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Dreiunddreißigstes Kapitel.

Anna Pawlowna begab sich in ihr im zweiten Stock gelegenes Schlafgemach, schickte die Kammerfrau fort und verriegelte die Tür. Dann setzte sie sich vor den Toilettentisch und begann ihr Haar aufzulösen. Dabei lauschte sie auf jedes Geräusch. An die eine Seite des Zimmers schloß sich eine lange Reihe von Gemächern, auf eine Säulenhalle mündend, welche über der Moskwa lag; an der anderen Seite befand sich die Wohnung des Prinzen. Jeden Augenblick erwartete die Prinzessin, es dort anklopfen zu hören. Die Dienerschaft war noch auf, dieser und jener im Korridor. Sie würde öffnen müssen ... Sie sah ihn, wie er sie anschaute, mit dem erloschenen Blicke, der sich bei dem Betrachten ihrer Schönheit unheimlich belebte. Wie er sie anlächelte mit den blassen, vertrockneten Lippen, zwischen denen die falschen Zähne hervorblinkten. Sie fühlte diese Lippen auf den ihren, stieß einen Schrei aus und wollte aufspringen. Da erblickte sie sich im Spiegel und entsetzte sich vor ihrem eigenen Bilde: das blasse Gesicht, von der Mähne ihres roten Haares wie von einer Flamme umlodert, darin ihr ganzer Leib zu versinken schien, die Lippen geöffnet, die Augen starr und weit offen – –

Eine Weile betrachtete sie ihr Spiegelbild, als wäre es ihr etwas ganz Neues.

Also so kannst du aussehen, so schrecklich schön! So muß Judith ausgesehen haben, als sie dem Holofernes das Haupt abschlug. Merkwürdig, daß diese Tat so selten wiederholt wird, daß nicht mehr Morde geschehen, die Frauen an ihren Männern verüben. Aber wir sind so dirnenhaft!

Sie lehnte sich in den Sessel zurück, starrte auf ihr Bild und versank in Grübeleien.

Da ist dieser Sascha. Er soll mich lieben, er soll eine große Leidenschaft für mich hegen, dieser junge Gigant mit den Äugen und dem Herzen eines Kindes, Seltsam, höchst seltsam!

Sie beobachtete im Spiegel, wie die Starrheit aus ihrem Gesicht schwand, wie sich dieses belebte, wie bei dem Gedanken an jenen Bauernsohn ein Lächeln auf ihre Lippen trat.

Was soll das bedeuten? Woran dachte ich?

Sie mußte sich darauf besinnen.

Ist das möglich?

Sie wurde unruhig, aufgeregt. Plötzlich schreckte sie zusammen. Leise Schritte nebenan! Jetzt mußte es anklopfen.

Sie wußte nicht, was sie tat; sie sprang auf, löschte das Licht, stand mit angehaltenem Atem und lauschte.

Aber sie hatte sich doch wohl getäuscht?

Doch nein: jemand war an ihrer Tür, eine Hand legte sich auf den Drücker. – – Alles blieb still.

Er wagt es nicht! Er ist feige!

Sie atmete tief auf; dann entkleidete sie sich und legte sich zu Bett.

Mit einem Schauer erwachte sie. Sie hatte geträumt, daß sie von Sascha geküßt wurde, daß sie Sascha küßte. Es ist nicht möglich, suchte sie sich selbst zu beruhigen, es ist gar nicht möglich daß ich ihn liebe. Was für grobe, rote Hände er hat! Aber wie selig er war, wirklich ganz wie von Sinnen. Ich hatte eine solche Leidenschaft nicht für möglich gehalten. Mein Gott, welch ein Ausbruch! Ich bebe noch davon. Und das alles sollte nur ein Traum gewesen sein?

Um sich vollends aus dem Schlaf zu bringen, öffnete sie die Augen und richtete sich in die Höhe. Aber sie mußte noch immer träumen. Sie träumte, daß ihr gegenüber die Wand sich bewegte, daß der Spiegel langsam sich drehte; sie träumte so lebhaft, daß sie, von einer entsetzlichen Angst gepackt, aus dem Bette sprang.

Da stand er vor ihr.

Keinen Laut vermochte sie hervorzubringen; aber hätte sie eine Pistole gehabt, so würde sie ihn mit kaltem Blute niedergeschossen haben. Auch er sagte nichts. So standen sie sich einander gegenüber.

