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Viertes Kapitel.

Als Wera wieder allein war, löschte sie die Lampe, die auf dem Tische stand, so daß in dem großen Gemach nur in der heiligen Ecke ein Licht brannte; darauf setzte sie sich ans Fenster, drückte ihre Stirn gegen die kleinen, trüben Scheiben und starrte hinaus. Noch immer zogen die Leute der Kirche zu. Warum sie nicht? Der Gekreuzigte, der Begrabene, der Auferstandene ließ heute alle zu sich kommen. Warum kam sie nicht? Wie oft hatte sie sich diese Frage vorgelegt. Aber sie fand niemals eine Antwort. Und diese Sehnsucht in ihr! Wonach? Sich auch an ein Kreuz schlagen zu lassen. Wofür? Um des Leidens Rußlands willen. Und zu Ihm, der sich um des Leidens der Welt willen hatte ans Kreuz schlagen lassen, ging sie nicht, wenn die Osterglocken zum Grabe des Auferstandenen riefen? Hatte Christus denn die Welt erlöst?

Es ist so lange her, dachte sie, daß Christus am Kreuz gestorben und nach drei Tagen wieder auferstanden ist von den Toten; es ist so viel darum gebetet und gedankt worden – beinahe zweitausend Jahre! Wenn einmal das russische Volk sein Osterfest hat, so wollen wir es feiern und dafür danken – auch zweitausend Jahre! Gekreuzigt wurde es ja oft genug, daß sein armer Leib nichts trägt, als blutige Wunden. Und ich selbst – – Herr, Herr, wecke mich! Ich bin wie in einem Grabe. Wenn ich meine Hände bewegen und ausstrecken könnte, müßte ich den Deckel meines Sarges fühlen. Aber ich kann mich nicht regen. Und wenn es über mir Frühling wird, weiß ich nichts davon. Wecke mich! Herr, Herr, wecke mich! Du kannst Wunder tun. Tue an mir ein Wunder! Rühre mich an und sprich: Weib, steh' auf und wandle – lebe!

Sie fiel mit dem Kopf gegen die Wand und während aus der Kirche der Gesang der Gläubigen zu ihr herüberdrang, betete sie, daß ihre Seele geweckt werde, daß die Seele des russischen Volkes auferstehen möchte aus tausendjährigem Todesschlaf.

... Wera Iwanowna war das einzige Kind ihrer Eltern. Ihre verstorbene Mutter hatte in ihrer Jugend in dem Rufe gestanden, eine große Schönheit zu sein. Diese Frau kam mit ihrem zwölften Jahre auf den Hof, wo sie zuerst für die niedrigsten Küchenarbeiten verwendet wurde, aber schnell bis zur Zofe der Herrin avancierte. Von dieser ward sie bald gestoßen und geschlagen, bald mit Zuckerwerk gefüttert und mit Putzsachen beschenkt. Im Winter wurde sie mit nach Moskau genommen. Plötzlich fiel sie bei der Herrin in Ungnade und ward in aller Eile mit Iwan Iwanowitsch, einem berüchtigten Trunkenbold auf dem Steppengut Eskowo verheiratet. Der Mann der hübschen Person war ein Mensch, der infolge seines Lasters zu nichts anderem zu verwenden war, als zum Knuten, ein Geschäft, dem er sich mit ganzer Seele und beiden Fäusten hingab. Bereits nach einigen Monaten wurde Wera geboren und ihre Geburt kostete der schönen Mutter das Leben. Das Kind wäre elend umgekommen, hätte nicht eine Nachbarin Erbarmen gefühlt. Der Mann dieser mitleidigen Frau arbeitete wegen Auflehnung gegen den Verwalter bereits seit fünf Jahren in den Bergwerken: er hatte nur einen Sohn zurückgelassen, ein starkes, plumpes unschönes Kind, das sich vor anderen Kindern scheute niemals spielte und am liebsten einsam in irgendeinem Winkel hockte.

