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Einunddreißigstes Kapitel.

Wera fand das Haus offen, aber alles darin dunkel und öde. Während sie sich durch den Gang nach dem Arbeitszimmer tastete, dachte sie an das friedliche Haus in Dawidkowo, an seine dunklen Efeuwände, an das hübsche bunte Zimmer, wo das Mütterchen saß und vielleicht gerade bitterlich über eine Geschichte weinte, während durch das offene Fenster Flieder und Narzissen hereindufteten.

Sie trat in das Arbeitszimmer und rief leise nach Tania. Niemand antwortete. Im oberen Stockwerk hörte sie Colja singen; vielmehr einige schluchzende, gurgelnde, gellende Töne ausstoßen, die Gesang bedeuten sollten. Wera stand und lauschte. Noch niemals waren ihr die Lieder des russischen Volkes so tot-traurig vorgekommen.

Ein Gefühl von Vereinsamung, wie sie es bis dahin nicht gekannt hatte, überkam sie und preßte ihr das Herz zusammen. Ist es möglich, daß der Mensch sich so allein fühlen kann? dachte sie. Die Gestalten von Sascha und Tania, von Natalia Arkadiewna und Grischa traten vor sie; aber ihr war, als sei sie für immer von ihnen geschieden, als könne sie dieselben niemals wieder erreichen. Was hatte sich zwischen sie und ihre Freunde gedrängt? Nichts war geschehen und doch kam ihr die Welt so finster und verödet vor, wie das Zimmer, in dem sie sich befand.

Sie wollte Licht anzünden und Colja rufen, unterließ jedoch beides und trat an das Fenster.

... Morgen fange ich meine Tätigkeit an, morgen gehe ich zu Anna Pawlowna. Dort wird Boris Alexeiwitsch sein. Was habe ich mit ihm gemein? Er und ich gehen getrennte Wege. Wir können nicht einmal miteinander reden, denn wir verstehen uns nicht. Das ist traurig. Es können also zwei Menschen dieselbe Sprache sprechen und doch nie etwas voneinander erfahren; das Volk nie etwas von denen, die das Glück des Volkes in Händen haben. Aber Sascha meint, daß sie uns kennen lernen wollen. Das müssen sie, sonst ist keine Hoffnung, nicht für sie und nicht für uns. Aber wie soll das geschehen? Wie soll Anna Pawlowna jemals Sascha verstehen, wie Boris Alexeiwitsch jemals mich ober ich ihn?

Und wie soll ich von morgen an leben? Was soll ich tun, reden, denken? Ich soll Anna Pawlowna bewachen und ihr zugleich Vertrauen für mich einflößen? In ihrem eigenen Hause soll ich sie belauern; als ihr Gast, dem sie Gutes erweist, der sich von ihr Gutes erweisen läßt, und sie dann verraten. – – Es ist schändlich! Aber wenn sie das Volk verrät, muß es doch wohl das Rechte sein, überdies wird es mir geboten. Und dann geschieht es für das Volk! Könnte ich nur das begreifen: Unsere Sache ist so gerecht, daß daran nicht zu rühren ist. Warum können wir unsere Sache nicht durchfechten, ihnen allen frei ins Gesicht? Aber freilich, sie sind so ungerecht, daß sie uns zwingen, mit unserer Sache im verborgenen zu bleiben. Dann hilft es nichts, dann muß es über sie kommen. Wir aber sind schuldlos daran ...

Während sie so mit ganzer Seele kämpfte, ergriff sie plötzlich eine heiße Sehnsucht nach dem Gebet, das ihr etwas vollständig Fremdes geworden war. Der Jammer, mit gebundenen Händen dem Elend des Volkes zusehen zu müssen, hatte ihre religiösen Empfindungen gelähmt. Nun war sie aus ihrem dumpfen Leben in der Heimat herausgerissen worden, nun strömten die Eindrücke wie Fluten auf sie ein, nun wurde ihr ganzes Wesen wie von einem Sturm aufgerüttelt. Sie fühlte sich haltlos und suchte in ihrer Angst nach der Hand, die sie fassen konnte.

Sie hob ihr Gesicht, drückte die Hände gegen die Brust, murmelte, flüsterte.

Aber es wollte nichts helfen. Sie betete Worte, nichts als Worte. Mitten im Satze hörte sie auf, von dem entsetzlichen Bewußtsein durchzuckt, daß sie nicht mehr zurück konnte; die Heilkraft des Gebetes verschloß sich ihr, das Gebet versagte seine Kraft; Gott hatte sie verlassen, wie sie sich von ihm abgewendet hatte.

Was blieb ihr übrig?

Der Glaube an den Jammer der Menschheit!

So sollte Wladimir doch recht haben, daß der Nihilismus keine Theorie ist, sondern eine Religion; wer ihn ausübt, kann keinen anderen Glauben neben diesem anerkennen.

