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Zweites Kapitel

In die Stube trat Weras Vater, der Starost Iwan Iwanowitsch Martinow. Es war ein Mann in den Fünfzigern, klein und vertrocknet, gleichsam gedörrt; mit Beinen, die in dem kurzen Oberleib wie falsch eingeschraubt saßen. Sein farbloses Haar hing ihm glatt abgeschnitten bis tief in die Augen, die wie hinter einem Vorhang scheu und tückisch hervorblinzelten, wenn sie nicht den starren, gläsernen Blick des Berauschten hatten. Auch der untere Teil des Gesichts war mit Haaren bedeckt.

Er hatte die Angewohnheit, unaufhörlich zu schwatzen und mit den Armen in der Luft herumzufuchteln, als erlebte er noch immer die schönen Tage der Knute, die er einstmals über die unglücklichen »Seelen« Eskowos geführt hatte. Auch in nüchternen Stunden hatte er einen schleppenden, schwankenden Gang und eine weinerliche Stimme. Da er Tag und Nacht, betrunken oder nicht betrunken, auf dem Ofen lag, so roch er wie ein geräucherter Stör, dessen Farbe er mit den Jahren auch angenommen hatte. Brutal und feig zugleich, käuflich und träge, schmierig an Leib und an Seele, war er der echte Typus des Starosten eines nordrussischen Steppendorfes.

Als er zu seiner Tochter ins Zimmer trat, war seine Stimme gerade im Begriff, sich zu metamorphosieren. Er schluchzte: »Eh, Töchterchen, Täubchen, zur Kirche!«

Wera trat vom Fenster zurück und ging auf den Berauschten zu: »Was soll ich wohl in der Kirche?«

Auf diese Frage war das Väterchen nicht gefaßt. Im Tone tiefsten Überlegens kam es von seinen Lippen: »Eh – was sollst du wohl in der Kirche? Eh?!« Plötzlich fiel es ihm ein: »Trost in Leiden suchen, mein Seelchen,« wimmerte er.

»Trost in Leiden? Der Pope wird kreischen, daß die Leute heute nacht nicht zu viel Branntwein trinken sollen und wird der erste sein, der sich im Straßenkot wälzt.«

Wera sagte das ruhig und gleichmütig, wie eine Sache, die sich von selbst versteht. Sie sah dabei ihren Vater an, mit ihrem gewöhnlichen, tieftraurigen, müden Blick, unter dem Iwan Iwanowitsch sich indessen förmlich krümmte. Doch als Starost von Eskowo mußte er den Popen von Eskowo entschuldigen.

Er tat es aus tiefster Seele.

»Schimpf' nicht auf den Branntwein. Solch guter Branntwein! Mußt den armen Väterchen ihren Branntwein lassen. Was Warmes im Leib; Trost in Leiden.«

Und er begann laut zu schluchzen. Aber auch daran war seine Tochter gewöhnt; ihre Antwort klang, als spräche sie zu sich selbst: »Beim Popen und im Branntwein Trost in Leiden suchen. Alle Tage betrunken, alle Tage eure Weiber schlagen oder euch von euren Weibern schlagen lassen, und dann: Trost in Leiden im Branntwein suchen! Wie soll ich es euch nur sagen, daß wir für unsere Leiden – die groß sind – anderswo Trost suchen müssen, als beim Popen und im Branntwein.«

Der Starost murmelte allerlei Klägliches in den Bart, wobei er unverwandt nach dem festlich gedeckten Tisch hinüberblinzelte, dessen Herrlichkeiten er schon jetzt schmatzend genoß. Der Duft der Kohl- und Fischsuppe durchdrang das ganze Haus. Und da stand ja auch der Kwaß! Die großen Leiden des russischen Volkes kamen dem Starosten von Eskowo in diesem Augenblicke recht erträglich vor.

Die Stimme seiner Tochter riß ihn aus seiner optimistischen Lebensanschauung. Sie konnte so ernst und streng klingen, diese Stimme, ganz anders, als die des Popen.

»Ich habe es Ihnen, Iwan Iwanowitsch, längst einmal sagen wollen. Anna Pawlowna, unsere Herrin, befindet sich in Moskau. Sie hat uns freigegeben; im übrigen kümmert sie sich nicht um uns. Wir sind arm und unwissend, aber wir sind keine Leibeigenen mehr. Sie sind der Starost des Dorfes, Sie sind ein freier Mann, Sie gelten hier etwas, Sie könnten hier Gutes tun. Verstehen Sie mich: Gutes könnten Sie hier tun! Das ist etwas Großes, etwas Heiliges; ja, das ist es. Der russische Bauer hat einen solchen Starrsinn, eine solche Gleichgültigkeit! Ihm ist alles gleich, alles bleibt beim alten. Und doch muß etwas geschehen – was, das weiß ich ja nicht. Aber auch wir müssen etwas tun, sonst wird es schlimmer und schlimmer, wo es doch hohe Zeit ist, daß es besser und besser werde. Trost in Leiden geben, das ist nichts; Hilfe in Leiden, das ist alles. Aber wo ist die Hilfe?«

Sie sah sie nicht, sie sah sie nirgends, unwissend, wie sie war. Der Starost hörte anfänglich voller Zerknirschung zu; als er aber merkte, daß seine Tochter an ihm vorbeiblickte, in die Nacht hinein, schlich er sich zum Tisch und stahl eine Gurke, an der er andächtig saugte, während Wera fortfuhr: »Ich weiß, wodurch es so schlimm bei uns steht: durch die Beamten; sie sind das Unglück von Rußland, Rußlands Elend und Schande; denn vom Starosten angefangen, bis hinauf zum Gouverneur sind es schlechte Beamte. Der Zar soll uns andere Beamte geben, dann wird er ein anderes Volk haben.«

Aber da brach das Väterchen in ein Jammergeschrei aus. An dem letzten Stück der Gurke würgend, ächzte der würdige Beamte von Eskowo: »Wera Iwanowna, Töchterchen; stürze dein Väterchen nicht ins Unglück. Was kann es tun? Darf sich nicht regen, wird unterdrückt, unterdrückt. Und dann nicht mal Trost in Leiden – – «

Schluchzend verstummte er. Sein Blick klammerte sich Hilfe suchend an das Tonfäßchen. Er fühlte sich so elend, daß ihm ganz schwach wurde. Er wankte hin, legte die Hand an den Spund, wandte sich nach Wera um und meinte pfiffig: »Kwaß ist nicht Branntwein. Eh, Töchterchen?«

»Es steht auch Branntwein auf dem Tisch,« erwiderte Wera verächtlich.


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