Kaum war das kleine Mädchen im Hause, so ging mit dem Knaben eine wunderliche Veränderung vor. Er erwachte aus seiner Stumpfheit, es kam Leben und Jugend in ihn. Wenn das fremde Kind schrie, geriet er ganz außer sich, gab sich nicht eher zufrieden, als bis es beruhigt war. Unaufhörlich plagte er seine Mutter mit der Kleinen; alles, was sie zu essen hatten – es war wenig genug – sollte das Mädchen bekommen. Daß seine Mutter den Säugling nicht mit Stör und Kwas, den beiden größten Leckerbissen, die die Welt für ihn besaß, auffütterte, verzieh er ihr nicht. Den ganzen Tag schleppte er sich mit dem Püppchen herum, glücklich, wenn es mit den winzigen Händchen nach ihm griff und ihn an seinem struppigen Haar zerrte. Als die Kleine ihn zum erstenmal anlachte, geriet er in Ekstase. Diese leidenschaftliche Zärtlichkeit nahm mit den Jahren womöglich noch zu. Im übrigen blieb er ein scheuer, verdrossener, träger Junge, durch dessen Gehirn die Gedanken wie Schnecken krochen. Zündete jedoch einmal etwas in ihm, so loderten gleich Flammen.

Da vom Lernen gar nicht, von Arbeit kaum die Rede war, so lebte Sascha mehr auf der Steppe als im Dorfe oder im Hause; und da es ohne Wera keinen Sascha gab, so trieb sich das Mädchen einen großen Teil des Jahres mit ihm herum. Beide kannten meilenweit um Eskowo jeden Birkenbaum und Wacholderbusch. Wera war ein ernstes, in sich gekehrtes Kind, dem das Reden schwer fiel. Das nämliche war bei Sascha der Fall; aber sobald sich dieser mit seiner kleinen Genossin allein befand, ward er wunderbar beredt. Er wußte Geschichtchen ohne Zahl und Ende, die niemand ihm erzählt hatte. Wenn die beiden über Wiesen liefen und den Birkenwald durchstreiften, so erfuhr Wera allerlei geheimnisvolle Dinge von wilden Wasserweibern und weisen Luftfrauen. Der Knabe entfaltete vor der Seele des Mädchens den ganzen Reichtum seiner Phantasie, jedoch ohne sie dadurch ihrer nachdenklichen Art entreißen zu können. Oft kauerten sie am Rande des Flusses, der im Frühling die Steppe mit braunen Fluten überschwemmte, stumm zuschauend, wie die schlammige Wassermasse sich schwerfällig und träge in unheimlicher Lautlosigkeit dahinwälzte. Oder sie lagen auf der Steppe mit geschlossenen Augen, lauschten auf den Schlag der Amsel und das Pfeifen des Wasserhuhns und ließen das hohe Gras über sich hinwehen. Die grüne, blumendurchzogene Welle schlug über ihren jungen Gesichtern zusammen; öffneten sie die Augen, so blickten sie durch die nickenden Halme und Knospen in ein Meer von Dunst und Glanz, das der Sonnenuntergang mit glühendem Purpur übergoß, darin nach und nach die Sterne aufblinkten. Die einförmigste und ödeste Natur besitzt des Phantastischen und Geheimnisvollen immer noch genug, um ein Kindergemüt mit Schauern zu erfüllen.

So kam es, daß Wera ein überaus seltsames Kind ward. Gleich ihrem lieben Sascha wußte sie nichts von Spiel und anderen Kinderfreuden; die hübschen Märchen, die ihr Gefährte für sie erdichtete, verstand sie nicht, wenn sie auch noch so lange darüber nachgrübelte. Denn ganz im Gegensatz zu ihrem Freunde, konnte sie nicht fabulieren. Für sie blieb die Blume eine Blume, der Baum ein Baum. Sie hatte gar keine Einbildungskraft, sondern wußte nur mit der Wirklichkeit der Dinge etwas anzufangen.

