was du willst.«

*

Die Vorbereitungen zur Reise wurden begonnen. War das auf der einen Seite eine Glückseligkeit! Prisca verglich sich mit einer Braut, die an ihrer Aussteuer näht. Seit sieben Jahren hatte sie gesammelt und gespart. Nun sollte sie ihren ganzen Schatz ausgeben dürfen, um dafür einen ganz andern Reichtum einzuheimsen: Lebensglück.

Da war vor allem ihre kleine Reisebibliothek: Heyses »Italienische Novellen«, Gregorovius' »Römische Figuren«, Ullmers' »Schlendertage«, Viktor Hehn, Hermann Grimm und Jakob Burkhardt. Prisca hatte alle diese Bücher gelesen und immer wieder gelesen; und wenn sie davon sprach, schlug sie ihre prachtvollen Augen mit einem leuchtenden Blick auf, der ihr ganzes Gesicht verklärte. In diesen Winterabenden mußte sich Gismonda zum dritten oder vierten Male Goethes »Italienische Reise« vorlesen lassen. Aber je begeisterter darin die Grazie des Volkes gepriesen ward, um so mißmutiger bezeigte sich das Glöcklein.

»Das ist es ja eben! Die Grazie ist es! Ach, meine liebe Lange, die Grazie ist der Teufel, der in diesem Volke steckt. Gott behüte deine arme, reine Seele vor diesem Satan!«

Prisca meinte lachend:

»An mich ungelenkes, eckiges deutsches Ding macht sich der Versucher gar nicht heran. Wer von allen Grazien verlassen ist, auf den hat der leibhaftige Gottseibeiuns, der dort drüben sein Wesen treiben soll, überhaupt keine Absichten.«

Aber mit der Miene einer Sibylle antwortete das Glöcklein:

»Gerade darum.«

Prisca baute Luftschlösser und entführte dabei ihre Freundin von der Isar hinweg an den Tiberstrand.

»Wenn mein erstes großes Bild gemalt und glücklich verkauft ist – ich verkaufe es selbstverständlich sofort, so komme ich umgehend und hole dich herüber: mit dem Eilzug in der zweiten Klasse! Dann gründen wir vor der Porta del Popolo eine römische Solitude. Darin hausen wir beide – mit deinen sämtlichen Hoheiten natürlich.

Gismondas matte Augen bekamen einen feuchten Schimmer; ein leuchtendes Lächeln huschte über das welke Gesicht:

»Ach ja, Prisca. Mit meinen Hoheiten in dem großen, ewigen Rom! Aber,« so setzte sie kleinmütig hinzu, »es geht doch wohl nicht. Denn was sollten die hiesigen Münchner Herrschaften wohl von mir denken, wenn sie am Sonntag nicht mehr von mir gegrüßt würden? Ihre kaiserliche Hoheit, Prinzeß Gisela, haben mich erst letzthin durch ein ganz besonders huldreiches Nicken ausgezeichnet. Höchstdieselbe müßte mich ja für ganz abscheulich undankbar halten, wenn ich von München fort nach Rom gehen wollte.«

Prisca erlebte, was wohl jeder erlebt, der zum erstenmal die Wanderschaft nach dem Süden antritt, die selbst in unsrer Zeit noch für manchen eine Wallfahrt bedeutet. Mit welcher Wonne studierte sie Landkarte, Fahrplan und Reisebuch immer und immer wieder. Stieß sie dabei auf den Namen Rom, so klang und rauschte es ihr durch das Gemüt wie das Wort der Verheißung, wie eine Verkündigung des Heils. Das Einpacken ward zum Fest. Als sie im Reisebureau an dem Promenadeplatz das Billett löste – auf Glöckleins flehentliche Bitte hin zweiter Klasse und für den Schnellzug – da klopfte ihr das Herz, als ob sie postlagernd unter Chiffer »Hoffnung« ihren ersten Liebesbrief abholte.

Dann machte sie ihrem lieben Rottmann unter den Arkaden einen Abschiedsbesuch.

