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Neuntes Kapitel.

»Nihilisten,« nahm Wladimir Wassilitsch das Wort, »ich habe euch heute wichtige Beschlüsse vorzulegen:

Wir müssen anstreben, alle einzelnen Teile der revolutionären Partei in Rußland zu vereinigen und dann gemeinsam vorgehen.

Sollten wir nicht dazu gelangen, uns über die zum Zwecke der Revolution verwendbaren Mittel zu verständigen, so müssen wir wenigstens dem Feinde gegenüber als ein geschlossenes Ganzes dastehen. Um das zu können, müssen wir einig sein.

Um die Verhandlungen zu erleichtern, schlage ich vor, daß alle Mitglieder einer Partei je zu einer Gruppe zusammentreten, und daß jede Gruppe unter sich einen Führer erwählt, der ihre Ideen darlegen und verteidigen soll.«

Dieser Vorschlag fand einstimmigen Beifall, die Versammlung teilte sich in drei Gruppen.

»Ich sehe,« sagte Wladimir Wassilitsch, indem er die verschiedenen Gruppen ins Auge faßte, »daß hier fünfzehn Anarchisten, zehn Propagandisten, zwölf Terroristen und ein Gemäßigter beisammen sind. Welchem der Sprecher soll ich zuerst das Wort erteilen?«

»Behalte das Wort!« schrien mehrere Stimmen.

Und Wladimir Wassilitsch begann von neuem:

»Ich werde mich darauf beschränken, die Ansichten meiner, der anarchistischen Partei darzulegen, ohne mir über die Bestrebungen der anderen revolutionären Gruppen ein Urteil zu erlauben.

Nihilisten! Dieses ist das anarchistische Ideal: Wir wollen die politische und soziale Freiheit und Gleichheit für jedermann. Alle Menschen sollen sich bei ihrer Geburt unter den gleichen sozialen Bedingungen befinden. Denn so lange nicht alle Kinder die gleiche normale physische Erziehung erhalten, so lange wird die Ungerechtigkeit fortbestehen, die jetzt unsere moderne Gesellschaft beherrscht. Die Freiheit des einzelnen Individuums soll keine anderen Grenzen kennen, als die Freiheit von seinesgleichen. Die normale Bedingung einer jeden Existenz aber ist der Kampf gegen die Natur mit Hilfe der physischen Kraft.

Alle müssen in gleicher Weise vorbereitet werden, diesen Kampf, der die Bedingung jeden Fortschritts ist, aufzunehmen. Wir wollen vor allem keine Gesellschaftsklassen mehr. Wir wollen nicht länger, daß ein Mensch schon vor seiner Geburt bestimmt werde, Hammer oder Amboß zu sein. Wir wollen nicht länger, daß ein Teil der Menschheit die Privilegien der Zivilisation genieße, während der andere Teil unter Bedingungen geboren wird, die elender sind, als diejenigen, unter denen ein Wilder sein Leben beginnt.

Aber wie können wir dazu kommen, eine Gleichheit der Kinder herzustellen?

Man schlägt uns die Aufhebung der Erbschaft vor. Natürlich ist die Aufhebung der Erbschaft die Bedingung sine qua non. So wie das Kind nicht verantwortlich ist für die Sünden der Eltern, ebensowenig soll es Erbe der Frucht ihrer Arbeit sein.

Der Mensch ist nicht mehr, wie in unvordenklichen Zeiten, ein nur von niedrigen Trieben geleitetes Tier; Vater- und Mutterliebe sind nicht mehr ein bloßer Instinkt, sondern ein bewußtes Gefühl. Als Beispiel diene folgendes: Wir sehen in der Gesellschaft Väter ihre natürlichen Kinder vernachlässigen oder selbst verlassen, während sie ihre legitimen Kinder mit Sorgfalt umgeben. Diese Unterscheidung ist nicht instinktiv, sie ist bewußt. Wir sehen Mütter die Frucht einer strafbaren Liebe töten, aber heroisch ihre rechtmäßigen Söhne dem Vaterlande zum Opfer bringen. Vom Vatergefühl gilt durchaus das gleiche, denn wir sehen Männer sich in die Flammen stürzen, um ein fremdes Kind zu retten, ohne daran zu denken, daß sie durch ihre Rettungstat das eigene Kind zur Waise machen können.

