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Drittes Kapitel.

Voll und feierlich klang das Geläut der Glocken durch die Osternacht. Wera war allein im Hause. Sie versuchte, sich zu beschäftigen, aber es ging ihr alles schwer von der Hand; sie war zu allem so ungeschickt! Ihr einziges Talent bestand in der Sehnsucht: sie sehnte sich unsäglich, etwas zu vollbringen, etwas zu tun, etwas zu helfen – irgend etwas! Sascha, ihr Gespiele, ihr Jugendfreund, der Student in Moskau war, der tat etwas, der vollbrachte etwas, der half, daß in Rußland weniger Unwissenheit und Unfreiheit ward. Aber seit Jahren hatte sie nichts von Alexander Dimitritsch gehört; auch er hatte sie verlassen.

So verzehrte sich denn dieses Mädchen in Sehnsucht nach Taten. Ihr war's, als wäre es auch in ihrer Seele Winter. Wie schön müßte es sein, wenn auch die Menschenseele ihren Frühling bekam, wenn auch in das starre Gemüt des Unglücklichen die Sonne hinein schien, die Eisesrinde des Jammers hinwegtauend: tausend Triebe regen sich, alles drängt zum Licht, hundertfältig sprießt, grünt, blüht es im Herzen.

Die Haustür wurde geöffnet, die Einsame hörte Schritte im Vorraum, und dann von einer sanften, zärtlichen Stimme ihren Namen rufen: »Wera!«

»Ich bin hier, Tania. Komm herein!« Die Tür ging auf und über die Schwelle trat, gleich einem Seraph, der die Osterverkündigung brachte, ein junges Mädchen im weißen Festgewand, eine brennende Kerze in der Hand. Der Sitte gemäß hatte sie für die Osterfeier das Haar aufgelöst; fast bis zu den Knien fiel es in rötlichem Glanz herab, sie hätte sich darin einhüllen können. In dieser strahlenden Umgebung erschien ihr rosiges Gesichtchen wie ein byzantinisches, auf Gold gemaltes Heiligenbild.

»Heilige Osternacht, Wera.«

»Heiliges Auferstehen, Tania.«

Wera ging ihrer Freundin entgegen und führte sie ins Zimmer; dabei rief sie in den dunklen Vorraum hinaus: »Komm doch auch herein, Colja!«

Ein dumpfes Knurren antwortete; dann ein mächtiges Stampfen auf dem harten Lehmboden, ein heftiges Schnauben und Colja kam »auch« herein. Es war der Knecht Tanias, ein ungeschlachter, häßlicher Mensch, der sich in den vierzig Jahren seines Lebens noch immer nicht an sich selbst gewöhnt hatte und aus einem dumpfen Erstaunen über das Riesenmaß seines Leibes gar nicht herauskam. Er schien geboren zu sein, um über jeden denkbaren und undenkbaren Gegenstand zu stolpern; die Dinge schienen nur da zu sein, damit er daran Anstoß nehmen konnte. Dabei sah er sich pflichtschuldigst jedes Ding, das für seinen gewaltigen Körper ein Hindernis abgegeben, aufmerksam an; und selbst bei Sturm und Regen, oder beim härtesten Frost konnte er betroffen werden, wie er tiefsinnig und mit höchster Entrüstung einen Stein, einen Baum oder einen Graben betrachtete, der ihn soeben zu Fall gebracht. War er einmal so glücklich oder so unglücklich, durchaus keinen Gegenstand des Anstoßes zu finden, so wußte er sich nicht anders zu helfen, als unter Aufbietung seiner ganzen Einbildungskraft an allerlei imaginären Steinen und Ecken anzurennen. Ebenso stolperte dieser merkwürdige Mensch über jeden Begriff und wenn es der Begriff war, daß Colja ein Knecht und kein Leibeigener, daß Branntwein ein angenehmes Getränk, Nichtstun eine wunderhübsche Sache sei, und daß die Herrin, das Täubchen Tania Nikolajewna eine – – Aber dafür fehlte ihm überhaupt jeder Begriff, jeder Begriff und jeder Ausdruck. Er hatte einen Mund, so groß, und Augen, so klein, wie das überhaupt nur möglich war. Mit dem Blick eines mürrischen, schläfrigen Hundes pflegte er unverwandt seine junge Herrin anzustarren und sprach er einmal, das heißt, stieß er einmal einige heisere Gurgeltöne aus, so geschah es, um mit seiner Herrin zu reden, oder über seine Herrin lange, unverständliche Monologe zu halten.