Einen Gegenstand beständigen Nachdenkens bildete für sie die Frage: weshalb in Eskowo die Kinder stets so schmutzig und zerlumpt einhergingen? Da die meisten Mütter hatten, so konnte Wera es nicht ausfindig machen und verfiel darüber in tiefe Traurigkeit. Gar zu gern hätte sie etwas getan – irgend etwas! Zum Beispiel gehungert oder sich schlagen lassen, wenn dadurch in Eskowo alle Kinder gewaschen und reinlich gekleidet worden wären. Sie machte mit Sascha aus: wenn sie beide erst »ganz« groß geworden, so wollten sie dafür sorgen, daß es in Rußland nur sauber gewaschene und reinlich angezogene Kinder gäbe. Auch sollte dann niemand mehr die Knute bekommen, niemand mehr betrunken sein, oder in die Bergwerke geschickt werden, wo Saschas Vater unterdessen gestorben war.

Daß es auf der Welt – das heißt in Eskowo – Prügel und Trunkenheit gab, verursachte beiden viel Herzeleid. Vergebens versuchten sie zu begreifen, warum zweierlei Menschen da seien: Solche, die schlagen ließen, und solche, die geschlagen wurden. Gott und die Heiligen waren ihnen nebst der Gutsherrschaft, dem Verwalter und dem Popen ziemlich gleich unbekannte und schreckliche Persönlichkeiten. Da im Dorfe keiner so schmierig einherging, keiner so oft betrunken war wie der Pope, so setzten sie dasselbe von Gott und den Heiligen voraus, welche göttlichen Eigenschaften der kleinen Wera den größten Kummer bereiteten. Von dem Herrn, der Herrin und dem Verwalter wußten sie, daß diese – gerade wie Gott und die Heiligen – alles vermochten, und daß durch sie die Knute in die Welt gekommen. Freilich forderte Wera ihren Kameraden auf; wenn er erst »ganz« groß geworden, sich nicht von dem Verwalter schlagen zu lassen, wie die anderen das taten.

Häufig kam es vor, daß Wera zusah, wenn ihr Vater prügelte. Sie lief dann nicht fort, sondern wohnte der Prozedur bei, leichenblaß, die kleinen Hände geballt, mit weit aufgerissenen, starren Augen. Bei jedem Schlage zuckte sie zusammen, als wäre sie getroffen worden. Mancher dieser Mißhandelten, dem das Bewußtsein geschwunden, fand beim Erwachen aus seiner Betäubung neben sich die kleine Wera kauern.

Sie war vierzehn Jahre alt, als die Gutsherrin starb. Iwan Iwanowitsch und seine Tochter hatten bei dieser Dame so tief in Ungnade gestanden, daß sie selbst zum Handkuß nicht vorgelassen wurden. Das änderte sich nun. Kaum war die Dame begraben, als nach Wera geschickt wurde. Eine Dienerin holte sie ab und brachte sie zu der Frau des Verwalters, die das Kind bis dahin niemals zu sehen bekommen hatte. Es war eine ältliche, fette, faule Dame, die sich altrussisch kleidete und den ganzen Tag über Eingemachtes aß, das sie meisterlich zu bereiten verstand. Sie bewohnte einen Divan mit eingesunkenen Polstern und zerrissenem Überzug, aber so behaglich aufgewärmt, daß sie sich nur dann von den Kissen erhob, wenn sie Honigfrüchte einkochen ließ. Diese bequeme, vortreffliche Seele überschüttete Wera mit Liebkosungen und Leckerbissen, ließ sie in ihrer Gegenwart auf das zierlichste ankleiden und führte sie dann in eigener Person zu Anna Pawlowna.