Nun gut: Ich verlange ebenso, daß jeder von uns einem unglücklichen Kinde zu Hilfe komme, denn an dem Tage, wo eine Mutter zwischen ihrem eigenen und einem fremden Kinde keinen Unterschied mehr machen wird, an diesem Tage wird die Idee der Erbschaft ausgelebt haben. Allein selbst nach dieser Abschaffung der Erbschaft wird noch immer ein Unterschied bestehen bleiben zwischen dem Kinde einer in Überfluß lebenden und dem Kinde einer armen, unwissenden Familie. Das Mißverhältnis zwischen diesen beiden wird sich hauptsächlich in den ersten Jahren der Emanzipation des Menschengeschlechts fühlbar machen. Also muß ein Mittel erdacht werden, dieses Mißverhältnis zu beseitigen und Gleichheit herzustellen; ist diese Gleichheit doch die Basis der sozialen Gerechtigkeit.

Nihilisten! Ich kenne nur ein Mittel, diesen Zustand zu erreichen; das ist die freie Anschließung aller an die Prinzipien der absoluten Freiheit und Gleichheit. Dort, wo der leiseste Druck besteht, gibt es keine Freiheit mehr. Wir wollen keinen Zwang! Es soll kein Mensch dem anderen untergeben sein. Jeder soll das Recht haben, seinem Gewissen, seinen Überzeugungen, seinen Neigungen nach zu leben. Und ist es wirklich so schwer, zu dieser allgemeinen Freiheit zu gelangen? Keineswegs! Es genügt, die Form dafür zu finden, die jedem gestattet, seine Meinung geltend zu machen.

Ich will mich näher erklären.

Wenn Millionen Menschen sich vereinigen in einer gemeinsamen Idee über die Steuern, über die Frage der Sklaverei, über die Ehe, über eine Regierungsform – warum sollen Millionen Menschen nicht ebensogut dahin kommen, eine allgemeine Form für die Idee des Eigentums, der Arbeit und der Teilung des Kapitals zu finden?

Sehen wir uns in Rußland um. Der Boden gehört niemandem. Er ist ein Geschenk Gottes. Jeder soll darauf arbeiten können, wo er will, wie er will. Und er soll mit Weib und Kind den Ertrag seiner Arbeit verzehren dürfen. Aber die Beamten des Zaren betrügen den Bauer um seine Arbeit, sie lassen ihn das Recht bezahlen, die Erde zu bebauen, und genießen selbst die Frucht seines Schaffens.

Neben den Beamten des Kaisers, die ihn berauben, kann jeder Zufall die Arbeit des Bauern gefährden und vernichten. Um sich vor derartigen Katastrophen zu schützen, ist die Gemeinde gegründet worden.

In manchen Distrikten ist schon jetzt alles abgeschafft, was Grundbesitz heißt. Die Bauern bearbeiten gemeinschaftlich den Boden, der allen gehört, sie säen, ernten und verteilen alsdann den Ertrag je nach den Bedürfnissen der einzelnen. Andere Gemeinden wiederum lassen ein zeitweiliges Besitztum der einzelnen zu, das heißt: der Boden wird in so viele Teile geteilt, als Familien bestehen, das Los entscheidet, Die Erträgnisse der Felder jedoch werden wiederum verteilt.«

»Die Bauern in ihrer Einfalt verstehen sich besser auf die Gerechtigkeit, als unsere weisen Gesetzgeber!« rief einer der Zuhörer.

»Gewiß verstehen sie das besser,« erwiderte Wladimir Wassilitsch beifällig, »denn dieselbe Solidarität der Interessen findet sich auch bei unseren Bauern, wenn sie des Winters in den Industriestädten Arbeit suchen. Sie lieben die Assoziation, sie begreifen, daß Maschinen und Werkzeuge nicht der Besitz einzelner, sondern Gemeingut einer Gesellschaft sein sollen. Ihr könnt daraus erkennen, daß die Aufhebung des Grundbesitzes die Negation des Staates bedeutet, mit einem Worte: daß die Anarchie der instinktive Wunsch des russischen Bauern ist.