»Trient, Verona. Wenn ich morgen an euch vorbeikomme, ist es leider schon Nacht. Wenn ich übermorgen aufwache, bin ich da!... Es war zu dumm von mir, dem guten Glöcklein nachzugeben und zweite Klasse zu fahren. Für das viele Geld hätte ich eine halbe Woche in Florenz bleiben können. Aber meine treue Hofdame lamentierte gar zu erbärmlich. Ich will es also in Gottes Namen machen wie Goethe, der auch nirgends Ruhe hatte, als bis er durch die Porta del Popolo einziehen konnte: jetzt hast du dein Rom sicher! ... Roma! Da ist es! So leuchtend, so herrlich, so unfaßlich groß. Roma antica! O ihr Säulen auf dem Forum! ... Übermorgen mittag komme ich an. Dann gehe ich sogleich über Kapitol und Forum nach dem Palatin. Übermorgen – Prisca Auzinger! Ja, ist es denn nur möglich?«

Und sie dachte an ihren armen Vater, und daß sie jetzt wirklich dahin, dahin zog – ohne ihn.

*

Glöckleins helles Stimmchen war schon seit einer Woche vor Wehmut ganz matt, und an diesem allerletzten Tage erfüllte es die Gemächer der Solitude mit leisem Klageton. Gismonda hatte für den letzten afternoon tea, ihr herrlichstes herzogliches Service aufgestellt und zum Souper ein eingemachtes Huhn mit Nudeln bestimmt. Statt der vulgären Petroleumlampe brannten an diesem Abend auf einem Armleuchter aus versilbertem Zinn fünf Kerzen, deren festlicher Glanz in Glöckleins Gemüt die Finsternis des Trennungsschmerzes ein wenig erhellte.

»Schicke mir ums Himmels willen ein Tagebuch. Ich beschwöre dich! Und wenn du das Fieber bekommst, daran in Rom die Menschen wie die Fliegen sterben sollen, dann zerkoche gleich in einem Glase Rotwein eine Limone. (Die wachsen dort ja an den Bäumen wie bei uns Äpfel und Pflaumen.) Davon mußt du jede Stunde einen Eßlöffel voll nehmen ... Ach Gott, und die Modelle! Da drüben nimmst du gewiß sofort ein Modell ins Haus, und einer davon sticht dich tot. Übrigens ist es auch ganz unschicklich für eine junge Dame, nach lebendigen Modellen zu malen. Wozu auch? Bis jetzt war ich so stolz auf dich ...«

Ein Klang der Hausglocke unterbrach des Glöckleins Jeremiade, der Prisca mit einem träumerischen Lächeln zuhörte. Da die Aufwärterin, welche an diesem Abend ausnahmsweise in der Solitude anwesend war, hinreichend mit dem eingemachten Huhn und den Nudeln zu tun hatte, ging Gismonda selbst, um zu öffnen. Sie kam mit einer bürgerlich aussehenden Frau zurück, die ein gedrücktes Wesen und ein vergrämtes Gesicht hatte.

»Besuch für dich, Prisca. Frau Pirngruber hat gehört, du reisest nach Rom, wo sie eine Tochter hat. Sie sagt, ihre Tochter sei mit dir zusammen in die Schule gegangen.«

Prisca erinnerte sich sofort der hübschen, lustigen Fanni Pirngruber. Auch daß sie schon seit vier Jahren in Rom sei, fiel ihr jetzt ein. Sie freute sich sehr, dort eine Schulkameradin wiederzufinden, und fragte nach ihrer Adresse.

»Ich habe sie Ihnen aufgeschrieben mitgebracht, denn ich wollte Sie recht sehr bitten, sich einmal nach unsrer Fanni umzusehen. Wir hören gar nichts mehr von dem Kinde; es ist gewiß etwas mit ihr geschehen. Aber was? Als sie damals vor vier Jahren nach Rom ging, meinten wir, sie käme direkt in den Himmel, da doch in Rom der Heilige Vater ist und Sankt Peter, der den Himmelsschlüssel hat. Und ihre Stelle als Bonne für die beiden kleinen Mädchen des Herrn Cavaliere – den Namen kann unsereins nicht aussprechen; er steht hier aber aufgeschrieben ... Sehen Sie, liebes Fräulein Auzinger, fünfzig Mark monatlich und freie Station, und dann in Rom, wohin doch immer gewallfahrtet wird, und wo mehr Kirchen sein sollen als bei uns Häuser – unsre Fanni konnte sich ja gar nichts Besseres wünschen. Alle Monat schrieb sie, schickte Geld und tat, als wäre sie im gelobten Lande. Denken Sie sich, alle Tage Wein! Die Kinder waren nett, die Frau Cavaliere kümmerte sich im Hause rein um gar nichts, und der Herr – na, der muß so ein rechter Welscher sein; die Fanni mochte ihn nicht ausstehen, was mir ganz lieb war. Denn bei solchen Italienern weiß man ja gar nicht, wie sie eigentlich sind. Aber dann weniger, immer weniger Briefe.

