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Dreiundzwanzigstes Kapitel

Die Ernte des Sommers war beendet, und der Schnee des Winters hatte angefangen. Er war gefallen und auch wieder geschmolzen, und nun grünten die Wintersaaten aufs neue frisch. Unabsehbar wogend, Wellen schlagend im Wind wie ein grünes Meer, breitete sich die große Ebene. Przyborowo, Chwaliborczyce, Niemczyce, Pociecha-Dorf und Pociecha-Kolonie – überall strotzende, frühlingsschwellende, zu Hoffnungen berechtigte junge Saat.

Der Ackermann schritt pfeifend die Furchen auf und ab, blitzend riß die Pflugschar der Erde ins Herz; unermüdlich bückten sich die Weiber im Feld und setzten Kartoffeln und Rüben in der Scholle wohlvorbereiteten, empfänglich warmen Schoß.

Überall Werden, überall Hoffen. Das Abgetane im alten Jahr ward wieder neu im neuen Jahr. Kein Keim in der Erde, der sich nicht geregt hätte, sich nicht gezeigt hätte am Frühlingslicht.

Auf dem Lysa Góra hatte die wetterzerzauste Kiefer, die wie ein Merkzeichen ins Land hineinragt – ein preisgegebener, einsam gestellter Baum –, auf die dunklen Äste, die bärtiges Moos umlappte, neue Kerzen gesteckt, hellgrün und saftig. Sie streckten sich lustig hinein ins Sonnenlicht und badeten sich frei in der Frühlingsluft und schienen sich ihres jungen Lebens zu freuen. Die ganze Natur freute sich.

Um die Herrenhöfe, die wie kleine baumbestandene Inseln im alles bespülenden Meer der endlosen Felder schwimmen, knospten Pappeln und Akazien; an den nackten Ästen zeigten sich die ersten Blätter, und unter den Hecken der Gärten, in Bosketts und Rondellen dufteten Veilchen.

Im Park von Deutschau wanden die Kinder Sträuße und Kränzchen von den kleinen blauen Blumen und legten sie ihrem Vater aufs Grab. Der lag jetzt bei dem Großvater und dem Urgroßvater am See unterm Stein.

»Euer lieber Vater ist schlafen gegangen«, hatte Helene ihren Kindern gesagt. Mehr nicht. Noch konnte sie nicht mehr sagen, die Stimme wäre ihr gebrochen. Aber die Zeit würde kommen, da sie zu ihren Söhnen sprechen würde und stark dabei sein: ›Erwachet, nun ist es an euch!‹ –

Still spann sich das Leben auf Deutschau weiter. Man begegnete der Witwe mit viel Freundlichkeit, und Hoppe diente ihr treu.

»Gott sei Dank!« In einem tiefen Gefühl des Dankes legte die Witwe ihre Hände zusammen: sie würde den Knaben das Erbteil ihres Vaters erhalten. Und hier bleiben sollten sie. Nein – nicht wie Paul ihr damals geraten hatte, als er am Grabe des Freundes gestanden und die Tränen ihm in den zuckenden Schnurrbart gelaufen waren – nicht ins Kadettenkorps und dann ins Heer. O nein! Hier, hier sollten sie aufwachsen. Arbeiten lernen mußten ihre Hände, damit sie kräftig wurden wie die des Volkes. Damit sie dereinst auch stark genug waren, festzuhalten, was in sie gelegt war!

»Wie Sie meinen, Helene«, hatte Paul Kestner heute gesagt. »Und Sie mögen recht haben. Wenn mein Vater gedacht hätte wie Sie, so ginge jetzt vielleicht nicht das ewige Lied von ›Przyborowo verkaufen‹, ›Przyborowo losschlagen‹, losschlagen à tout prix. Dann würde ich's vielleicht lieben!«

» Unsre Kinder werden das Land lieben«, sagte Helene fest.

Es war dem Rittmeister eigentümlich durch und durch gegangen, als er sah, wie die geliebte Frau im tiefen Schmerz sich über die Grabstätte neigte. ›Unsre Kinder werden das Land lieben‹ – war es nicht, als gelobte sie es dem da unten wie etwas, was er zu verlangen hatte?! Sie stand und hatte ihre Hand auf die Steinplatte gestützt.