Es bleibt mir noch einiges zu sagen über die Religion und über die Beziehungen der beiden Geschlechter zueinander. Wir Anarchisten respektieren vor allem die persönliche Freiheit, und die religiöse Frage ist uns gleichbedeutend mit völliger Gewissensfreiheit. Wenn es jemandem einfällt, hundert Kirchen zu bauen und tausend Priester zu unterhalten – wir werden ihn nicht daran verhindern. Ebenso aber werden wir jedem gestatten, den zügellosesten Atheismus zu proklamieren, denn wir zweifeln nicht, daß die Wahrheit, sei sie welche sie wolle, schließlich doch triumphieren wird.

Dasselbe gilt von der Ehe.

Es gibt Individualitäten, die sich für das häusliche Leben eignen, es gibt andere, die, wie der Schmetterling, das Bedürfnis haben, von Blume zu Blume zu flattern. Urteilt selbst: Gesetzt, wir proklamierten die Ehe als dreimal heilig, würden wir damit erreichen, daß sie heilig gehalten wird? Nein! Denn die Entartung, die Frivolität, die Ausschweifungen können gar nicht schlimmer sein, als sie gegenwärtig in unserer modernen Gesellschaft sind. Da also auch die heiligsten Formen nicht die Ausschweifung und Entartung verhindern können, so wollen wir der Liebe Freiheit gewähren. Das Fehlen jeglichen Zwanges wird edle Herzen nicht verderben können, solche Herzen nämlich, die in der Liebe der Frau noch anderes suchen als Befriedigung eines Naturtriebes, das heißt: ein intellektuelles Leben, eine Vereinigung, welche die Veredlung des Individuums, die Gründung der Familie zum Zwecke hat. Wir müssen alle lernen in der Frau ein Wesen zu sehen, das unseresgleichen ist vermöge ihrer Fähigkeiten, ihrer Bestrebungen, ihrer Arbeit. Bald werden alle Mißbräuche verschwinden, die Polygamie wird aufhören, die Vereinigung von Mann und Frau wird als Zweck die regelmäßige Entwicklung aller der Kräfte haben, mit denen die Natur den Menschen begabt hat. Solange aber der Staat existiert, so lange wird die individuelle Freiheit nicht existieren, wird der Fortschritt nicht realisiert werden können.

Setzt hingegen an Stelle des Staates eine Gemeinde von Autonomen. Wie leicht wird es dann für alle sein, ihrem Leben eine gemeinsame Idee zugrunde zu legen. Nur auf diese Weise können die berechtigten Bedürfnisse und Wünsche zum Ausdruck gelangen. Nur auf diese Weise werden wir in dem Verhältnis der Arbeiter zum Kapital, sowie in den Beziehungen des Mannes zur Frau eine Umbildung erreichen. Die Wissenschaft wird in eine neue Phase treten und, wie das gute Beispiel ansteckender wirkt als das böse, wird die Wahrheit triumphieren.

Ich gehe jetzt zu den Mitteln über, die nötig sind, um die Gemeinde der Autonomen ins Leben zu rufen.

Vor allem hat die anarchistische Partei beschlossen, alles daran zu setzen, um in jeder Landgemeinde, jedem Dorfe zehn bis zwölf Anhänger unserer Idee zu haben. Eine Bevölkerung, darin die Anarchie erst einmal Wurzel gefaßt hat, wird bald ganz zu den Unseren gehören. Sind wir erst dahin gelangt, dann wird eine neue Ära über Rußland aufgehen. Der Staat wird gelebt haben und mit seinem Leichnam werden alle sozialen Übel begraben. Dann proklamieren wir die Eidgenossenschaft der autonomen Gemeinden. Zum erstenmal wird dann der Mensch frei sein, frei in der Arbeit, frei in seinen Empfindungen, frei in seinem Gewissen.«

Während dieser Rede wich Wera nicht von ihrem Platz, den sie an einem Tische bei den jüngsten Volksfreundinnen eingenommen hatte. Sie bemühte sich, ihre Erregung zu bemeistern und mit allen Sinnen bei der Sache zu sein. Aber je aufmerksamer sie zuhörte, desto weniger verstand sie, desto unwissender kam sie sich vor. Sie kannte nicht einmal alle von Wladimir gebrauchten Ausdrücke. Sobald von der propagandistischen Arbeit für das Volk die Rede war, horchte sie hoch auf.