»›Was denn wäre?‹ fragten wir. – ›Nichts wäre‹, antwortete sie. ›In Rom gäbe es jetzt schlechte Luft, die könnte sie nicht vertragen, und einmal hätte sie auch schon das römische Fieber gehabt.‹ ›Da sollte sie doch nach Hause kommen,‹ schrieben wir. ›Das könne sie nicht, der Kinder wegen. Die Frau Cavaliere bekümmere sich eben um rein gar nichts, und sie müsse der Kinder wegen dableiben.‹ Das war ja nun brav von der Fanni. Und von ihm, dem Herrn Caoaliere, keine Silbe.

»Jetzt schreibt sie fast nie mehr, schickt auch kein Geld, so not es uns tut bei den schweren Zeiten. Und älter wird man auch. Und alles ist hier so teuer. Bitten möchten wir die Fanni nicht. Wozu erst bitten? Sie weiß es ja.

»Und wenn sie uns einmal schreibt, merkt man, daß es sehr vergnügt klingen soll. Es klingt aber sehr traurig. Von der schlechten Luft und dem römischen Fieber kein Wort mehr. Auch von der Frau und dem Herrn Cavaliere kein Wort. Nur immer von den Kindern: sie müsse und müsse bei den Kindern bleiben.

»Was sollen wir tun? Liebes Fräulein, nicht wahr, Sie besuchen unsre Fanni und schreiben uns, wie es ihr geht?«

Prisca tröstete die bekümmerte Frau und versprach der Dankbaren, ihre Tochter sofort aufzusuchen. Nach ihrem Weggang blieb sie in nachdenklicher Stimmung zurück.

Aber nun trat Gismonda ihr Herrscheramt an. Mit hundert kleinen, listigen Künsten verstand sie es, ihrer lieben Langen über die tiefe Wehmut der letzten Stunden des Beisammenseins hinwegzuhelfen.

*

Priscas Reisetag fiel in die letzte Novemberwoche und war so dunkel wie des Glöckleins Gemüt. Die kleine Dame hielt sich jedoch tapfer. Sie schwärmte von dem blauen Himmel Roms, beschwor ihre liebe Lange, für die Bilder Ihrer Hoheiten dann und wann in einem Schächtelchen frische Blumen zu schicken – so recht mitten im Winter! und unterdrückte, Prisca zuliebe, jeden Ausbruch von Mißtrauen gegen die Italiener, die ihr nun einmal in tiefster Seele verhaßt waren.

Natürlich fuhr sie mit zur Bahn, dermaßen in herzogliche Tücher eingewickelt, daß sie sich unter Priscas Siebensachen wie ein Stück Handgepäck ausnahm. Auf dem Perron trippelte sie eilfertig neben ihrer letzten und liebsten Freundin auf der Welt her und rief in hellstem Glockenton:

»Rom, zweite Klasse!«

Dann stellte sie sich vor der offenen Coupétür auf das Trittbrett und schien Lust zu haben, dem Schaffner, als er die Tür schließen wollte, mit ihrem gewaltigen Regenschirm zu Leibe zu gehen. Jedenfalls wich sie nicht eher, als bis sie ein in weißes Seidenpapier gewickeltes, mit rosa Seidenband gebundenes Paket Schokolade aus der Tasche gezerrt hatte. Das schleuderte sie in den Wagen, der sich bereits in Bewegung setzte, schluchzte laut, sprang vom Trittbrett herab und stürzte davon.

Ohne sich an das Lachen der Leute zu kehren, lief sie zum Bahnhof hinaus. Bitterlich weinend stieg sie in ihren Schwabinger Tram, kehrte sie in ihre einsame Solitude zurück. Zu Mittag gab es ein winziges Stückchen Rindfleisch, das in einer wässerigen Brühe schwamm, und zum erstenmal lag dazu kein Menü der Hoftafel auf.


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