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Fünftes Kapitel.

Noch immer sangen sie in der Kirche. Plötzlich ward es still. Wera schreckte auf. Sie mußte sich erst auf sich und ihre Umgebung besinnen. So war sie; anstatt nach der Kohlsuppe zu sehen, saß sie und legte die Hände in den Schoß; anstatt etwas zu tun, träumte sie. So machte sie es immer.

Hastig steckte sie die geweihten Kerzen an und setzte sie auf den Festtisch. Die Magd kam aus der Kirche zurück. Diese gute Seele hegte gegen die Wirtschaftlichkeit ihrer Herrin starkes Mißtrauen, und die Furcht vor dem Zugrundegehen der Osterleckerbissen beeinträchtigte ihre Andacht dermaßen, daß sie mitten aus dem Gottesdienst fortlief. Bei dem Anblick der eingekochten Suppe und bei angebrannten Gerste stieß sie ein Schmerzensgeheul aus, während Wera wie eine ertappte Verbrecherin daneben stand. Nachdem sich die Magd einigermaßen beruhigt, fiel derselben ein, daß der Krämer von Pokrow ihr in der Kirche einen Brief für ihre Herrin gegeben. Sie zerrte das große Schreiben zerknittert und beschmutzt hervor und begann darauf von neuem zu jammern.

Wera war beim Anblick des Briefes erblaßt, sie zitterte heftig, vor ihren Augen ward es dunkel. Schwankend trat sie zu dem Heiligenschrein, öffnete den Brief, hielt ihn zu den Kerzen hinauf.

Sie hatte längst gelesen und stand noch immer regungslos. Sascha kam, am Osterabend wollte er eintreffen: am Osterabend, heute – –

Sie las wieder und wieder, zuletzt halblaut, um die Osterbotschaft auch zu hören.

Endlich war es ihr deutlich geworden. Sie faltete den Brief sorgfältig zusammen, trug ihn in ihre Kammer und verschloß ihn in ihre Truhe. Dann kam sie zurück, besprach in ihrer gewöhnlichen ernsthaften und ruhigen Art mit der Magd einige wirtschaftliche Angelegenheiten, warf ihr Tuch über den Kopf und verließ das Haus.

Dichter Nebel füllte die Dorfgasse. Um die hell erleuchtete Kirche lagerte ein breiter Streifen rötlichen Dunstes. Wera blickte hinüber. Jetzt feierte auch sie ihr Ostern. Und sie grüßte sich selbst mit dem schönen Ostergrüße: Glückseliges Auferstehen.

Denn sie wußte es – plötzlich wußte sie es: Nur ihretwillen kam er, um sie zu holen! Und sie würde mit ihm gehen, mit ihm lernen, mit ihm arbeiten, mit ihm etwas nützen, etwas helfen, etwas tun! Bei dem bloßen Gedanken daran war es ihr, als würden ihr Fesseln abgenommen, als strömten glühende Lebensfluten in sie ein, als fielen Hoffnungslosigkeit und Schwäche von ihr ab wie ein Gewand, das sie beiseite warf.

Sie erreichte die Steppe. Ringsum wälzten sich die Dunstwellen, schlugen über ihr zusammen, verschlangen sie. Ihr aber war, als wandle sie auf blumigen Fluren unter einem strahlenden Sternenhimmel.

Auf einmal tauchte es dicht vor ihr auf: riesengroß, eine graue, unheimliche Nebelgestalt. Im nächsten Augenblick war sie bei ihm.

»Sascha! Sascha!«

»Wera!«

Sie standen nebeneinander auf der Landstraße, stumm und regungslos. Das Dunstmeer wälzte sich über die beiden Vereinigten.

Wera drängte ihr Gesicht gegen das des Freundes, um so besser seine Züge zu erspähen. Aber Nacht und Nebel bedeckten Saschas Antlitz wie eine Maske.

Langsam kam die Kibitka herbei. Das Schnaufen der ermatteten Gäule klang in der Lautlosigkeit der nächtlichen Wildnis schauerlich wie Gestöhn, Unwillkürlich horchten beide darauf. Sie ließen den Schlitten an sich vorüber und standen wiederum lauschend, bis sie nichts mehr vernahmen. Dann tastete Wera nach Saschas Hand, faßte sie, hielt sie.

»Sechs Jahre warst du fort.«

»Sechs Jahre.«

Wera fuhr zusammen. Wie müde seine Stimme klang!