Jetzt stand er hinter ihr, in der Nähe der Tür an der Wand lehnend wie der mürrische Trabant einer Elfenkönigin, der seine Gebieterin zu den Menschen begleitet hat und nun Wache hält, daß die Erde nicht den Saum des Kleides Ihrer luftigen Majestät beflecke.

»Wie gut von dir, daß du gekommen bist. Ich fühlte mich gerade recht einsam,« vertraute Wera der Freundin an; durch den Gegensatz mit der Lieblichen erschien Wera noch ernster und herber.

»Ich mußte hier vorbei und wußte, daß du zu Hause bleiben würdest. Colja verriet es mir.«

Sie wandte sich nach ihm um und lächelte den Unhold so holdselig an, daß dieser seine Augen in beängstigender Weise aufriß und es fast zu einer Rede gebracht hätte: »Ja, Tania Nikolajewna, Täubchen –«

Das übrige ging unter in Gebrumm.

Die beiden Mädchen setzten sich und plauderten leise.

»Aber du kommst zu spät zum Gottesdienst,« meinte Wera besorgt.

»Ich schleiche mich wohl noch ein, ohne daß der Pope mich sieht. Du sollst hier nicht so verlassen sitzen.«

»Hat Wladimir Wassilitsch aus Moskau geschrieben?«

»Schon lange nicht mehr.«

»Du brauchst darüber nicht traurig zu sein; er liebt dich zärtlich.«

»Er ist so wild.«

»Er ist der wahre Freund des russischen Volkes.«

»Was tut er in Moskau?«

»Sascha ist ja auch dort.«

»Das ist mein Trost. Sascha ist ein solch guter, starker Mensch. Wo Sascha ist, kann nichts Böses geschehen.«

»Böses? Was redest du?«

»Wera, Wera, was tun sie in Moskau?«

Die Angst erstickte ihre Stimme; aber Wera geriet in Begeisterung: »Was sie tun? Gutes, Großes: sie lernen! Sie, die Söhne von Leibeigenen, unterrichten sich über alles, was der Mensch wissen muß, wenn er in seiner Seele ein freier Mensch sein will. Ich kenne Sascha. Ich weiß, daß er lernt, um helfen zu können. Und du solltest deinen Verlobten besser kennen. Der Name Wladimir Wassilitsch wird für das russische Volk einst der Name eines Helden sein. Und du dann dieses Helden Weib. Du weinst?«

Colja ward an bei Tür unruhig. Er stieß gurgelnde Laute aus und geriet in eine schwankende Bewegung; ganz wie ein Bär. Dann rieb er seine gewaltigen Hände gegen seine Stirn und starrte ingrimmig nach der heiligen Ecke hinüber, wo die Mädchen unter dem Madonnenbilde Platz genommen. Wera saß im Schatten, aber auf Tania fiel der Kerzenschein und verklärte die liebliche Gestalt. Sie hob ihr tränenüberströmtes Gesichtchen zur Freundin auf, ein Bild holdseligsten, hilflosesten Leidens. Colja fühlte einen dumpfen Trieb, zu ihr zu gehen, eine der geweihten Kerzen anzuzünden, sich auf die Knie zu werfen und alles herzumurmeln, was er an Gebeten wußte. Das war freilich nicht viel.