Wladimir Wassilitsch fuhr fort: »Aber, Nihilisten, wir haben noch nicht einmal die paar tausend Menschen beisammen, die wir brauchen, um in den verschiedenen Distrikten für uns zu arbeiten. Und wir werden sie vielleicht schwer auftreiben können, denn man muß lange suchen, um den Menschen zu finden, der sich erinnert, was er dem Volke schuldet. Unser Feind dagegen hat eine disziplinierte und bewaffnete Armee zu seiner Verfügung. Während wir nun einerseits sichere Leute aussenden, um Propaganda zu machen, organisieren wir in den Städten und Dörfern Emeuten. Diese Emeuten haben den Zweck, stets eine Art von Gärung zu unterhalten und stets im Volke von uns reden zu machen. Nach meiner Meinung kann die Sache dabei nur gewinnen. – Was willst du, Balkulin?«

Balkulin war der eine Gemäßigte. Balkulin wollte reden und Wladimir Wassilitsch gab ihm das Wort. Er sprach, wie er dachte; ruhig, würdevoll, gemäßigt.

»Ebensowenig, wie ich den Staat will, der jede Individualität tötet, ebensowenig kann ich dieses Emeutensystem billigen. Das dient nur dazu, die Reaktion von seiten des Staates zu verstärken und jede Propaganda auf friedlichem Wege unmöglich zu machen. Wir dürfen weder den blutdürstigen Appetit unserer Feinde wecken, noch Anklagen gegen unser gewalttätiges Vorgehen hervorrufen. Die bis jetzt eingeschlagenen Wege können uns nur schaden, dem Feinde nur nützen. Und glaubt mir: die Emeuten reizen gegen uns auf, nicht nur das Publikum und die gesamte russische Presse, sondern auch die ausländischen Mächte. Um also die Lage der Dinge kurz zusammenzufassen, möchte ich mich dahin aussprechen, daß die von euch angewandten Mittel kein anderes Resultat haben werden, als das unnütze Aufopfern von Menschenleben. Das einzige Mittel, mit dem wir zum Ziele gelangen können, ist die friedliche Propaganda durch Wort und Buchstaben.«

»Keine Bücher, denn das Volk kann nicht lesen,« protestierten einige Stimmen.

»Wir werden es lesen lehren,« rief der Gemäßigte, »Außerdem sorgen wir für mündliche Verbreitung, Und dann – – «

Aber er kam nicht weiter. Ein Tumult entstand. Wladimir Wassilitsch mußte beruhigen, was er mit vieler Klugheit und Umsicht tat.

Darauf begann er: »Balkulin übersieht, daß wir die friedliche Propaganda durchaus nicht ausschließen. Wir betrachten sie sogar als die Hauptsache. Aber neben dieser Propaganda auf dem Lande müssen wir Propaganda in den Städten machen, und dazu sind die Emeuten das beste Mittel. Das Volk liebt Taten. Es wird nur dann Vertrauen zu uns haben, wenn den Worten die Handlung folgt.«

»Aber damit richten wir unsere Bestrebungen zugrunde,« warf Balkulin gelassen ein.

Wera wandte dem Sprecher ihr Gesicht zu; sie wäre am liebsten zu ihm gegangen und hätte ihm die Hand gedrückt oder sich auch nur ruhig an seine Seite gestellt.