Der Prinz machte eine Bewegung, als ob er sie fassen wollte; aber sie wich, die Augen auf ihn gerichtet, vor ihm zurück. Er folgte ihr. Sie schob sich bis zur Tür, griff hinter sich, rückte den Riegel fort, und dann durch die lange Reihe der Gemächer, Schritt für Schritt vor ihrem Verfolger zurückweichend, ohne den Blick vor ihm zu wenden, ohne einen Laut zu tun. Sie kam in die Vorhalle, lautlos näherte sie sich der Brüstung, lautlos hätte sie sich hinübergeschwungen und hinabgestürzt. Da, mit einem Wutschrei, ließ er von ihr.

Sie blieb stehen, ihr Auge nicht von der Stelle wendend, wo sie ihn zuletzt gesehen. Aber er kam nicht wieder. Eine Viertelstunde verging, sie rührte sich nicht. Dann kauerte sie sich nieder, und da sie trotz der warmen Nachtluft zu frieren begann, löste sie ihr Haar und hüllte sich darin ein.

Welche Schmach! war alles, was sie zu denken vermochte.

Sie hörte unten den Fluß rauschen und lauschte darauf. Warum hatte sie sich nicht über die Brüstung geschwungen? Gern hätte sie es noch jetzt getan; aber sie konnte sich nicht regen. Es war ihr, als müßte sie einen Gedanken fassen, der ihr so lange fern gelegen, einen Entschluß ausführen, auf den sie nicht vorbereitet war. Was mochte es sein?

Sie mußte sich aus der Erniedrigung erheben, sie mußte sich reinigen oder ihr Leben beenden. Aber wie sich erheben, wodurch sich reinigen?

Durch wahre Liebe! Sie mußte wahrhaft geliebt werden. Sie kannte manche, denen sie Leidenschaft einflößte; aber das war es ja eben, was ihr diese Männer abscheulich machte, was sie erniedrigte. Sie mußte wahrhaft geliebt werden! Wer aber liebte sie wahrhaft? Sie dachte nach und fand keinen. Ach, Sascha – –

War sie von Sinnen, daß sie an diesen denken konnte, gerade an diesen?! Sie strengte sich an, es nicht zu tun, aber es gelang ihr nicht, ihre Gedanken von ihm zu wenden. Sie bemühte sich, ihn lächerlich zu finden, grob und plebejisch. Aber unablässig verfolgten sie sein frischer, roter Mund, seine traurigen Kinderaugen, Und diese Augen leuchteten auf in dem heiligen Feuer seiner Liebe zu ihr! Dieser Mund stammelte wirre Worte: sein Entzücken für sie! Ohne Abscheu zu empfinden, konnte sie denken, daß sie von diesen Lippen geküßt wurde wie ein Heiligenbild von einem Gläubigen, einem Verzückten.

Wie, wenn sie sich von ihrer Schmach befreite, dadurch, daß sie die Liebe, die Verehrung, die Anbetung dieses Guten und Reinen gestattete?

Wenn sie es recht bedachte, so mußte sie sich gestehen, daß sie noch keinen beglückt hatte, keinen Menschen wirklich beglückt, auch nicht für eine Stunde! Sie hatte Wohltaten gespendet und es war ihr gedankt worden; aber Glück bereitet hatte sie niemals. Hier konnte sie es, hier war ihr Gelegenheit gegeben, mit vollen Händen auszustreuen, zu verschwenden: Glück, Glückseligkeit!

Der neue Tag, der über Rußland aufging, beseelte die Menschen mit neuen Gefühlen, der Mann aus dem Volke stand gleichberechtigt neben der Frau aus der Gesellschaft, die sich nicht länger zu ihm herabwürdigte, sondern ihn und mit ihm sich selbst erhob durch die hohe Empfindung, die sie einflößte und der sie sich hingab.

Welch eine Phantasie!

Eine neue Welt, darin Volk und Gesellschaft sich geschwisterlich verschmolzen; als erstes Menschenpaar der Mann aus dem Volke und die Frau aus der Gesellschaft: der Bauernstudent Sascha und die Prinzessin Anna Pawlowna – – –

Es würde ein Opfer ihres ganzen Selbst sein, aber ihr Entschluß war gefaßt.

Der Himmel lichtete sich, der Morgen dämmerte. Sie stand auf, warf ihre Haare zurück und hob das Gesicht dem anbrechenden Tage entgegen. Ihr war, als hätte allein schon ihr Vorsatz sie gereinigt von der Schande dieser Nacht.

Neubelebt schritt sie ihrem Schlafzimmer zu.


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