Sechs Jahre, dachte Sascha verwundert. Er hatte sich die in Moskau verbrachte Zeit noch niemals vorgerechnet. Sechs Jahre, grübelte er und konnte es nicht begreifen. Sechs Jahre – seltsam!

Und seiner Gewohnheit nach, versank er in diesen ihm vollständig neuen Gedanken, Weras Stimme weckte ihn.

»Was hast du in den sechs Jahren getan?«

»Getan?«

Und er wäre vor Erstaunen in dem Worte beinahe steckengeblieben.

»Was sollte ich wohl getan haben?«

Er war ganz betroffen. Ihm fiel ein, daß er oft gehungert hatte, daß er oft verächtlich behandelt worden war, daß er sich vor der Polizei hatte verborgen halten müssen. Es war ihm in den sechs Jahren herzlich schlecht gegangen. Volle zehn Monate hatte er im Gefängnis zugebracht: »Nihilistischer Umtriebe« wegen. Er war darüber ungemein verwundert gewesen, hatte es sich niemals recht zusammenreimen können; denn er hatte nichts getan, durchaus nichts – zu seiner Schande mußte er es sagen. Die anderen »taten« etwas, Wladimir Wassilitsch und – eben die anderen, alle die anderen. Aber er, Sascha, was hätte er wohl tun können?!

Welche sonderbaren Fragen seine Freundin ihm stellte.

Mit stockendem Atem wartete Wera auf Antwort. Schwer und kalt, wie leblos, lag Saschas Hand in der ihren. Plötzlich bückte sie sich und drückte einen leidenschaftlichen Kuß darauf: Er wollte von seinen Taten nicht reden. Daran erkannte sie ihn.

»Was tust du?« stammelte Sascha ganz entsetzt und ihr seine Hand heftig entreißend. Aber aus Wera brach die seit Jahren zurückgehaltene mächtige Empfindung gewaltsam hervor. Als ob die sternenlose Nacht nicht dunkel genug wäre, hielt sie ihr Gesicht von ihm abgewendet, damit er nicht sehe, wie die Scham darauf brannte; denn sie hatte nichts getan!

»Nichts habe ich getan! Gar nichts! Gewartet habe ich, immer gewartet, sechs Jahre gewartet! Wenn ich dem Starosten die Branntweinflasche fortnahm, einem Kinde das Haar kämmte, oder ihm seinen zerrissenen Rock flickte, so war das schon viel getan. Und wie unwissend ich geblieben bin! Denke dir; nicht einmal, daß ich den Kindern heute sagen konnte, weshalb Rußland so lange Winter hat. Nichts weiß ich, nichts nütze ich, mit nichts kann ich unserem armen Volke helfen. Und geholfen muß dem Volke werden. Das steht ja auch in allen den Zeitschriften und Heften, die du mir im ersten Jahre geschickt hast. Ich habe alles gelesen, ich kenne alles auswendig. Es ist wunderschön, es klingt so erhaben und feierlich. Wenn ich es nur besser verstünde – – Sagtest du etwas?«

Er hatte nichts gesagt; er hatte nur geseufzt, tief und schwer. Also: Sie hatte alles gelesen; es war so schön, es klang so feierlich, aber – – aber sie verstand so wenig davon. Das war es ja eben! Und plötzlich dauerte sie ihn, plötzlich wünschte er, nicht gekommen zu sein, oder die weite Reise – nicht aus eigenem Antriebe hatte er sie unternommen, wahrhaftig nicht! – umsonst gemacht zu haben. Aber darin hatte sie recht: dem Volke mußte geholfen werden, dem »armen« Volk, wie sie es nannte. Sie war so gut, so klug und stark.

»Freilich,« murmelte Sascha, »freilich muß dem Volke geholfen werden; wir, die Männer des Volkes, wir müssen dem Volke helfen.« Es war die Redensart, die ihm in den sechs Jahren seines Moskauer Aufenthalts so geläufig geworden, daß er sie oft laut vor sich hinsprach, was ihm stets eine gewisse Befriedigung gewährte.

