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Erstes Kapitel.

In Eskowo, einem nordrussischen Steppendorf von etwa dreihundert Einwohnern – noch bis vor kurzem hieß es »Seelen« – rüstete man das Osterfest des Jahres 1879. In den Häusern, elenden Baracken aus Birkenstämmen und Lehm, wurden ernstliche Reinigungsversuche unternommen; man schaffte den Kot hinaus und ließ den Schmutz liegen. Nur die »heilige Ecke« erfreute sich einiger Sauberkeit. Dort war der Boden wenigstens trocken und zum Überfluß sogar mit Buchs bestreut, den die Kinder unter lautem Jubel aus dem Schnee gegraben hatten. Das Heiligenbild selbst, dessen Antlitz mit starren, braunen, byzantinischen Zügen feierlich genug aus seiner Umrahmung von getriebenem Kupfer hervorsah, schmückten Birkenreiser, mit langen Streifen farbigen Papiers und Goldschaum behängen. Geweihte Kerzen brannten davor.

Schon stand in der Nähe des gewaltigen Ofens die Ostertafel gerichtet. Sie war gedeckt mit buntsäumigem Sonntagslinnen, dicht besetzt mit bemalten hölzernen Tellern, Schüsseln und Krügen, schwer beladen mit Festspeisen; gedörrten und gesalzenen Fischen, geräuchertem und gebratenem Fleisch, Steppenhühnern, Hasenpastetchen, eingemachten Schwämmen, Gurken und Backwerk aus Honig und Anis. Ein stattliches Tonfäßchen enthielt den vielgeliebten Kwaß, im Ofen kochte die Kohlsuppe und die mit Pfeffer gewürzte Grütze, brieten die Piroggen.

Vom frühesten Morgen an wurden die beiden Badestuben des Dorfes geheizt. Jung und alt nahm Dampfbäder. Wer zu den Honoratioren von Eskowo gehörte, bewies seine Ansprüche auf Ansehen dadurch, daß er sich kräftig mit Birkenruten streichen ließ. Von Zeit zu Zeit sprang die Tür des Badehauses weit auf, eine Dampfwolke quoll heraus, aus der sich eine Schar nackter Kinder entwickelte. Schreiend liefen sie auf die Gasse, wälzten sich im Schnee und stürzten dann, rot wie gesottene Krebse, wieder zurück in die Glut.

So trieb man es bis zum Abend. Dann gingen die Leute heim und legten die Festkleider an; die Männer den sonntägigen Schafpelz, die Frauen und Mädchen ihre schönen und feierlichen weißen Wollengewänder. Sie trugen reichen Schmuck und auf dem Kopf glänzte der Powoinik wie ein Diadem.

Am Abend saß Wera Iwanowna, die Tochter des Starosten, von Kindern umringt in der väterlichen Hütte. Während sie Mädchen und Knaben das Haar kämmte, versuchte sie, ihnen begreiflich zu machen, weshalb in Rußland so lange Winter sei. Die Kleinen prangten bereits in ihren Festkleidern und harrten ungeduldig des Augenblicks, wo sie aus der Abendschule entlassen werden sollten. Darauf würde alsdann jedes sein Licht anzünden und alle gemeinsam in die Kirche ziehen, deren Fenster bereits hell erleuchtet durch die Winternacht strahlten. Doch hatten die Kinder das junge Mädchen mit dem ernsten, schönen Gesicht viel zu lieb, um sich nicht alle Mühe zu geben, ihre Ungeduld zu bemeistern und aufmerksam zuzuhören.

Wera sprach mit tiefer, weicher Stimme, oft stockend und abbrechend. In ihrem Wesen lag etwas seltsam Befangenes, zugleich Feierliches. Als das letzte der Kinder mit möglichst glattgekämmtem Kopf vor ihr stand, faltete sie die großen, weißen Hände im Schoß und sah darauf nieder: So konnte sie besser reden.

»In anderen Ländern, meine Lieblinge, ist's jetzt bereits Frühling, in anderen Ländern blühen jetzt auf den Wiesen bereits Primeln und Veilchen und die Birken haben längst Blätter. Bei uns ist's immer noch Winter.«

Sie schwieg, hob den Kopf und sah mit müdem, verschleiertem Blick zum Fenster hinaus auf die öde, winterliche Landschaft.

»Warum ist's bei uns immer noch Winter?«

Wera wandte ihr Gesicht dem kleinen Frager zu. Sie antwortete mit einem Seufzer; dann besann sie sich: »Weißt du das nicht mehr? Wer von euch hat es sich besser gemerkt?«

Eine Weile allgemeines Schweigen; dann streckte ein kleines rothaariges Mädchen den Arm in die Höhe.

»Ich weiß es.«

»So sag's.«

»Weil – weil – –«

Die Kleine schien rettungslos ins Stammeln zu geraten; aber plötzlich fiel es ihr ein: »Weil bei uns Rußland ist,« deklamierte sie triumphierend.