So stand sie noch, solange er sie sehen konnte, mitten im treibenden Grün. Und er hatte sich oftmals umgedreht. Der Abschied war ihm sehr sauer geworden. Eigentlich hätte er schon auf dem Wege zur Bahn sein müssen; sein Urlaub, den er zum Osterfest genommen hatte, ging heut abend zu Ende, er mußte schleunigst den Nachtzug benutzen, zurück in die Garnison.

Der am Vormittag ganz heitre Himmel hatte sich umzogen, als Paul Kestner zur Eisenbahn fuhr. Ein bleiernes Grau spannte sich über die Weite, in farbloser Monotonie lagen die Felder. Himmel und Acker, nichts als Acker und Himmel. Alles grau und ein paar kaum sichtbare graue Hütten darin. Und dieses Grau beschlich auch sein Herz. So weit der Himmel und so weit die Erde! Das war eine Melancholie sondergleichen, ein Armsein an Schönheit, das er nicht mehr vertrug. Er gähnte und zündete sich eine Zigarre an: Gott sei Dank, daß er nun wieder in die Garnison kam! Nein, auf die Dauer war's hier nicht auszuhalten! Unmutig schleuderte er die eben angezündete Zigarre aus dem Wagen und schrie dem Kutscher zu: »Schneller, fahre schneller, du Schlafmütze!« Wahrhaftig, den armen Hanns-Martin hatte das hier auch geliefert. Armer Kerl!

Der Rittmeister schüttelte den Kopf und versank in Gedanken. Er hatte nicht acht, daß eine Britschka hinter ihm drein rasselte – nein, nicht nur eine, es waren der Gefährte drei, vier.

Von Pociecha-Dorf ab waren sie der Räderspur des Herrschaftswagens gefolgt. Auch sie wollten zur Eisenbahn; auch sie jagten, als sei jede Minute Aufschub ein Schaden, als seien sie gar nicht rasch genug zu passieren, diese tief ausgefahrenen Geleise und hier diese aufgeschütteten Schotterdämme. Zusammengedrängt fuhren Burschen und Mädchen, dicht aufeinander gepfercht mit Sack und Pack. Auf ihren Bündeln kauerten innen die Weiber, die Tücher tief in die Stirnen gezogen, blöd und stumm wie das Vieh, das verladen wird. Aber die Burschen, die vorne und hinten aufhockten, johlten laut. Sie hatten noch wacker getrunken im Krug beim Eiweih, der Agent hatte spendiert. Heißa, mochten andre daheimbleiben im armseligen Nest! Wenn sie nun wiederkamen, Geld in der Tasche, neue Kleider auf dem Leib, bunte Tücher im Knopfloch, dann würden sie spendieren, dann hatten sie ja was. Dann würden sie auch etwas draufgehen lassen: Gulden und Taler, Scheine und Gold – es kam gar nicht darauf an – und trinken, tanzen und von der Welt erzählen, der bunten, lustigen, reichen Welt. Da mußte man wohl arbeiten, aber lange nicht so schwer wie hier. Und man wußte doch auch: wofür. Draußen war alles viel besser, alles vieltausendmal besser als hier!

»Heißa!« schrien sie aus voller Kehle und pufften jubelnd die blöden Mädchen. Und diese erhoben auch ihre Stimmen: »Heißa!« Und ein Singen war auf den Wagen, ein Lachen und Schreien, daß der Agent, der, in städtischem Paletot, die erste Britschka lenkte, sich schmunzelnd umdrehte: 's erste Geschäft auf eignes Risiko, 'n feiner Schub, 'n feines Geschäft! Nu, sollte er, der Isidor Scheftel, der Sohn des Löb Scheftel aus Miasteczko, nicht kennen seine eignen Landsleute? Wenn die kamen morgen so lustig zur Ablieferung – frische Ware, gute Ware – was verdiente er da?

Er rechnete und schmunzelte in sich hinein, und schmunzelte und rechnete wieder und schnalzte mit der Zunge und rief zwischendurch:

»He, noch so 'n Lied, noch so 'n schönes Liedchen! 'n feines Lied, 'n lustiges Lied! Werdet ihr kriegen 'ne Gurke, 'nen Hering, soll mer's nicht kommen drauf an, euch zu spendieren 'n Schnäpschen in Posen. Wer ich euch geben lassen 'nen Kaffee, wenn wir werden sein in Berlin. He, singt!«

Ein Schnäpschen, einen Hering, eine Gurke, einen Kaffee in Berlin – heißa!