Mit starker Stimme bekräftigte die Freundin: »Das müssen wir, das ist unsere heilige Pflicht. Es gibt so großes Elend auf der Welt.«

Sascha sah scheu auf die hohe Gestalt an seiner Seite, die der Nebel mit geheimnisvollen Schleiern umwob. Sie war ihm fremd geworden. Ihre Feierlichkeit machte ihn beklommen, ihre Leidenschaftlichkeit erschreckte ihn. Es wird wohl nichts helfen, dachte er. Ich werde sie wohl mitbringen müssen, wie sie mir aufgetragen haben. Du wirst sehr unglücklich werden, aber unglücklich werden müssen alle, die dem Volke helfen wollen. Das ist nun einmal so. Ich bin begierig, was sie tun wird.

»So erzähle mir doch, wie es in Moskau war.«

Sascha mußte sich erst darauf besinnen. Langsam reihte sich Gedanke an Gedanke, langsam Wort an Wort. Er unterbrach sich häufig, stockte häufig. Er gewahrte nicht, mit welcher leidenschaftlichen Spannung ihre Augen an seinen Lippen hingen.

»Wie es in Moskau war? Prächtig! Eine prächtige Stadt! So viele Kirchen und Paläste! Es strahlt alles nur so. Und so viele Menschen! Man glaubt's gar nicht. Wohl an tausend Popen! Und Gouverneure, Staatsräte, Beamten. Das sind mächtige Herren. Sie tun alles was sie wollen. Und das Volk –«

»So sprich doch,« drängte Wera.

»Ja, das Volk – Es ist so hilflos, es weiß so wenig von sich selbst, es ist wie ein Kind, wie ein armes, krankes Kind. Ein krankes Kind kann auch nicht sagen, was ihm fehlt. Da liegt es, das arme, kleine Ding, so – nun eben so hilflos. Weint und wimmert und weiß nicht einmal, warum es wimmert und weint. Man kann es doch nicht so liegen lassen; man muß dem armen, hilflosen Geschöpf doch helfen. Muß man nicht, Wera Iwanowna?«

»Ja, ja ja!«

Sascha sah zu Boden und rieb mit seinen großen roten Händen hilflos die Ellbogen. Nach einer Weile stieß er hervor: »Und muß man das Volk wohl verachten?«

»Wer verachtet es?«

»Alle verachten es! Alle, die dem Volk helfen sollten – die dem Volk helfen könnten. Sie kennen es eben nicht. Wie sollten sie auch? Sie wissen nichts vom Volk, nichts von seinem Leben, nichts von seiner Seele. Es hat nicht einmal eine Sprache für sie. Es ist tot für sie, schlimmer als tot; denn sie verachten es! Sie verachten das stumme, kranke, hilflose Kind, das ihnen nichts sagen kann von seinen Schmerzen. Sie knechten es. Und wenn es dann seine Hände regt und ihnen sagt, daß es frei sei, so werfen sie es in die Gefängnisse, so verschicken sie es nach Sibirien in die Bergwerke und Gruben: Mann und Weib. Sie machen das Volk schlecht und träge, kriechend und heuchlerisch, elend und niederträchtig, und dann – dann verachten sie es.«

Er sprach ganz beredt. Wera lauschte wie auf die Verkündigung eines Evangeliums. Eine tiefe Zuversicht überkam sie, eine feste Hoffnung, ein unerschütterlicher Glaube.

Mit erstickten Tränen in der Stimme, bat sie: »Sprich weiter.«

Die Finsternis und Weras Nähe gaben Sascha ein Gefühl der Sicherheit und Ruhe, wie er es vorher noch niemals gekannt. Auch hatte man ihn noch niemals um seine Meinung befragt; noch niemals war es jemandem eingefallen, Sascha als einen Menschen zu betrachten, der auch eine Meinung besitzen könnte. Sechs Jahre hindurch hatte er »helfen« wollen und »nichts getan, gar nichts« – sechs Jahre hatte er darüber nachgedacht und geschwiegen. Nachdem nun das erste Wort gesprochen, kam es über ihn wie eine Befreiung.