Die junge Herrin von Eskowo empfing die kleine Vasallin ziemlich gnädig. Sie trug ein Pariser Trauerkostüm, darin sie reizend aussah. Ihr ganzer Hofstaat umgab sie: Beau, das Bologneser Hündchen, Bella, die große Tigerkatze, Karo, der gelbschopfige Kakadu. Außer diesen Günstlingen, zu denen man noch die Zwergin rechnen konnte, befanden sich von menschlichen Zugehörigen in dem Gemache: Madame Henri, die Gouvernante, Herr Lehmann, der deutsche Tanzmeister, und Lisaweta, die alte Amme. Auf einer mit maisgelbem Atlas bezogenen Ottomane lag ein wunderschöner Knabe, der Vetter Anna Pawlownas, der kaum älter als Wera war. Boris Alexeiwitsch war ganz in schwarzen Samt gekleidet, hatte weiche, kastanienbraune Locken, dunkle, müde Augen, eine Gesichtsfarbe und Lippen wie ein Mädchen. Er unterhielt sich damit, über dem Kopf des Kakadu die Reitpeitsche sausen zu lassen, schien jedoch an dem Spiel kein besonderes Vergnügen zu finden.

Wera fand die Situation sehr tumultuarisch. Der Hund bellte, der Kakadu schrie, die Zwergin kreischte, die Gouvernante zankte mit der Amme (die eine sprach Französisch, die andere Russisch), Boris pfiff und der deutsche Tanzmeister machte einen falschen Pas, wobei er der Katze auf den Schwanz trat. Jetzt kam noch die Verwalterin dazu.

Anna Pawlowna ließ die fette Dame sprechen, wie sie den Vogel kreischen ließ, betrachtete gemächlich ihren Besuch von Kopf bis zu den Füßen, befahl alsdann Räucherwerk anzuzünden, den Samowar aufzustellen und Wera ihren Schmuck und ihre Kleider zu zeigen.

Plötzlich trat im Jagdanzug, Paul Gregorowitsch ein, er küßte seine Tochter auf die Stirn, nickte der Amme zu, reichte dem Kakadu ein Stück Biskuit, machte Miene, die Französin anzureden, sah über den Tanzmeister hinweg und fragte die Zwergin – es war Mittwoch – ob heute Samstag wäre?

Dann sah er Wera.

Auf diesen Augenblick hatte die Verwalterin nur gewartet. Unter Verbeugungen, die sie ächzen und stöhnen machten, trat sie vor und begann über die Tochter des Trunkenbolds eine biographische Skizze herzusagen. Aber Paul Gregorowitsch runzelte ungnädig die Stirn, was die Verwalterin so aus der Fassung brachte, daß sie mitten im Satz verstummte.

Bald darauf ging er.

»Welche Ähnlichkeit!« zischelte die Zwergin der Amme zu. Diese stieß einen tiefen Seufzer aus und verdrehte die Augen.

Wera wollte weder Tee trinken noch von den eingesottenen Früchten essen, trotzdem Anna Pawlowna selbst sie ihr reichte.

»Wie stolz das Täubchen ist,« zeterte die Zwergin.

»Wie frech!« rief Boris Alexeiwitsch, stand auf, schlenderte zu Wera hin, blieb dicht vor ihr stehen, fixierte sie eine Weile, hob dann die Reitpeitsche und schlug zu.

Über Weras weißes Gesicht zog sich ein blutroter Streifen. Die Zwergin lachte laut auf, die anderen sagten nichts, nur der deutsche Tanzmeister murmelte: »Pfui!«

Aber wie eine Megäre fuhr Anna Pawlowna auf ihren Vetter los, dann fiel sie Wera um den Hals und küßte sie auf die Wange, welche die Peitsche getroffen. Sogleich begann die Zwergin zu schluchzen.

Wera ertrug die Liebkosung, wie sie die Mißhandlung ertragen; vollkommen regungslos. Dabei wandte sie keinen Blick von Boris. Dieser junge Held hatte sich unterdessen als zweites Opfer den armen Deutschen erwählt, von dem er sich, ohne überhaupt nur hinzusehen, bald diesen, bald jenen Tanzschritt vormachen ließ, dazu mit der Reitpeitsche Knalleffekte ausführend, welche die Französin bewundern mußte. Wera war, nachdem sie sein momentanes Mißfallen erregt hatte, für ihn gar nicht mehr vorhanden.