Auf Weras Gesicht war ein Ausdruck tiefsten Mitleids erschienen, welcher die strengen Züge wie ein Schein überflog. Sie neigte sich über die Traurige und flüsterte: »Warum weinst du, Tania?«

»Weil mir so bang ist, weil uns ein großes Unglück bevorsteht.«

»Ich verstehe dich nicht.«

»Wladimir ist so wild, sage ich dir. Er kann so schrecklich hassen.«

»Wen haßt er?«

»Ach, ich weiß es auch nicht; aber ich glaube alle, die das Volk bedrücken. Die Briefe, die er mir bisweilen durch einen Boten zuschickt, sind fürchterlich. Niemals ein Wort von Liebe zu mir; nur von Haß ist die Rede, immer nur von Haß! Er schreibt mir: Ich liebte ihn nicht, wenn ich nicht alle die haßte, die er haßt. Sie wären die Verderber Rußlands.« »Das sind sie!« rief Wera. Sie war aufgestanden. »Sie müßten alle sterben.«

»Sterben?!«

»Alle, alle! Erst dann kämen bessere Zeiten für Rußland, denn dann würde in Rußland das Volk herrschen.«

»Das Volk herrschen? Was versteht das Volk davon? Das Volk weiß ja nicht einmal, was ihm fehlt, weshalb es unglücklich ist. Es müßte dem Volke erst gesagt werden, das Volk müßte erst lernen, nicht unglücklich sein zu wollen. Es regt ja keine Hand, läßt alles gehen, wie es gerade geht, ist ganz dumpf und stumpf. Und dann in Rußland das Volk herrschen! – – Was willst du, Colja?«

Er wollte nichts, gar nichts! Er brummte und murrte nur. Nicht einmal das Glas Kwas, welches Wera ihm einschenkte, wollte er austrinken: Tania Nikolajewna, das Täubchen, schluchzte immer noch.

»Was schreibt dir Wladimir sonst in diesen heimlichen Briefen?«

Sie stand, vergebens bemüht, ihre Aufregung niederzukämpfen, mit angehaltenem Atem auf die Antwort wartend.

»Was er sonst schreibt? Sonst nichts. Es ist immer dasselbe, in jedem Briefe dasselbe. Er wird gewiß recht haben.«

»Er hat nicht recht. Aber Colja, so sei doch still.«

Aber Colja war nicht still; Colja fuhr fort, vor sich hin zu murmeln und zu murren.

»Ich glaube, daß er recht hat,« sagte Tania leise und eine tiefe Röte überzog ihr Gesicht. Die sanften Augen bekamen Fieberglanz, sie erhob sich und trat von Wera fort. Eine Pause entstand. »Wann denkst du, daß dein Verlobter zurückkommen wird?«

»Er wird gar nicht zurückkommen.«

»Nie?«

»Er wird nach mir schicken, wenn er es an der Zeit hält.«

»Und dann?«

»Dann werde ich zu ihm gehen.«

»Aber deine Eltern?«

»Dann werde ich zu ihm gehen,« wiederholte Tania und sie setzte hinzu: »Ich bitte Gott, die Madonna und alle Heiligen jeden Morgen und Abend, daß er bald nach mir schicken möge.«

»Wirst du allein gehen?«

»Colja begleitet mich – natürlich.«

Jetzt kam der große Augenblick: Colja sprach und wie sprach er!

»Colja begleitet sie – natürlich! Wera Iwanowna, Mütterchen, seien Sie unbesorgt: Colja begleitet das Täubchen. Wenn es fortflattert, flattert Colja mit – natürlich! Colja ist ein Knecht, Colja tut, was man ihm befiehlt. Ruft die Herrin: Colja hier! kommt Colja her – natürlich! So ist's.«

Es war die längste Rede, die er jemals gehalten. Vollständig erschöpft sank er gegen die Wand und schloß die Augen. Da hörte er Tania leise auflachen; über Colja – natürlich! Fast hätte er vor Vergnügen mitgelacht. Statt dessen leerte er das Glas Kwas, das er immer noch in der Hand hielt. Jetzt konnte er trinken: Tania Nikolajewna hatte gelacht


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