»Sie haben uns immer verachtet. Sie haben uns verachtet, wo sie uns hätten beweinen sollen – jawohl, beweinen! Aber sie dachten: ist das Volk zum Schinden da, so taugt es auch zum Schlachten. Und sie schlachteten es. Arme, dumpfe, stumpfe Masse, die sich in den Tod treiben ließ! War dann in den Kriegen unser Blut geflossen, daß man damit Rußlands Schneefelder hätte fortspülen können, so durften die Übriggebliebenen wieder in ihre Dörfer zurück-* kehren, so durften sie ihre vom Feinde eingeäscherten Häuser wieder aufbauen, sich vom Edelmann wieder ins Joch spannen, sich von der Knute wieder blutig peitschen lassen, wenn sie etwa murrten. Indessen sie murrten nicht. Aber geschlagen wurden sie doch! Nicht allein die Hunde haben traurige Augen – traurige Augen hat auch der russische Bauer. In seinen traurigen Augen ist es zu lesen, darin steht alles. Aber sie, die Klugen und Weisen, die alle Sprachen der Welt verstehen, können es nicht lesen: die stumme Sprache des Volles kennen sie nicht; sie verstehen nicht, daß die »Seelen«, wie sie uns nannten, auch wirklich Seelen besitzen. Wir sollen frei sein. Warum lassen sie uns dann nicht auch frei handeln? Weil wir zu stumpf sind. Warum sind wir zu stumpf? Weil wir bei lebendigem Leibe dem Leben abgestorben sind. Wir haben zu viel erduldet. Damit ist alles gesagt.«

»Alles!« hallte es wie ein dumpfes Echo tonlos zurück.

Doch Sascha sprach weiter. Er hätte jetzt gesprochen und wäre es heller Tag gewesen, und hätte ihm nicht nur Wera, sondern das ganze Volk zugehört.

»Es geht manches vor in Rußland, aber das russische Volk weiß nichts davon. Wozu braucht es auch etwas davon zu wissen? Was geht es das Volk an, ob man es retten oder noch mehr verderben will, ob man es liebt oder haßt. Aber trotzdem das Volk nichts davon weiß, wartet es. Es wartet immer. Es wartet seit Jahrhunderten. Worauf wartet es? Auf Befreiung. Aber die Befreiung ist ja gekommen. Es gibt in Rußland keine Leibeigenen mehr, das russische Volk ist frei! Geht und fragt das russische Volk danach. Viele werden gar nichts davon wissen. Und haben sie sich darauf besonnen, werden sie schnell in die Schenke laufen und so lange Branntwein trinken, bis sie ihre Freiheit im Rausch wieder vergessen. Denn das Volk weiß nicht, was es mit seiner Freiheit anfangen soll. Es hat während der langen Knechtschaft verlernt, frei sein zu können. Also müssen diejenigen, die das Volk kennen und lieben, es das Volk lehren.«

Wieder vernahm Sascha jenes dreimalige feierliche, gelobende Ja! Er tat einen tiefen Atemzug und fuhr fort: »Denn ist es einst ein starkes Volk gewesen, so kann es das auch wieder werden. Und das bezweckt ja wohl auch die Regierung. Aber die Regierung kennt das Volk nicht. Wie sollte sie auch? Deshalb müssen Männer und Frauen aus dem Volk es vollbringen, indem sie zum Volke reden in der Sprache, die das Volk versteht. Denn noch immer ist es ein junges, starkes Volk, was es dadurch beweist, daß es noch immer wartet, immer noch hofft. Es ist ein kindliches Volk. Und Jugend hat unverwüstliche Lebenskraft. Laßt uns nur erst wissen, daß auch wir Geschöpfe sind, gleichberechtigt mit anderen Geschöpfen, Menschen, geschaffen nach dem Ebenbilde Gottes. Laßt es das Volk nur erst wissen, und es wird seinen gebeugten Rücken wieder aufrichten. Seine Augen werden zum Himmel sehen. Es wird nicht mehr vor den Augen seines Herrn zittern und kriechen, um hinter dem Rücken seiner Feinde zu knirschen und Rache zu schwören; sondern es wird lieben und glauben und vertrauen. Es wird an sich selber erfahren, daß ein Volk etwas Großes und Starkes sein kann. Wir müssen das Volk mit seinen natürlichen Feinden versöhnen; wir müssen zwischen Volk und Gesellschaft vermitteln, die einen zu den anderen führen, die einen lehren, die anderen zu verstehen und zu würdigen. Wir müssen im Volke das Gefühl seiner Würde wecken, damit Gesellschaft und Regierung vergessen zu verachten und lernen zu achten. Alle, die wir vom Volke sind, müssen zusammentreten, müssen es unterrichten und erheben, damit nicht wahr werde, was sie sagen, daß Rußland, wie es keine Vergangenheit und keine Gegenwart habe, so auch keine Zukunft haben werde. Das Volk muß unserem Lande seine Zukunft bringen und wir alle müssen dabei helfen.«

Er schwieg erschöpft. Seine Lippen zuckten, Tränen standen in seinen Augen.