Endlich durfte die Verwalterin das Mädchen wieder mit sich hinausnehmen. Kaum befand sich die würdige Dame außer Hörweite, als sie auf Wera losfuhr und sie mit Vorwürfen überhäufte, wie man sich so dumm und grob benehmen könnte. Wäre sie so klug gewesen, sich respektvoll und gefügig zu zeigen, so hätte Anna Pawlowna sie gewiß in ihren besonderen Dienst genommen, wie die verstorbene Herrin das vormals mit ihrer Mutter getan. Wie gnädig von dem Herrn, ihr die hübschen Kleider zu schenken!

Aber Wera wollte sie nicht behalten. Mit zitternden Händen entledigte sie sich des fremden Putzes, schlüpfte in ihre alten Kleider, schlich fort, lief in den Birkenwald, warf sich auf den Boden, weinte und schluchzte. Als sie sich wieder aufrichtete, stand Sascha vor ihr mit so verstörten Mienen, so wildem Blick, daß Wera vor Schreck laut aufschrie.

Sascha hatte im Dorfe erfahren, daß Wera zur Herrin geholt worden und war ihr gefolgt. Durch das Gesinde hatte er alles, was im Salon geschehen, gehört.

»Laß uns beide nur erst groß geworden sein,« war alles, was er hervorbringen konnte und mit zitternder Stimme immer von neuem sagte.

Er war damals siebzehn Jahre alt, ein langer, hagerer, ungelenker Mensch mit den Augen und der Seele eines Kindes, so daß er wirklich erst »groß« werden mußte.

Dann aber hatte Wera eine innige Freude: ihrem Vater wurde die Knute abgenommen, und der größte Trunkenbold des Dorfes zum Starosten von Eskowo gemacht. Das hatten alle Leute erwartet. Der neue Starost, der seit dem Tode der Herrin sich äußerst ergeben gegen seine Tochter benahm, gewöhnte sich ihr gegenüber mehr und mehr ein demütiges Wesen an, worunter das Mädchen mehr litt, als früher unter den Brutalitäten ihres Väterchens. Übrigens ließ er sich nur dann vor ihr sehen, wenn er noch nüchtern genug war, um auf seinen Füßen zu stehen. So bekam sie ihn denn nicht oft zu erblicken.

Trotz ihres »unklugen« Benehmens stand Wera bei Anna Pawlowna in hoher Gunst. Diese schickte häufig nach ihr, was Sascha jedesmal außer sich brachte. Seine kleine Freundin konnte ihn dann kaum durch die Versicherung beruhigen, daß man sie gut behandelte, was übrigens wahr war, und daß Boris Alexeiwitsch nie mehr im Salon anwesend sei – was sie um Saschas willen log, und was ihr schwerer fiel, als hätte sie sich für ihn prügeln lassen.

Sie hatte gebeten, in ihren eigenen Kleidern bleiben zu dürfen, was man ihr, da sie in dem groben Kostüm immer ungemein sauber aussah, gnädig gestattete. Auch quälte die Herrin sie nicht mehr, Tee zu trinken und Honigfrüchte zu essen. Die Frau des Verwalters war wieder ganz Zärtlichkeit und Freundschaft, während die Zwergin sie haßte und die Amme fortfuhr, über die »Ähnlichkeit« laute Seufzer auszustoßen. Madame Henri redete sie zuweilen französisch an und Herr Lehmann hätte ihr für sein Leben gern das Walzen beigebracht, der einzige Liebesdienst, den diese gute Seele der Menschheit zu leisten vermochte.

Die Reitpeitsche bekam sie nicht wieder zu fühlen, aber so oft Boris Alexeiwitsch das »freche Geschöpf« sah, begannen seine Nasenflügel zu zucken, und seine schönen, müden Augen nahmen einen bösen und grausamen Blick an. Beide schienen sich nicht um einander zu kümmern, und doch wußte jeder, daß der andere sein Feind war.