»Weil bei uns Rußland ist,« wiederholte die junge Lehrerin leise und langsam. Dabei blickte sie wieder auf und hinaus; müde und hoffnungslos. »Du, Wera Iwanowna, warum ist's bei uns in Rußland nicht auch wie in anderen Ländern?« forschte eine kleine Wißbegierige. »Wir wollen auch zu Ostern Blumen haben, Primeln und Veilchen.«

Wera, ihre Gedanken sammelnd, belehrte: »In Rußland ist der Winter viel länger als in anderen Ländern, weil bei uns die Sonne viel weniger warm scheint. Paßt gut auf! Die Sonne scheint in Rußland viel weniger warm, weil –«

Sie stockte. Sie suchte nach dem rechten Worte, nach dem rechten Gedanken, fand jedoch beides nur mühsam und unvollkommen.

»Bei uns in Rußland ist es viel kälter als in anderen Ländern, weil unser armes Rußland so weit von der Sonne entfernt liegt. Deshalb grünt und blüht bei uns alles viel später; denn nur da, wo die Sonne recht warm und hell hin scheint, kann es wachsen und gedeihen!«

Sie schwieg, atmete schwer und sah hilflos um sich.

Ein seines Stimmchen rief: »Ich denke mir etwas. Darf ich's sagen?«

Wera ermunterte den kleinen Zagenden: »Gewiß darfst du es sagen. Du mußt stets sagen, wenn du dir etwas denkst und stets, was du dir denkst. Der Mensch darf niemals anders reden, als seine Gedanken sind, sonst ist er ein schlechter Mensch. Und du willst doch ein guter Mensch werden. Das wollen wir alle. Also was denkst du?«

»Es ist gar nicht hübsch vom lieben Gott, daß er Rußland jedes Jahr einen so langen und kalten Winter schenkt. Hat Rußland dem lieben Gott etwas zuleide getan?«

Wera heftete ihre schwermütigen Augen auf den Knaben. Der kleine Kerl schaute ganz trotzig drein; doch konnte sein kindlicher Eifer der Lehrerin kein Lächeln abgewinnen. Sie rief ihn zu sich, legte ihre Hand auf sein helles Haar und sagte laut und feierlich: »Auch Rußland wird von Gott geliebt. Und Gott mag wohl so streng gegen Rußland sein, damit hier die Leute besser werden als in anderen Ländern; die kleinen Knaben brave Männer und die kleinen Mädchen wackere Frauen. Wenn es in Rußland recht viele brave Männer und wackere Frauen gibt, schenkt ihnen der liebe Gott immer mehr von seinem warmen goldenen Himmelslicht, immer, immer mehr! Dann werden bei uns auf den Wiesen Primeln und Veilchen ebenso früh blühen, wie in anderen Ländern.«

Ihre Feierlichkeit machte den Kindern bang. Alle waren still. Der Knabe, der mit dem lieben Gott unzufrieden war und auf dessen Kopf Weras Hand noch immer lag, schmiegte sich an das Mädchen und flüsterte: »Wenn wir recht brav werden, schicken sie uns dann auch nach Sibirien und in die Gruben wie meinen Vater?«

Leidenschaftlich drückte Wera das Kind an sich und rief: »Es wird eine Zeit kommen, wo in Rußland niemand mehr nach Sibirien und in die Gruben geschickt wird – niemand, der ein braver Mann ist.

»War denn mein Vater kein braver Mann?«

»Dein Vater war ein Held, ein Märtyrer!«

Ihre bleichen Wangen überflog ein tiefes Rot, ein heißer Glanz strahlte in ihren Augen auf. Sie erhob sich und stand mitten unter den Kindern mit leuchtendem Gesicht.

»Ich will auch ein Held werden, sie sollen mich auch nach Sibirien schicken,« rief der junge Sohn des Nihilisten.

Die Kinder begannen zu flüstern und zu kichern; aber Wera nickte dem kleinen Zukunftshelden ernsthaft zu: »Wenn ihr erst groß seid, wird alles anders geworden sein: alles besser, viel, viel besser! Ihr versteht es nicht und ich kann es euch auch nicht sagen. Wenn dann alles anders und besser ist, so gedenkt der Heiligen des russischen Volkes; nicht nur derer, welche in den Kirchen wohnen und von euch angebetet werden, sondern eurer Väter, von denen niemand weiß und die doch für alle gelitten haben; von denen viele für uns gestorben sind. – – Und jetzt müßt ihr in die Kirche.«

Ein fröhliches Getümmel entstand. Jedes Kind suchte sein Licht. Dann ging es ans Anzünden, was durchaus nicht so bald geschehen war; aber schließlich flackerte über jedem festgeschlossenen Händchen eine kleine Flamme.

Wera war beiseite getreten und blickte mit herzlichem Anteil auf das Treiben des jungen Völkchens. Die kleine Marfa kam zu ihr.