»Daß du so reden kannst!« war alles, was Wera zu erwidern vermochte. Und leise setzte sie hinzu: »Daß ich dich verstehen kann!«

»Was verstündest du nicht? Das sagte ich auch den anderen, in Moskau. Ich sagte ihnen: Wera Iwanowna ist ein kluges Mädchen, klug und stark.«

»Wem sagtest du das in Moskau von mir?«

Sie war stehengeblieben. Sascha fühlte ihren Blick, der in seiner Seele zu lesen schien; es war ein Blick, vor dem keine Lüge bestand.

Er antwortete langsam und mühsam: »Wem ich das in Moskau von dir gesagt habe? Nun, eben den anderen. Wera Iwanowna ist stark, sagte ich ihnen. Sie kann alles, was sie will, und sie will alles. Ich kenne sie. Dann geh und hole sie, befahlen sie mir. Wir brauchen starke Frauen. Ich ging und – nun, und da bin ich.«

Eine ganze Weile erwiderte sie nichts darauf: sie war zu ergriffen. Dann rief sie leise seinen Namen: »Sascha.«

Er fuhr zusammen: »Ja,«

»Ich wußte, daß du kämst, mich zu holen,«

»Das wußtest du?«

»Du sollst mich mit dir fortnehmen nach Moskau, ich soll etwas lernen, etwas tun, etwas helfen! O Sascha, Sascha!«

Aus ihrer Stimme klang ein solcher erstickter, schwer unterdrückter Triumph, ein solcher Jubel, daß ihn ein Schauer überlief. Sollte er es ihr sagen, sollte er sie warnen: Geh nicht mit! Du darfst nicht auch verdorben werden! Aber ihm war befohlen wurden und er mußte gehorchen. Gehorchen – das war alles, was er tun konnte.

»Aber du sagst ja nichts. So sage mir doch, wer dich zu mir geschickt hat.«

»Die Unseren. Du wirst sie kennen lernen. Sie sind es, welche die Bücher schrieben und druckten, die ich dir heimlich geschickt habe. Sie heißen die ›Auferstandenen‹. So nennen sie sich selbst.«

Ein Ausruf des Erstaunens, des Entzückens entfuhr Wera. Aber Sascha fühlte sich von neuem heftig beunruhigt. Wenn sie nur bleiben würde, wenn er sie nur zurückhalten könnte!

»Die Auferstandenen, das ist ein schöner Name, ein heiliger Name,« sagte Wera leise. »Die Auferstandenen.« Ihre Stimme bebte.

»Sie heißen auch die Nihilisten – so werden sie von den anderen genannt. Es sind schrecklich gescheite Köpfe darunter, wahre Hitzköpfe, Wladimir Wassilitsch ist der erste und wildeste. Das ist ein mächtiger Auferstandener, ein gewaltiger Nihilist! Es soll jetzt viel vor sich gehen.«

»Was? Was?«

Sascha zauderte mit der Antwort. »Ich weiß es auch nicht recht,« meinte er endlich verdrossen und erklärte dann aufrichtig, »sie sagen mir nämlich nicht alles. Ich glaube sie trauen mir nicht ganz; ich fürchte, sie mißachten mich etwas. Ich habe ja auch noch gar nichts tun können. – – Da fällt mir ein: Nihilisten kommt aus dem Lateinischen. Das Wort heißt nihil und bedeutet: nichts. Die Nihilisten sind Menschen, die nichts bestehen lassen wollen, die an nichts glauben. Es ist jedoch nicht so schlimm.«

»An nichts glauben, Sascha? Sie sollten an nichts glauben und sie wollen dem Volke helfen? Sie müssen aber doch an das Volk glauben und daß sie diesem etwas Gutes tun? Es wird gewiß anders sein, sicher irrst du dich. Wie könnte ein Mensch an nichts glauben?«

»Vielleicht irre ich mich,« gab Sascha in tiefer Niedergeschlagenheit zu. »Wenn du mitkommst, wirst du selber sehen, daß alles anders ist, als ich dir sagen kann. Du brauchst aber nicht mitzukommen – wenn du nicht willst. Einer allein kann freilich nichts ausrichten, dazu sind ihrer viele nötig; und wo viele sind, muß der einzelne gehorchen. Der einzelne muß hoffen und vertrauen und – du hast recht: und glauben. Ach, Wera, wir beide sind so unwissend, so hilflos; ganz wie das russische Volk. Wer zeitlebens in der Steppe gelebt hat und dann plötzlich herauskommt und dann plötzlich zu begreifen anfängt – – Alles ist Wirrwarr! Wirrwarr! Du wirst es auch erfahren. Aber vielleicht kommst du doch nicht mit?«

»Der einzelne kann nichts ausrichten,« entgegnete sie ihm mit seinen eigenen Worten.