So oft Wera sich bei Anna Pawlowna befand, besuchte Paul Gregorowitsch den Salon seiner Tochter, bei der er dann stets eine Zeitlang verweilte und zerstreut über das leibeigene Bauernkind hinwegsah.

Zuweilen durfte Wera den Lektionen beiwohnen, die der russische Lehrer Anna Pawlowna erteilte: Geschichte, Geographie, Himmelskunde, alles durcheinander. Das Mädchen hatte dann ihren Platz in einem Winkel, wo sie, aus Furcht fortgeschickt zu werden, nicht wagte, sich zu rühren. Hätte sie nur besser verstehen können! Es fiel ihr alles so schwer, jeder Gedanke kostete ihr Mühe. Der Lehrer sagte etwas, das sie nicht begriff, sie sann darüber nach und sie sann noch, wenn die Stunde längst vorbei war.

Die glückliche Anna Pawlowna! Glücklich, weil sie lernen konnte. Wozu sie übrigens lernte? Sie wußte alles. Wera fing an, sie zu beneiden, ein Gefühl, das sie unsäglich angstvoll und unglücklich machte.

War Anna Pawlowna bei besonders guter Laune, so befahl sie, daß der Lehrer Wera eine Frage vorlegen sollte. Zitternd vor Erregung, stand diese auf und sagte mit stockendem Atem, aber heiligem Ernst, als ob es sich um Tod und Leben handle, was sie von der Sache wußte. Gewöhnlich lachte Anna Pawlowna hell auf, worauf dann der ganze Hofstaat mitlachte, und gewöhnlich fand der Lehrer im geheimen, daß Weras Antwort durchaus nicht lächerlich sei.

Jede dieser Stunden bildete in Weras Leben ein Ereignis. Wurde sie einmal nicht durch das Bewußtsein ihrer Unwissenheit beschämt und gänzlich entmutigt, so schwelgte sie in der Empfindung, etwas gelernt zu haben. Mit geröteten Wangen und strahlenden Augen suchte sie sogleich ihren Freund Sascha auf, dem sie von jedem Wort strenge Rechenschaft ablegte. Sie konnte dann ganz beredt sein und von einer Zukunft schwärmen, wo Sascha – an sich dachte sie niemals – lernen würde, viel, viel lernen! Der gute, träge Junge fuhr jedesmal tief aufseufzend mit beiden mächtigen Händen über sein breites Gesicht und durch sein struppiges Haar. Seine Einbildungskraft konnte sich wohl bis zu den unglaublichsten Geschichten, den wunderbarsten Märchen versteigen; aber niemals in eine Region, in welcher der Sohn eines russischen Bauern Geschichte und Geographie lernte. Wera jedoch teilte fortan die Menschen nicht mehr ein in Herren und Leibeigene, in Geschlagene und Schlagende, Betrunkene und Nichtbetrunkene, sondern in Leute, die vieles, und solche, die nichts wußten.

Als Kind waren ihr von Saschas guter, aber durch Mangel und Fronarbeit halb blödsinniger Mutter einige Gebete gelehrt worden, mit der Weisung, daß man, wenn man dieselben unablässig, recht eifrig hersage, von den guten Heiligen alles, um was man bete, geschenkt erhielt. Also betete die kleine Wera eifrig, daß Saschas Vater aus den Bergwerken zurückkommen, daß keiner mehr betrunken sein möge, keiner mehr geschlagen würde und daß die Kinder von ihren Müttern gewaschen und gekämmt würden. Jeden Abend freute sich das Kind: morgen kommt Saschas lieber Vater zurück, morgen wird die garstige Knute verbrannt und der böse Branntwein in den Fluß geschüttet, morgen sind alle Kinder gewaschen und gekämmt – morgen! Doch keines dieser Wunder wollte sich in Eskowo zutragen, und Saschas Vater starb in den Bergwerken. Da bekamen Weras Augen allmählich jenen schwermütigen Ausdruck, der sich von nun an selten veränderte.