Und sie sangen alle und schauten vorwärts.

Nur eine sang nicht, und die hatte doch eine gute Stimme, hatte früher so hell gesungen wie die Lerche am Ackerrain, wie die Wachtel im Korn. Das war die Michalina. Auf dem letzten Wagen saß sie, ganz zu hinterst, und hatte ihr Bübchen auf dem Schoß. Auf ihrer Lade kauerte sie, aber verkehrt herum: den Rücken nach der Fremde, das Gesicht zurück in die Heimat gewendet. Durch den Schleier, den die Regenschauer vor ihre Blicke hingen, sah sie fern den Lysa Góra wie einen Schatten schwinden. Und Großvater Dudeks Hütte bei den Pappeln von Chwaliborczyce und die Akazien von Przyborowo sah sie, und dort – noch nicht weit und doch schon so ewig weit – das Haus der Ansiedlung, darinnen sie gewohnt hatte. Und den neuen Krug mit dem Ziegeldach sah sie wie einen brennendroten Fleck und die Saatfelder und die Kleebreiten, die Kartoffeläcker und grünen Raine und den Turm, den schwarzen Turm von Pociecha-Dorf, und den Kirchhof, darauf Großmutter Nepomucena schlief, die Heiligenbilder und Meilensteine und alle, alle Wege, über die sie so oftmals gehüpft war. Und dort – wie einen tiefblauen Strich, dort, ganz hinten, wo Himmel und Erde ineinander flossen – den Wald, die Kiefern von Chwaliborczyce! Und davor, ach, davor –?!

Tief aufseufzend schauderte Michalina, und dann weinte sie plötzlich laut auf und streckte ihre Hände zurück: dort war er versunken, untergegangen! Helfe ihm Gott!

»Daß Gott uns allen helfe!« Und sie bekreuzte sich und das Bürschchen und dachte daran, was der Jendrek ihr geschrieben. Ihr guter Bruder! Entgegenkommen wollte er ihr bis Berlin und sie und das Kind mit sich nehmen dahin, wo er Arbeit gefunden hatte und es ihm sehr gut ging, und wo es ihr auch gut gehen würde, ihr und dem Bübchen. Freuen mußte sie sich doch: zum Jendrek, zum Jendrek! Warum trauern? Was ließ sie denn hier? Nicht viel, oh, nicht viel! Eigentlich gar nichts, denn die Bräuers würden nun auch bald fortziehen, der Dienstherr hatte seine Stelle verkauft. An den Rhein würden die zurückziehen, woher sie gekommen waren. Und die Ihren – ach, die waren ihr fremd geworden! Was sollte sie nun noch hier so ganz allein?!

Und doch weinte die treue Michalina und streckte ihre Hände verlangend zurück – alles schwand, alles schwand wie ein Traum und blieb doch im Herzen ewig lebendig.

 

Über singende Auswandrer prasselten Regenschauer nieder, und dann stach wieder die Sonne, und der Himmel lachte hell, grau und blau in ewigem Wechsel.

Nur der Turm von Pociecha-Dorf ragte gleich schwarz, ob bei Sonne, ob bei Regen. Und schwarz auch, wie ein Schatten mitten im umflutenden Licht, stand der Vikar vor der Tür der Propstei. Da war kein Vorüber, das er nicht hörte.

Ob nun die Garczyñskis zur Bahn rollten – Herr von Garczyñski saß im Reichstag, und Frau von Garczyñska besuchte oft die Residenz, auf dem Rücksitz der Equipage, dem jungen Herrn gegenüber, saß wieder wie einstmals die blonde Stasia – oder ob Pan Szulc mit Fräulein Kestner vorüberritt – oder ob die Herren von der Kommission gen Chwaliborczyce rasselten, die dort bereits in Angriff genommene Parzellierung zu beaugenscheinigen – oder ob Lehrer Ruda vorüberwankte – oder die Ciotka vorbeitrollte, hinter der die Schulkinder johlten – oder ob Löb Scheftel handeln ging – der geistliche Herr kannte sie alle. Alle.