Sie schwiegen beide. Es war kälter geworden, der Nebel hatte sich zum Reif verdichtet. Durch die Dunstschicht brach siegreich ein strahlender Sternenhimmel. Wie ein wunderbares Metallgewölbe, das mit zahllosen Brillanten besetzt war, leuchtete es auf die Weiße, glanzbebeckte, feierliche Landschaft nieder. Der gefrorene Schnee sprühte buntglitzernde Funken, die Stämme der Birken glichen Kristallsäulen mit einem phantastischen Aufputz von ungeheuren weißen Straußenfedern. Wo soeben, einer Feuersbrunst gleich, der Vollmond aufstieg, schob sich am Horizont eine goldig schimmernde Nebelwand empor.

Gleich fühlbaren mystischen Wesen ruhten die Öde, die Unendlichkeit, die Lautlosigkeit über der Steppe.

Während die rote Riesenkugel des Mondes langsam, langsam aufschwebte, überkam es Wera wie eine Vision...

Vor ihren Augen wandelte sich das wilde, winterliche Land zu einer blühenden Gegend; unabsehbar dehnten sich Felder und Gärten, jede Scholle strotzte von Fruchtbarkeit. Der Boden schüttete alle seine Schätze aus über Rußland. Es war ein Verschwenden, ein Vergeuden der köstlichsten Gaben.

Wie ein Hymnus brauste durch das lachende Land der Ruf: »Die Freiheit des russischen Volkes!«

Wera ward vom Schwindel erfaßt. Sie schloß die Augen, sie taumelte. Als sie wieder aufsah, stieß sie einen Schrei aus.

Versunken war das schöne Bild, eine entsetzliche Wildnis starrte sie an, das einzig Lebende darin waren zwei menschliche Gestalten. Kettenbeladen schwankten sie dahin und eine ersterbende Stimme seufzte: »Das leiden wir für die Freiheit des russischen Volles.«

Da wandte das eine der beiden einsamen Geschöpfe sich um und Wera sah – ihr eigenes Gesicht.

»Was ist dir? Warum schriest du so auf?«

Sie kam wieder zu sich.

»Es ist nichts, O Sascha, Sascha! Was ist dies für ein feierlicher Tag. Ich bin so dankbar, so glücklich!«

»Du willst mit mir gehen?«

»Ich will mit dir gehen.«

»Du wirst viel leiden müssen.«

»Ich will viel leiden.«

»Du mußt gehorchen, blindlings gehorchen. Wirst du das können?«

»Ich werde es können.«

»Du mußt alles tun, was sie von dir fordern; hörst du wohl? Alles! Ohne Wort, ohne Gedanken – –«

»Ich will alles tun.«

»Bedenke auch das: Staat und Regierung sind sehr hart gegen uns. Sie nennen uns Verbrecher und Missetäter, sie werfen uns ins Gefängnis, sie verurteilen uns zum Schafott, sie verschicken uns nach Sibirien und in die Bergwerke!«

»Sie sollen mich nach Sibirien schicken – auf das Schafott.«

Wiederum ein langes Schweigen. Mehr und mehr überflutete das Mondlicht die Steppe. Es war ein Flimmern und Schimmern, ein Strahlengeriesel, als zerflössen Erde und Himmel in dem Glanz. Bereits lag Eskowo dicht vor ihnen; die Lichter des Dorfes funkelten gleich großen Rubinen.

Da nahm Sascha seinen ganzen Mut zusammen. Er fühlte sein Herz hämmern, und das Blut gegen die Schläfen dringen. »Etwas muß ich dir noch sagen.«

Aber er schwieg. Sobald er an sie dachte, versetzte es ihm den Atem. Und er sollte Wera jetzt ihren Namen nennen.

»Was mußt du mir noch sagen?«

»Unsere Herrin – Anna Pawlowna – du weißt doch – – «

Doch sie wußte nicht. Sie fragte ihn und er mußte antworten.

