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Siebentes Kapitel.

Mitternacht war nahe, als die beiden Telegen in der Nowaja Andronowska-Vorstadt, dort wo die letzten Häuser standen, vor einem Gebäude hielten, das mehr Ruine als Haus zu sein schien. Es lag auf freiem Felde, in einem Gemüsegarten ohne Gemüse, und sah so verlassen, elend und verkommen aus wie ein Trunkenbold, der am Wege liegengeblieben ist. Im Hofe befand sich ein zerfallener Brunnen, von dem man sich nicht vorstellen konnte, daß er Wasser zu geben vermöge, und ein verkrüppelter Birnbaum, der sich nicht grün und blühend denken ließ. Die nächste Umgebung des Häuschens bestand aus Kot und Schmutz, dann folgte ein Zaun im letzten Stadium des Verfalls, dann wiederum Kot und Schmutz.

Das trostlose Haus schien seit langem nicht mehr bewohnt zu werden. Die Tür war verschlossen und durch die teils blinden, teils zerbrochenen Scheiben glänzte die helle Nacht in das dunkle Innere. Doch befanden sich im Erdgeschoß einige Fenster, die mit starken Läden versehen waren. Um sich blickend, gewahrte Wera die gewaltige Silhouette des vielkuppeligen Kreml am lichten Himmel, ein Bild von großartiger Schönheit.

Indessen Sascha und Colja das Gepäck abluden, standen die beiden Mädchen im Hofe. Vergebens schaute Tania nach ihrem Bräutigam aus. Das arme Kind bebte wie Espenlaub und hatte die Augen voller Tränen.

Dann fuhren die Telegen fort, dann kam Sascha und führte, ohne ein Wort zu sprechen, die Neuangekommenen um das Haus, zog unter einem Stein einen Schlüssel hervor, mit dem er die Hintertür öffnete. Sie traten ein, in einen finsteren, feuchten Raum. Sascha schloß die Tür, ließ die anderen im Dunkeln stehen und kehrte nach einer Weile mit Licht zurück.

»Er ist fort,« berichtete er mit gedämpfter Stimme, als fürchtete er, belauscht zu werden. »Er wird bei einer Versammlung sein; da kommt er vor Tag schwerlich zurück. Es gibt so viel zu beraten für das Voll und gegen unsere Feinde. Keiner tritt so auf für die Rechte des Volks und gegen unsere Unterdrücker wie Wladimir Wassilitsch. Aber kommt doch herein.«

Sie folgten ihm in einen großen, öden Raum mit nackten, grauen Wänden, schmierigem Fußboden, und nur mit den notwendigsten Gerätschaften versehen: einem Tisch, einem Schrank und einigen mit roter Farbe angestrichenen Stühlen aus Birkenholz. Es war das Zimmer des Hauses, welches von innen Fensterläden verwahrten.

»Unser Arbeitszimmer,« erklärte Sascha mit einer Handbewegung, als stelle er den Angekommenen jemand vor. »Ihr glaubt nicht, was für ein behaglicher Raum es ist; besonders im Winter. Der Ofen heizt vortrefflich. Und wenn der Wind um das Haus fährt und der Schnee sich bis zu den Fenstern auftürmt, und wenn man dann denkt, daß man eigentlich ebensogut draußen sein könnte, und wirklich so viele draußen sind bei Sturm und Schnee – ihr glaubt nicht, wie behaglich es dann hier ist.«

»Gewiß glauben wir das,« sagte Wera im Tone größter Zuversicht. »Es scheint ein vortreffliches Haus zu sein. Wem gehört es?«

»Anna Pawlowna,« erwiderte Sascha, und ward rot vor Vergnügen über das dem Hause gespendete Lob. »Es ist die Wohnung eines ihrer Gärtner. Als der Mann starb, schenkte sie es uns. Sie ist so gut, sie tut so viel Gutes, sie liebt das Volk so sehr. Und dann – Welcher Polizist wittert Propagandisten in einem Hause, das Anna Pawlowna gehört? Wir sind hier ganz sicher. Anna Pawlownas Name verschafft uns völlige Sicherheit. Es ist nicht zu sagen, wie viel Gutes sie uns erwiesen hat und fortwährend erweist.«

Wera stand in der Mitte des Zimmers. Sie sah nicht dessen Trostlosigkeit, ihr schien es ein Heiligtum, denn hier arbeiteten die Ihren! Hier arbeiteten sie für das Volk. Hier würde sie arbeiten – für das Volk!

Die arme Tania war nahe daran, von neuem in Tränen auszubrechen, weil Wladimir nicht da war. Sie blickte hilflos um sich. Nur Colja schien an sie zu denken – natürlich! Wenigstens stand er da und starrte sie an. Sie nickte ihm zu und versuchte ein freundliches Gesichtchen zu machen.

Indessen fuhr Sascha fort, das Haus zu rühmen.

»Laßt es nur erst Sommer werden, dann ist es hier draußen prächtig. Wenn es in der Stadt nicht mehr auszuhalten ist, haben wir hier die beste Luft. Tania Nikolajewna kann sogar im Grase Blumen pflücken; Gänseblümchen und Stiefmütterchen – wahrhaftig! Beim Birnenbaum habe ich rote Bohnen gepflanzt, sie müssen schon aufgegangen sein. Denkt euch, wie schön es aussehen wird: der Baum ganz von brennendroten Blüten umsponnen. Und dann die Bohnen! Wera Iwanowna kann Bohnen brechen, als ob sie in Eskowo wäre. Einen Teil davon kann sie für den Winter trocknen, den anderen verspeisen wir frisch, mit Hammelfleisch und Zwiebeln. Das wird schmecken!«

»Es ist alles sehr schön, wir werden alle sehr glücklich sein,« bekräftigte Wera mit starker Stimme.