Gar zu gern hätte sie, nachdem sie das menschliche Spielzeug Anna Pawlownas geworden, morgens und abends eifrig, eifrig gebetet, daß die Heiligen die Leute recht viel lernen lassen möchten; sie war jedoch gegen den guten Willen der Himmlischen etwas mißtrauisch geworden.

Da geschah in Eskowo das Unerhörte: auch Anna Pawlownas Vater gab seine Bauern frei. Die toten Seelen sollten auferstehen.

Auf der Dorfstraße umarmte und küßte sich jung und alt. Es war wie zu Ostern. Acht Tage lang war in Eskowo alles betrunken, auch die Frauen – selbst die Kinder. Der Pope und der Starost lagen beide wie im Starrkrampf. Auch in den nächsten Wochen war es kaum besser. Prügeleien kamen jetzt sogar im nüchternen Zustande vor; die Männer prügelten ihre Frauen und umgekehrt; sie waren ja frei! Das währte so eine Zeitlang; dann gab es hundert Werst im Umkreise keinen Branntwein mehr, dann bekam man die Freiheit überdrüssig. Viele begannen zu murren. Noch einige Zeit später und die »freien« Seelen von Eskowo schickten mitten im Winter eine Deputation nach Moskau zu ihrem Herrn: »Das Väterchen möchte doch so gnädig sein, alles beim alten zu lassen.« Niedergeschlagen kehrten die Leute wieder zurück: »Es sollte in Rußland alles neu werden.« Dagegen war nichts zu machen. In Eskowo fing man an, die neue Zeit zu hassen.

So blieben denn die freien Seelen in Gottes Namen frei, ein Begriff, der ihnen in Gottes Namen dunkel blieb.

Wera glich einer Verzückten. Sie war neunzehn Jahre alt, groß und schön. Und auch glücklich. Durch die Welt und ihre Seele zog es wie Frühlingshauch, wie der göttliche Odem einer geistigen Auferstehung. Hand in Hand mit Sascha ging sie hinaus auf die Steppe, durch deren Blumenfelder der vom Eise befreite Strom mit ungestümen gelben Fluten dahinbrauste, die Dämme zerbrechend, über seine Ufer tosend, weit ins Land hinein. Zum erstenmal empfand Wera die furchtbare Große einer entfesselten Naturgewalt. Doch sie erschrak nicht davor. Es war eine Kraft, furchtbar und zerstörend, aber doch voll mächtigsten Lebens. Dieselbe Macht hatte auch in den Seelen der Menschen geschlummert: in der Seele des russischen Volles. Und jetzt war sie erwacht.

Ihr junges, begeistertes Haupt wie eine Seherin erhoben, kündigte sie ihrem Freunde an, daß er fort müsse: nach Moskau und dort lernen, lernen, lernen! Dann zurückkehren und lehren, lehren, lehren! Denn jetzt käme eine neue Zeit, eine Zeit, wo in Rußland den Steinen gepredigt werden müßte: das russische Volk ist frei!

Als die beiden auf der frühlingsgrünen Steppe sich so kindlich-feierlich besprachen, flossen Himmel und Elbe in Abendsonnengluten zusammen.

Und Sascha ging fort, ging, wohin er geschickt wurde, blindlings gehorchend, mit dem vollen Willen, alles zu tun, was man von ihm verlangen würde, aber ohne zu wissen, was er tun sollte. Zugleich mit ihm verließ Eskowo eine andere freie Seele: Wladimir Wassilitsch.

Derselbe war viel jünger als Sascha; eine wahre Lichtgestalt, das strahlende Antlitz von langen, hellen Locken umwallt. Mit seinem Feuergeist und seiner ungebändigten Jugendkraft schien er für die Unsterblichkeit geschaffen. Seine Gedanken waren so verwegen und zündend wie Flammen, und er hätte damit am liebsten die Welt in Brand gesetzt. Er war heimlich mit Tania verlobt, das einzige Wesen, welches außer dem russischen Volke für ihn existierte. Mit den herrlichsten Gaben ausgestattet, besaß er ein Genie zum Schwärmer und Fanatiker. Es gab Zeiten, während deren der ganze Mensch eine konzentrierte Idee war: Rußland! Über Sascha herrschte er wie ein Gott, Wera scheute ihn. Sie wußte auch, daß Tania dem Dämon dieses wunderbaren Menschen rettungslos verfallen sei; für ihren Freund hingegen glaubte sie so wenig fürchten zu müssen, wie für sich selbst.