»Anna Pawlowna gehört seit kurzem auch zu den unseren.«

Daß der Mond gerade so hell scheinen mußte! Sascha zog den Kragen seines Rockes noch höher, drückte seine Kappe noch tiefer in die Stirn: es war so grimmig kalt.

»Zu den Unseren – – Anna Pawlowna?«

Sie verstand ihn nicht; er mußte es ihr erklären.

»Viele Edelleute gehören zu den Unseren – ganz heimlich, verstehst du. Das ist sehr gut für uns, das nützt unserer Sache sehr. Diese verachten das Volk nicht mehr – im Gegenteil. Ja, so ist es.«

Wieder versuchte sie in sein Gesicht zu spähen. Da bückte er sich. Aber auf der Steppe wuchsen jetzt keine Blumen.

»Die verachten das Volk nicht mehr? O Sascha, Sascha!«

Warum sagte sie das so klagend, so zweifelnd? Glaubte sie ihm nicht, oder mißtraute sie jenem? Das wäre sehr unrecht von ihr, sehr unrecht! Er wurde fast heftig.

»Anna Pawlowna ist edel. Sie tut sehr viel für die Sache, wir müssen ihr sehr dankbar sein.«

»O Sascha! Sascha!«

Es war nicht mehr eine Klage, es klang wie eine Anklage. Das Blut stieg ihm zu Kopf.

»Wenn du an Anna Pawlowna zweifelst, so ist es besser, du bleibst hier. Das wird überhaupt am besten für dich sein; denn du mußt nämlich wissen, daß Boris Alexeiwitsch auch einer der Unseren ist.«

Er sagte es ihr so ins Gesicht hinein, es kam ihr so unerwartet, daß sie nicht wußte, wie ihr geschah: Boris Alexeiwitsch auch einer der Ihren!

Sie erwiderte nichts. Sie war so verwundert, so betroffen, daß sie es nicht einmal zu begreifen versuchte. Sascha wurde plötzlich ganz redselig.

»Er ist ein ganz anderer geworden, gar nicht mehr stolz und hochmütig, ein prächtiger Junge! Er liebt das Volk, er will das Volk kennen lernen, er will dem Volke helfen. So ist es.«

»Er liebt das Volk, er will das Volk kennen lernen, er will dem Volke helfen. Wer? Boris Alexeiwitsch?« Sie rief den Namen ganz laut und verstummte erschrocken. Gern hätte sie ihn wieder gewarnt: »O Sascha! Sascha!« Aber es wollte ihr diesmal nicht über die Lippen.

»Er war es, der den anderen zuerst sagte, sie sollten mich zu dir schicken und dich nach Moskau holen lassen.«

Er war es? Weras Gedanken verwirrten sich.

»Aber du kannst ja bleiben. Es ist gewiß am besten, wenn du bleibst.«

»Warum?«

Sie stieß es so feindselig heraus, sie war so beleidigt, daß er keine Erwiderung wagte.

»Tut es dir leid, daß du gekommen bist?«

Jetzt war an ihm die Reihe klagend, fast anklagend zu sagen: »O Wera, Wera!«

»Welches Recht hat Boris Alexeiwitsch, nach mir zu schicken, welche Pflicht hast du, Boris Alexeiwitsch zu gehorchen?«

»Ich sagte dir ja, gehorchen müssen wir alle; gehorchen mußt du auch.«

»Boris Alexeiwitsch?«

Ihre Stimme klang heiser.

»Gehorchen muß auch Boris Alexeiwitsch, wenn über ihn verfügt wird.«

»Wer verfügt über ihn?«

»Das Komitee der ›Auferstandenen‹. Er brachte es beim Komitee nämlich in Anregung, daß man dich holen lassen möchte – – Also du willst wirklich mitkommen?«

»Ich will,« rief Wera laut und feierlich wie ein Gelöbnis.

Da wandte Sascha ihr sein Gesicht zu. Der Mond beschien es, entsetzt starrte sie ihn an

»Sascha!«

Er fuhr zusammen.

»Wie siehst du aus? So verändert!«

Sascha konnte darauf nichts entgegnen, denn eben betraten sie die Dorfstraße. Der Gottesdienst war zu Ende. Aus der Kirche strömte es hervor, ein Gewimmel von Lichtern. Alles fiel sich in die Arme, alles küßte sich.

»Glückseliges Auferstehen!«

»Glückseliges Auferstehen!«

Sie blieb stehen, umfaßte den Freund mit beiden Armen und küßte sein bleiches, entstelltes Gesicht.


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