»Das habe ich ganz vergessen,« rief Sascha etwas unsicher. Bevor ich an euch abgesandt wurde, kaufte ich herrlichen Kattun zu Vorhängen für die Fenster, gelb mit roten Rosen, eine wahre Pracht! Wladimir Wassilitsch schalt mich deswegen. Er nennt nämlich dergleichen Dinge Überfluß und wollte mir nicht erlauben, die Vorhänge aufzustecken. Aber Tania Nikolajewna wird ihn darum bitten, dann gestattet er es gewiß, und dann leben wir hier wie in einem Schlosse. Es ist wirklich sehr edel von Anna Pawlowna, daß sie uns hier wohnen läßt.«

Wera pflichtete ihm bei. Sie tat es aus vollster Überzeugung.

»Doch ihr müßt Hunger haben. Ich werde gleich den Samowar aufstellen; auch ein Geschenk Anna Pawlownas. Etwas Brot und Fleisch wird sicher auch da sein.«

Er ging zum Schrank und kramte allerlei Speisereste hervor. Wera hatte bereits den Samowar entdeckt und suchte jetzt nach Geschirr; es waren jedoch nur ein Topf und ein Glas zu finden. Colja wurde nach dem Brunnen geschickt, um Wasser zu holen.

Während Wera den Samowar herrichtete – einige glühende Kohlen hatten sich in der Küche auf dem Herde gefunden – machte Sascha die Mädchen mit ihrem zukünftigen Wohnorte näher bekannt.

»Wir Männer schlafen oben, ihr schlaft nebenan;« er deutete auf eine rot angestrichene Tür. »Es ist Platz genug im Hause. Wenn Wladimir Wassilitsch und Tania Nikolajewna sich – –« Er stockte, errötete, geriet ins Stammeln, fuhr, mühsam nach Worten suchend fort: »Gewiß; Platz ist genug! Vielleicht werden Wera oder ich selbst vom Komitee verschickt, irgendwohin. Dann müssen wir gehen. – – Habe ich euch schon gesagt, daß im Hofe Kohl wächst? Auch Gurken und ein Stachelbeerstrauch! Es ist wunderhübsch. Da kocht bereits das Wasser.«

Sie setzten sich, aber nur die Männer aßen. Wera war derartig von ihrem neuen Leben erfüllt, daß sie für nichts anderes Sinn hatte. Am liebsten hätte sie augenblicklich zu »arbeiten« begonnen. Sie konnte keinen Bissen anrühren und bemerkte nicht, daß Tania ihr stumm und blaß gegenüber saß. Colja räumte gewaltig unter den Speiseresten auf, ganz gegen seine Gewohnheit aufgeregt schwatzend, was niemand verstand, und immerfort Tania anblinzelnd. Sascha sprach mehreremal von den »Unseren« und der »Sache«, wobei er sich mit dem Samowar zu schaffen machte, den er besonders in sein Herz geschlossen zu haben schien und auf den er ungemein stolz war.

Sehr bald standen die Mädchen auf und begaben sich mit einem Licht in die Kammer, deren Tür sich nicht verschließen ließ. Kaum waren sie fort, als Colja mit einem heftigen Ruck seinen Stuhl neben den Saschas setzte, diesen vertraulich mit dem Ellbogen in die Seite stieß und ihm begreiflich zu machen suchte, daß er trotz der »Unseren« und der »Sache« über das Täubchen Tania Nikolajewna wachen würde, und sollte er dabei die »Unseren« und die »Sache« totschlagen müssen »wie einen Hund, Brüderchen.« Mit zugekniffenen Augen Sascha verständnisvoll zunickend und freundschaftlich angrinsend, wobei zwischen den Zotteln seines Bartes sein gewaltiges Gebiß hervorblinkte, zeigte er pantomimisch, wie er einen Hund totschlug: »So, Brüderchen. Und hin bist du.«

Die Männer saßen noch am Tisch, als Wera zurückkam, zum Ausgehen gerüstet. Sie flüsterte aufgeregt: »Sie schlief ein, überdies bleibt Colja bei ihr. Du wirst gewiß noch Wladimir Wassilitsch und die Unseren aufsuchen wollen. Sie beraten ja wohl? Ich bin gar nicht müde. Willst und darfst du mich mitnehmen, so laß uns gehen.«

Er durfte sie mitnehmen, tat es aber nicht gern. Weras Art gegenüber war aber nichts anzufangen, Sascha brauchte eine Weile, bis er sich bedacht und entschlossen hatte; dann gingen sie.

Sie passierten den Rogaschskaja-Schlag und begaben sich an dem Nischgorod-Bahnhofe vorbei in das Straßengewirr zwischen dem Prokowsky-Kloster und dem Tajanskaja-Platz. Durch ein Labyrinth von Gassen, in denen sich viele Blockhäuser befanden, gelangten sie nach halbstündiger schweigsamer Wanderung zu einer Teeschenke. An dem Eingang, aus dem Geschrei und Gelächter hervordrang, vorbeigehend, pochte Sascha zweimal leise an eine kleine Tür, welche sich sofort öffnete und hinter ihnen wieder zuschlug. Finsternis umgab sie. Sascha faßte Wera bei der Hand und tastete sich mit ihr die Wand entlang. Nach einer Weile vernahmen sie das Geräusch gedämpfter Stimmen. Es ging eine steile, hölzerne Treppe hinab, bis eine Mauer sie zum Stehenbleiben zwang. Sascha stieß eine Tür auf und Wera sah bei der trüben Beleuchtung einer Petroleumlampe, in einem von Tabakdämpfen erfüllten, kellerartigen Raum ungefähr vierzig Personen, Männer und Frauen durcheinander.

Es waren die »Auferstandenen«.


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