»Mißversteht mich nicht,« fuhr der Gemäßigte fort. »Ich fasse die Anarchie auf wie ihr, und glaube an ihren endlichen Triumph. Aber dieser liegt für mich in einer fernen, ungewissen Zukunft. Um den Gedanken der Anarchie zu verwirklichen, muß sie von der ganzen Welt angenommen werden, aus freiem Willen, aus dem menschlichen Antriebe aller. Denn die Anarchie kann nicht durch Gewalt eingesetzt werden. Wie wollt ihr, daß der Bauer von heute, der ganz absorbiert ist von seinem, ihn niederdrückenden Tagewerk, sich zu euren humanen Ideen erhebe? Um die anarchistische Freiheit zu begreifen, muß man frei sein von jedem sozialen und religiösen Vorurteil und außerdem Muße genug für Studien übrig haben. Ich sage euch noch einmal: Was mich betrifft, so halte ich in diesem Augenblicke die Anarchie für unausführbar! wir müssen ihr als Vorgänger erst Reformen vorausschicken.«

»Es ist keine Stunde her,« rief ein Propagandist, »daß ich Landleute sagen hörte: Das, was uns not tut, sind weniger Steuern und mehr Land; haben wir das erst, so wollen wir dem Zaren dienen und ihm zu Hilfe kommen, wenn er uns braucht, vorausgesetzt, daß er auch uns zu Hilfe kommt, wenn wir Mißernten haben.«

»Fragt doch Balkulin, wer seine Reformen herbeiführen soll?« rief Wladimir Wassilitsch.

»Der Zar,« erwiderte Balkulin mit starker Stimme.

Alle tobten und lachten.

Wladimir schrie: »Die Reformen des Zaren? Wir wissen, zu was sie führen. Seht als Beispiel die Aufhebung der Leibeigenschaft, die als Resultat das Proletariat in Rußland hervorrief.«

»Ich stimme mit Wladimir Wassilitsch überein,« meinte der Gemäßigte, »darin stimme ich mit ihm überein, daß die Aufhebung der Leibeigenschaft nur den Herren genützt hat. Aber warum hat sie dem Volke nichts genützt? Weil sie nicht vom Volke ausging, sondern unter dem Einfluß der aristokratischen Partei zustande kam, die nur ihre eigenen Interessen wahrt. Der Adel allein ist das Unglück Rußlands. Laßt den Zaren von edlen Geistern beeinflußt sein, und alle die unter der Regierung Alexanders II. ins Werk gesetzten Reformen werden einen Fortschritt, ein Vorwärtsschreiten nach der freien Zukunft bedeuten.«

– Ein Tumult erhob sich. Alles schrie durcheinander, es gab einen Höllenlärm. Wera sah sich nach Sascha um und entdeckte endlich seine große Gestalt zusammengedrückt in einem Winkel. Des Qualms wegen konnte sie sein Gesicht nicht erkennen; doch war ihr, als ob er zu ihr herüberblicke. Sie nickte ihm zu, ohne eine Erwiderung ihres Grußes zu erhalten. Erschrocken sah sie auf, als sich unter den Frauen ein Mädchen erhob, sichtlich in der Absicht, gleichfalls zu reden. Sie schien viel jünger als Wera, der sie durch ihr leidendes Aussehen längst aufgefallen war. Die arme gebrechliche Gestalt schien kaum Lebenskraft genug zu besitzen, um sich aufrecht zu halten, das Gesicht war von Krankheit und Seelenschmerzen entstellt, überdies hielt sie das einzige, was in diesem wachsbleichen, kummervollen Antlitz schön war, ihre Augen, hinter grünen Brillengläsern versteckt. Ihr tiefschwarzes, ungewöhnlich starkes Haar trug sie rund um den Kopf abgeschnitten, ohne jeden Versuch einer Frisur. Sie ging überaus nachlässig, in grobe Gewänder gekleidet, die eher den Zuschnitt eines Kaftans als den eines Frauenkleides zeigten. Sie hatte weiße, schlanke, vornehme Hände, mit denen sie, wie Wera später erfuhr, die gröbsten Arbeiten verrichtete. Dieses Mädchen hatte sich erhoben und wollte reden; aber ihre matte Stimme verhallte ungehört in dem wüsten Lärm. Sie stand so hilflos da, sie sah so schwach und hinfällig aus, daß Wera jeden Augenblick erwartete, sie umfallen zu sehen, und von heftigem Mitleid ergriffen wurde. Da rief jemand: »Ruhe! Natalia Arkadiewna will reden.« Sogleich trat Stille ein. Das kranke Mädchen wurde das Ziel aller Blicke. Sascha kam aus seiner Ecke hervor, sogar Wladimir trat näher. Wera glaubte zu bemerken, wie Natalia Arkadiewna bei seinem Anblick zusammenfuhr und heftig zu zittern begann. Was hat sie mit Wladimir Wassilitsch, dachte Wera. Sie kann gewiß kein Wort vorbringen, sie wird besinnungslos werden.