Aber wie heißt der Gott dieses Kultus? Es war ein abstrakter Begriff: Gleichheit, Glück, Genuß – –

Sie fühlte sich von Entsetzen gefaßt, ein Schwindel ergriff sie, so daß sie niedersank. In diesem Zustande halber Bewußtlosigkeit bemerkte sie die Nähe eines Menschen, eines Mannes, und daß jemand sich über sie beugte. Sie wollte aufspringen, fuhr aber nur wie im Krampfe zusammen. Dann hörte sie dicht an ihrem Kopfe flüstern: »Sie sind unglücklich, Wera Iwanowna, Sie suchen Trost und Hilfe und finden keine. Und unglücklich bin auch ich, auch ich suche Trost und Hilfe und finde keine. Wir gleichen uns, wir passen zusammen. Aber Sie sind rein, gut und edel. Das bin ich nicht. Wenn Sie wüßten, wie ich bin, würden Sie vor mir zurückschaudern. Sie sollen es wissen. Aus Ihrem Munde will ich erfahren, ob Gott mir barmherzig sein kann. Hören Sie.«

Er erwartete, daß sie aufstehen, daß sie ihn fortweisen würde. Aber sie machte keine Bewegung, es lag über ihr wie eine Erstarrung. Dabei wußte sie mit vollkommener Deutlichkeit: es ist Boris Alexeiwitsch, der neben dir steht, Boris Alexeiwitsch, vor dem du dich hüten sollst, der dich haßt – der einer der Unseren geworden ist. Er flüstert dir zu mit seiner sanften, weichen Stimme. Er sagt dir, daß er schlecht sei, daß Gott ihm barmherzig sein möge, Gott sei mir barmherzig! Ich kann ihm nicht helfen.

Dann horchte sie gespannt, was er ihr sagen würde.

»Wenn Sie wüßten, was für ein entsetzlicher Mensch ich bin; ich schäme mich vor mir selbst. Ihre reine Seele vermag nicht, sich vorzustellen, wie es in der Welt zugeht. Keiner darf dem anderen trauen. Jeder belügt den anderen. Trauen Sie niemandem; auch mir nicht. Es kann von mir nur Unheil kommen, obgleich ich den besten Willen habe – – «

Er schwieg und holte schwer Atem.

Gott weiß, wo das hinaus soll, dachte er, aber den besten Willen habe ich wahrhaftig. Er fühlte seine Augen feucht werden. Was ist das? Ich weine ja wohl? Wäre ich am Ende doch ein besserer Mensch, als ich selbst weiß? Und er fuhr mit bewegter Stimme fort: »Glauben Sie, daß ein Mensch sich bessern kann, wenn er den Willen dazu hat? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, daß ich mich sehr unglücklich fühle. Wie sagten Sie vorhin in Ihrem Selbstgespräch? Sie wären nicht würdig zu glauben? Ach, Wera Iwanowna, ich bin nicht einmal würdig, zu lieben. Das ist entsetzlich, nicht wahr? Auch habe ich noch niemals geliebt; es war immer etwas anderes, etwas, wovon Sie keine Ahnung haben.«

Und er unterdrückte ein Schluchzen.

Jetzt stand Wera auf, Boris sah, welche Anstrengung es sie kostete. Sie lehnte sich gegen die Wand und wandte ihm ihr Gesicht zu.

Warum sieht sie mich so entsetzt an? dachte er. Sollte ich mich getäuscht haben? Aber sie ist so schön, daß ich um ihretwillen wollte, es wäre alles wahr, was ich gesagt habe. »Aber so reden Sie doch,« sprach er laut. »Mein Gott, was ist Ihnen? Habe ich Sie erschreckt?« Sie schwieg immer noch.

»Wenn Sie befehlen, will ich gehen.«

Damit wandte er sich der Tür zu. Da endlich sprach sie; Boris hörte es ihrem Atem an, wie schwer es ihr wurde.

»Boris Alexeiwitsch, warum haben Sie mir das alles gesagt, mir, die Sie mich im Grunde Ihres Herzens verachten?«

»Ich Sie verachten? Ich verehre Sie!«

Aus seinem Tone klang eine solche Überzeugung, eine solche Ergriffenheit, daß Wera erbebte. Mit klangloser Stimme fuhr sie fort: »Sie verachten das Volk, dem Sie doch Hilfe versprechen; Sie spielen mit ihm, und wenn es nicht mit sich spielen lassen will, heben Sie Ihre Hand und schlagen dem Volk ins Gesicht. Wie sollten Sie sich da beglückt fühlen können? Beglücken Sie doch nicht.«

»Bessern Sie mich!«

»Ich?!«

»Sie können es, Sie allein!« Er wandte sich ihr zu und sah ihr fest in die Augen.

»Sie allein können es,« wiederholte er leise und eindringlich. »Versuchen Sie es mit mir. Machen Sie aus mir einen Menschen, der würdig ist, daß er lebt. Ich bin ein schlechter Mensch, der sich bessern möchte. Noch niemals in meinem Leben habe ich so zu einer Frau gesprochen. Wenn Sie mich nicht anhören, wenn Sie sich von mir wenden, so ist es um mich geschehen. Nun tun Sie, was Sie wollen.«

Er sah ihren Kampf und wußte genau, daß sie unterliegen würde, unterliegen, nicht weil sie schon jetzt ihn liebte, sondern weil sie an ihn glaubte, weil er sie dauerte. Aber er hatte kein Erbarmen mit ihr, übrigens war es keine Lüge, noch nie hatte er so zu einer Frau gesprochen.

Als bald darauf Wladimir mit Sascha und Tania ins Zimmer trat, ging Wera ihnen entgegen und sagte, auf Boris Alexeiwitsch deutend: »Er wird Teil an allem nehmen, was wir vollbringen. Vertraut ihm.«


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