Und er sah den Auswanderern nach und den Einwanderern entgegen. Die holprigen Wege, über die um Ostern die Jugend des Landes auszog, fremde Ernten zu beschicken, zogen fremde Schnitter ein, die heimische Ernte zu schneiden. Neue Ansiedler kamen. Und in Staub und Sonnenglut und Dürre, so wie sie einstmals eingezogen waren, zogen die Bräuers wieder aus.

Ein Tag war's wie ehedem, und doch war's nicht so. Einer fehlte bei ihnen. Und das war schlimmer, als daß die Sonne unbarmherzig brannte und kein Schatten am Wege war.

Peter Bräuer saß stumm in der Britschka, hielt die Hand seines Weibes in der seinen und ließ den Kopf auf die Brust hängen. Er sah nicht ein einziges Mal zurück nach dem Haus, das er gebaut, das er drei Jahre bewohnt hatte – drei Jahre zwar nur, aber Jahre, die doppelt und dreifach zählten an Erfahrung und Leid. Er hatte keinen Blick mehr für die im Sonnenglanz so golden schimmernden Felder. Er hatte zuviel hier verloren – würde sein Blick je wieder heiter werden?

Frau Kettchen sann still vor sich hin; langsame Tränen tropften ihr übers Gesicht, aber ihr Mund lächelte doch ein wenig. Plötzlich stieß sie ihren Mann an: »Peter! Peterken!« und streckte ihren Finger aus wie: sieh da! Die Mädchen der Bräuers reckten neugierig die Köpfe.

Aus dem wogenden Kornfeld – dort an der Ecke, am Kreuzarm des Weisers, wo sich die vielen Wege verzweigen – dort war eine Frau aus den Ähren getreten. Hell ihr Gesicht, hell ihr Haar, golden wie reifer Weizen. Sie sagte:

»Guten Tag!«

Und Frau Kettchen streckte die Arme aus und verlangte anzuhalten: der Frau da mußte sie die Hand reichen. Und wenn die auch eine vornehme Dame war, vornehmer als alle hier ringsum, ein ›Adjüs‹ mußte sie der doch noch sagen!

Helene von Doleschal trat an die Britschka.

»Sie wollen auch fort?« fragte sie und musterte den Karren mit allerlei Gepäcksel, der dem Korbwagen nachfuhr.

»Ich hab meinen Sohn hier verloren«, sagte Peter Bräuer finster und runzelte die Stirn, »et is mich verleid't hier. Gott sei Dank, dat ich loskomm!«

Und Frau Kettchen, mit einem mitleidigen Blick das schwarze Kleid der Dame streifend, sprach leise: »Wer hätt hier nix verloren! Adjüs, Madam! Wir gehen fort, Sie bleiben hier – Gott tröste Sie!«

Helene nahm die Hand der Ansiedlersfrau und drückte sie: »Gott tröste auch Sie!« Da sah sie, die Frau war in Hoffnung. Und sie drückte noch einmal warm deren Hand und reichte dann auch dem Mann ihre Rechte: »Leben Sie wohl!«

Und sie sah der davonrollenden Britschka und dem polternden Karren nach, bis beide verschwunden waren hinter einer Wehe von Staub, hinter einer Woge von goldenen Ähren.

Ihr Gesicht war ernst, aber nicht traurig: auch die zogen fort, alle zogen fort – nur sie blieb hier, mußte hierbleiben. ›Sie bleiben hier‹ – wie mitleidig das die Frau gesagt hatte!

Warum? Blieb sie denn nicht gern hier?

O ja! Und doch – ein Schatten zog über ihr Gesicht – so allein zu bleiben, war schwer!

Ihre Brauen schoben sich zusammen, wie suchend sah sie sich um: allein, ringsum nichts als die große Weite, schlafend im Mittagszauber. Aber war sie denn wirklich allein geblieben?! Sie fühlte ihr Herz klopfen.

Horch, da plötzlich ein jauchzender Ruf, helles Lachen, die Stille durchschmetternd wie Trompetenfanfare!

Gott sei Dank, das waren die Knaben, ihre Knaben!

»Kinder, wo seid ihr?«

In den Ähren rauschte es, rasch kamen die fünf gesprungen, blühend und frisch, und umringten ihre Mutter:

»Mutter, hier sind wir!«

Da lächelte die Witwe Hanns-Martin von Doleschals, und inmitten ihrer jungen Schar ging sie durch reifende Ähren der Ernte entgegen.

 


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