Nun war Sascha in Moskau. Nur während des ersten Jahres erhielt Wera Briefe von ihm. Sie küßte das Papier mit der unbeholfenen Kinderschrift und bewahrte jedes Schreiben wie ein Heiligtum. Sascha lernte, weiter wußte sie nichts von ihm; es war ihr genug. Dann verstummte er und sie hätte gar nichts mehr von ihm vernommen, wenn nicht Wladimir in seinen Briefen an Tania manchmal des Genossen Erwähnung getan. Doch die Weise, in der das geschah, beunruhigte und demütigte Wera. Sie hörte, daß Sascha noch immer Student war, aber daß das russische Volk nichts von ihm zu hoffen hätte. Also lernte er nicht. Was tat er sonst? Diese angstvolle Frage, auf die sie keine Antwort erhielt, war es, welche sie während der letzten Jahre unaufhörlich beschäftigte und quälte.

Wladimir schickte Tania allerlei Schriften, die seine Braut »vorbereiten« sollten für ihre »Mission« als das Weib eines Sohnes des »neuen« Rußlands. Dem Mädchen wurde tiefes Geheimnis geboten. Zugleich erhielt sie Befehl, alle Hefte, Zeitungen und Flugblätter Wera mitzuteilen: diese sei eine Seele, welche für das »neue« Rußland gewonnen, welche gleichfalls »vorbereitet« werden müßte. Wahrend Tania das Eintreffen jeder neuen Sendung einen wahren Todesschrecken bereitete, geriet Wera jedesmal in ein Fieber von Aufregung und Erwartung. Die kostbaren Schriften an ihren Herzen verborgen, gingen die beiden Mädchen hinaus auf die Steppe, lasen die Blätter und suchten die wilden, wirren Ergüsse zu begreifen. Beide verstanden nichts und glaubten alles; die eine: weil Wladimir alles verstand und glaubte, die andere: weil alles um der Leiden des russischen Volkes willen erdacht und geschrieben worden war. Tania wollte übrigens gar nichts verstehen, sondern nur glauben; Wera dagegen machte es tief unglücklich, daß sie nichts verstand und nur glaubte. Die Schuld lag natürlich lediglich an ihr und ihrer Unwissenheit. Wie erhaben klangen die Reden an das russische Volk, wie gewaltig tönte die Sprache der Empörung über seine Knechtung, wie machtvoll der Aufruf zur Erhebung und Befreiung. Alle Schuld lag an ihr! Sie fühlte sich unwürdig, teilzunehmen an dem großen Werke, das vor sich gehen sollte. Aber war es nicht Glück genug, daß es überhaupt vor sich ging?

Allein trotz ihrer glühenden Hoffnung, trotz ihres unerschütterlichen Glaubens konnte sie nicht verhindern, daß allmählich ihre Augen wieder den alten traurigen Blick annahmen; konnte sie nicht verhindern, daß in Eskowo alles beim alten blieb. Sie vermochte nichts dagegen zu tun. War es doch schon eine Tat zu nennen, wenn sie bisweilen ihren Vater einen Tag lang vom Trinken abhielt. Im übrigen flickte sie mühselig die Lappen einiger verwahrloster Kinder zusammen, wusch und kämmte sie und machte ihnen begreiflich, daß in Rußland deshalb so lange Winter sei, weil Rußland – so wenig Sonnenschein habe.

Der Herr von Eskowo, von dem sie jetzt wußte, daß er ihr Vater war, starb, Anna Pawlowna wurde Herrin, vermählte sich, lebte in Moskau oder Deutschland, oder Frankreich; und – –

Und Sascha kam noch immer nicht zurück!


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