»Du hast ja dein weißes Kleid noch nicht an. Gehst du nicht mit in die Kirche?«

»Ich bleibe zu Hause.«

»Bist du krank?«

»Ich bin nicht krank; aber – – «

Wieder fehlten ihr die rechten Worte. Wie hätte sie auch dem Kinde erklären sollen, weshalb sie am heiligen Osterfest ihr weißes Gewand nicht trug und nicht mit in die Kirche ging.

Hastig bückte sie sich und küßte das Mädchen auf die Stirn. Das meinte wichtig: »Wenn du nicht mit in die Kirche kommst, wird der Pope böse auf dich.«

Das hörte der junge Dimitri.

Er stellte sich breit vor Wera auf: »Aber schlagen soll er dich nicht!«

Er war ganz aufgeregt. Wera suchte ihn zu beruhigen: »Ich lasse mich nicht schlagen.«

»Meine Mutter wird alle Tage geschlagen,« verriet einer.

Er sollte den anderen nichts voraus haben; denn sogleich meldete ein zweiter: »Meine Mutter auch – vom Vater, alle Abend. Dann schreien sie.«

Nun kam es heraus. Die meisten Mütter wurden geschlagen, mitunter auch die Väter. Vater und Mutter tranken Branntwein – jeden Abend! Dann schrien sie und schlugen sich.

Blaß und stumm stand Wera und hörte zu. Sie wagte nicht aufzusehen und in die unschuldigen Kindergesichter zu blicken. Sie schämte sich, als wäre sie es, die täglich von rohen Händen geschlagen würde.

Sie mußte sich anstrengen, zu sprechen: »Aber jetzt fort mit euch. Ihr wißt doch, weshalb ihr diese Nacht in die Kirche geht?«

»Heute gibt's Kwaß und Kohlsuppe. – Ja, und Piroggen! – Und Fleisch! – Und Pastetchen!« jubelte es durcheinander.

Wera wollte die Kinder belehren; sie wollte ihnen sagen: »Ihr feiert heute das Osterfest: Christus ist von den Toten auferstanden.«

Aber sie schwieg. Es waren Wunder, die sie mit Ehrfurcht erfüllten, die sie jedoch nicht begriff.

Sie schickte die Kinder hinaus. »Morgen vormittag kommt ihr wieder. Was willst du, Kleine?«

»Meine Mutter erlaubt nicht, daß ich wieder komme,« schluchzte das Kind. »Sie läßt dir sagen; das wäre nun einmal so, der Pope hab' ihr's verboten. Der Pope hat gesagt, du hetztest uns auf. Ja, und noch viel mehr hat der Pope gesagt, ich hab's nur wieder vergessen. Sie sind alle böse auf dich: du wärst gar keine Christin.«

Die Kinder waren still geworden. Scheu blickten sie auf Wera, die sich mit der weinenden Kleinen beschäftigte und diese schnell zu beruhigen wußte.

»Ich werde morgen deine Mutter besuchen und mit ihr reden. Jetzt geht, sonst kommt ihr zu spät.«

Hand in Hand traten sie hinaus in die finstere, kalte Nacht. Die Wachskerzen hielten sie dicht vor ihren Gesichtern, so daß man bei der tiefen Dunkelheit von den winzigen Gestalten nur die Köpfchen sah. Die grell beleuchteten blühenden Kindermienen mit den strahlenden Augen und den lachenden Lippen tauchten auf aus der Finsternis und schwebten dahin wie eine Schar geflügelter Engelsköpfe – so dachte Wera, am Fenster stehend und ihren kleinen Freunden nachblickend, bis sie von dem Zuge der übrigen Kirchgänger aufgenommen wurden.

Der jungen Lehrerin von Eskowo ward das Herz schwer.

... Da trippeln sie hin, mit ihren Lichtern durch die Osternacht wie vom Himmel gefallene Sterne. Arme, junge Brut! Jetzt noch so froh, so gut, so unwissend; die rosigen Blumenknospen des russischen Winters. Das wird bald anders sein. Aber sind sie nicht frei geboren, sollen sie nicht frei bleiben? Frei. Das ist auch eines von den Worten, bei denen das russische Volk sich nichts denken kann. Man müßte es ihm erklären, damit es wüßte: Wir sind frei! damit es mit seiner Freiheit etwas anfangen könnte. Aber so, wie es nun einmal ist, weiß es nichts davon. Was kann ich tun, um zu erfahren, was das russische Volk mit seiner Freiheit anfangen soll? Niemand sagt es mir. Überall Elend und Jammer und – Unwissenheit. Und nirgends Hilfe. Was kann ich tun, um zu helfen?

Sie starrte hinaus, als erwarte sie die Antwort auf ihre angstvolle Frage von draußen. Aber die Nacht blieb schwarz und der Lichtschein, der aus der Kirche drang, wußte ihr auch nichts zu sagen, so gern sie seine Sprache vernommen und verstanden hätte.


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