Aber Natalia Arkadiewna blieb stehen und begann ihre Rede mit sanfter, klagender Stimme, die Wera zu Herzen drang. Anfänglich vermochte sie nicht zuzuhören, denn ihre Nachbarin teilte ihr flüsternd mit, wer diese Natalia Arkadiewna sei.

»Die Tochter des Geheimen Staatsrats Michael Danilitsch Niklakow und der Fürstin Marsa Jurjewna Leontow. Sie hat sich für das Volk von ihrer Mutter verfluchen und von ihrem Vater verstoßen lassen. Anna Pawlowna nahm sie auf, Anna Pawlowna ist nämlich ihre Tante. Ehe sie krank wurde – ich glaube, sie hat die Auszehrung – soll sie sehr schön gewesen sein. In ihr Haar konnte sie sich bis zu den Füßen einhüllen. Als sie eine der Unseren ward, schnitt sie es ab, verkaufte es und streute den Erlös unter das Volk auf der Straße aus: ›Das ist alles, was ich euch geben kann.‹ Noch vor einem Jahr war sie gesund. Aber sie läßt sich die schwersten Arbeiten auftragen und sich im Winter aufs Land verschicken, um unter dem Volk Propaganda zu machen, immer zu Fuß und ohne Pelz. Wladimir Wassilitsch fand sie einmal beinahe erfroren auf der Landstraße. Die Bauern, die sie gegen ihren Herrn aufreizen wollte, hatten sie geschlagen, daß sie für tot hinsank. Seitdem ist sie so elend. Aber sie läßt sich keine Zeit zum Kranksein und ist eifriger als je. Lange wird sie es nicht mehr machen. Dann kommt eine andere an ihre Stelle. Alt werden wir alle nicht. Entweder verschicken sie uns nach Sibirien oder wir kommen sonst um. Was tut's?«

Natalia Arkadiewna sprach.

»Ich rede im Namen meiner Schwestern und Gesinnungsgenossinnen.

Größer als die Unfreiheit des Mannes ist diejenige der Frau – folglich bedürfen wir einer größeren Erhebung.

Die Zivilisation hat an der Frau Verbrechen über Verbrechen begangen.

Indem man uns für das Haus, für den Herd und den Mann bestimmte, verurteilte man uns zu ewiger Leibeigenschaft. Wohin ein solcher Zustand führt, sehen wir am russischen Volke: es ist ein Volk von Unfreien, von Kreaturen, von geistig Verkrüppelten. Nun wohl: kreaturenhaft, unfrei, geistig verkrüppelt ist auch die Frau. Seit Jahrtausenden wird unsere Gattung durch die Bestimmung, der eine abscheuliche Willkür sie übergab, tyrannisiert, also demoralisiert. Wir verkümmern.

Weil wir nur für die Bequemlichkeit, für die Eitelkeit und die Leidenschaften der Männer da sind, werden alle unsere Organe, unsere Talente und Fähigkeiten nach dieser Richtung hin entwickelt. Das Höchste, was die Frau durch solche Erziehung erreichen kann, ist leibliche Schönheit und Begabung für Haus, Herd und Wiege. Die Frauen sind nicht die Genossinnen der Männer, sondern ihre Putzgegenstände, ihre Haushälterinnen, die Ammen ihrer Kinder.

Wir sind nicht Gattung, sondern Geschlecht, keine Individuen, sondern Geschöpfe. Die Korruption der Frau ist ohnegleichen.

Alle sind wir käuflich, alle sind wir da, um gekauft zu werden. Wir verkommen in Scharen – es braucht durchaus nicht immer auf der Gasse zu sein.

Fort mit der Larve unseres Geschlechts!

Ohne dieselbe werden wir die freien Genossinnen der Männer.

Fordern sie von uns unsere Liebe, so fordern wir von ihnen einen Teil ihrer Arbeit.

Gebt uns von eurer Arbeit!

Ihr habt uns bis an den Rand des tiefsten Abgrunds geschleudert – erhebt uns! Erhebt uns so hoch daß unsere Stirne derselbe Glanz umleuchtet, den ihr bis dahin für eure Häupter allein beansprucht habt: gebt uns die Glorie der allgemeinen Gleichheit.

Ihr schuldet sie uns!

Wie das russische Volk in seiner vielhundertjährigen Knechtschaft ein starkes Volk geblieben, so blieben die Frauen in ihrer vieltausendjährigen Leibeigenschaft ein starkes Geschlecht. Laßt uns euch das beweisen. Eine kurze Zeit der Gleichberechtigung und wir werden euch gleich sein.

Prüft uns!

Verwendet unsere Leidenschaften zu größeren Zwecken; gestattet nicht mehr, daß wir Sklavinnen sind, und wir werden Heldinnen sein. Verbietet, daß wir uns für euch schmücken, und wir werden unser Haar abschneiden, unsern Körper in eine Zwilchjacke stecken und doch von euch schön gefunden und geliebt werden.

Laßt uns euch voranstürmen. Wir werden nicht wanken und nicht weichen. Verfügt über uns!

Sendet uns unter das Volk und laßt uns für die Sache Propaganda machen. Wir tun es mit Wonne. Schickt uns in die Kerker, in die Bergwerke, auf das Schafott. Wir werden glückselig sein. Ich sage euch noch einmal: Weil die Frau am tiefsten gesunken, muß sie sich am höchsten erheben.«

Dieser Rede folgte eine solche Lautlosigkeit, daß man Nataliens rasselndes Atmen vernahm. Als sie auf ihren Stuhl zurücksank, stand Wera vor ihr, sah sie mit leuchtenden Augen an und faßte ihre beiden Hände, die sie heftig preßte.

Natalia Arkadiewna flüsterte: »Wir wollen Freundinnen sein. Komm morgen zu mir. Ich habe dir vieles zu sagen.«

Sie lächelte Wera zu und deutete auf Wladimir, der sich zum Reden anschickte.

Er entwickelte den Revolutionsplan seiner Partei.

Danach löste sich die Sitzung auf, die »Auferstandenen« gingen auseinander.

Das mußte sehr vorsichtig geschehen. Einzeln verließen sie das Versammlungslokal; durch eine Tür und einen Gang, der in die Teestube führte. Wladimir und Sascha waren mit Wera und Natalia die letzten. Sie fanden die Gaststube bereits voller Arbeiter, die ihren Morgentrunk einnahmen; doch bekümmerte sich niemand um sie. Nur die Wirtin, ein großes, stattliches Weib, das sich mitten unter ihren Gästen das prächtige gelbe Haar auskämmte, blickte bei dem Eintritt der viere auf. Wera kam es vor, als sähe die Frau sie böse und feindselig an. Als Sascha an der Wirtin vorüberging, schlug ihm diese mit einem ihrer mächtigen Haarsträhne ins Gesicht, daß es laut klatschte. Sie tat es lachend, doch ihre dunklen Augen funkelten und ihr schöner Mund verzerrte sich. Gleichmütig nickte Sascha der Frau zu: »Du bist heute morgen bei guter Laune, Marja Carlowna. Die Heiligen bescheren dir einen gesegneten Tag.«

»Kommst du diesen Abend herein, Brüderchen?« fragte die Wirtin mit rauher, gebieterischer Stimme. »Es gibt rote Rübensuppe.«

Sascha antwortete nicht, Marja Carlowna begann hinter ihm her zu singen. Es klang wild und drohend.


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