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Neunzehntes Kapitel

Ostern war vorüber, Doleschal war aber nicht zum Fest zu den Seinen zurückgekehrt, wie er beabsichtigt hatte. Er schrieb Helene, es sei ihm nicht möglich, sich schon sobald loszumachen, war man doch in Berlin ungeheuer entgegenkommend gegen ihn. Er bat seine Frau, es ihm nicht zu verübeln, daß er das Fest nicht mit ihr und den Kindern verlebte, sein Herz hing daran – aber durfte er seinem Gefühl, einem Wunsch, der rein privater Natur war, soviel nachgeben? Nein, das durfte er nicht. Er mußte fernbleiben in Tagen, an denen er seinen Knaben sonst immer selber die Ostereier versteckt hatte im ersten frischtreibenden Buchsbaum der Gartenrabatten. Er mußte ein Diner besuchen, das einer der Hauptführer der hakatistischen Bewegung, Großgrundbesitzer und Parlamentarier, am ersten Osterfeiertag gab.

›Das ist zu wichtig für mich‹, schrieb er.

›Geliebte Frau, verstecke Du unsern Kindern die Ostereier – morgen wird das Kistchen ankommen, ich schicke die schönsten, die ich in Berlin bekommen konnte – und denke Du dabei an mich!

Sage auch den Knaben, daß sie an mich denken. Euer Vater mußte noch in Berlin bleiben, sage ihnen, aber ist doch bei euch, im Geiste um euch. Für euch bedacht, daß einmal ein Ostern komme, wie der Lysa Góra noch keines geschaut hat. Das werden sie natürlich nicht verstehen – können es ja auch noch nicht verstehen – wenn ich zwar glaube, daß unsern Hanns-Martin doch eine Ahnung davon überkommen wird, was es heißt: vom Lysa Góra auf deutsches Land blicken, auf lauter ganz deutsches Land, wenn Du, gute Mutter, ihm das in Deiner Weise erklärst.

Geliebte Frau, ich schreibe in einer gehobenen Stimmung, die Worte fließen mir nur so zu. Gestern abend traf ich mit mehreren famosen Leuten beim Landwirtschaftsminister zusammen; natürlich war's keine Gesellschaft, nur eine zwanglose Teestunde. Es tut doch wohl, unter Gesinnungsgenossen zu sein, es erquickt an Leib und Seele. Heute morgen beim Rasieren sah ich mich im Spiegel, ich war erstaunt: Du kannst es glauben, mir ist, als wäre ich um zehn Jahre jünger geworden.‹

Helene lächelte, als sie diesen Brief las. Sie freute sich für ihren Mann: wie voll von Hoffnungsfreudigkeit war er! Aber doch war Wehmut in ihrem Lächeln, und die Wehmut wurde Herr über das Lächeln. Die Hände, die den Brief hielten, in den Schoß sinken lassend, neigte sie das Haupt: wie würde Hanns-Martin die Enttäuschung ertragen? Denn die würde kommen. Die schien ihr so unausbleiblich, wie heute auf den grellen Sonnenschein, der jetzt, Ende März, fast sommerlich sengend niederstach, ein Regenschauer. Gewitterig dünkte sie der Himmel, sie sah eine gefährliche Wolke überm Lysa Góra geballt. Ach, wenn doch Hanns-Martin sich nicht zu sicher in Hoffnungen wiegen wollte!

Hätte Helene es begründen sollen, woher ihr jetzt oft die trüben Gedanken kamen, so hätte sie es nicht gekonnt; ihr liebendes Herz ängstigte sich eben um ihn. Würde es ihn nicht treffen bis in die tiefste Seele, wenn man den Polen ihm vorzog? Wenn er es ihr auch selbst gesagt hatte, daß seine Kandidatur durch Garczyñski stark gefährdet sei, überzeugt von seiner Niederlage war er doch keineswegs. Und auch, wenn er nun wirklich gewählt werden sollte, war er denn der Berufene, das Ziel zu erreichen?

»Deutsches Land, ganz deutsches Land – ach, lieber Gott!«

Die blonde Frau faltete die Hände über dem Brief und schaute träumerisch durchs Fenster über die Fläche des Sees hinüber zum ragenden Lysa Góra.

Der schaute noch in polnisches Land, in ganz polnisches Land.

Und konnte denn auch ein einzelner Mann, wirklich einer allein, so vieles ausrichten, so Großes erreichen?

Wie in banger Frage hingen ihre Augen am Berge. Lange sann sie, dann schüttelte sie den Kopf: ach nein, ein einzelner konnte das niemals! Da mußte schon ein Heer auferstehen, wie das polnische Volk sich eines erhoffte, dort aus dem Schoße des Lysa Góra. Pelasia, die alte Amme, hatte die polnische Sage den Knaben erzählt.

Aber sie – entschlossen stand Helene rasch auf – sie, als Mutter, würde jetzt zu den Knaben gehen und ihnen auch etwas erzählen: vom Vater, vom deutschen Land, und von – sie zögerte noch einen Augenblick und überlegte: wie sollte sie es ihnen denn verständlich machen, den jetzt noch unmündigen Kindern? –, nun, von der Pflicht würde sie ihnen sagen und immer wieder sagen, die jedem von ihnen einst oblag, und die er schon begreifen lernen mußte von klein an.

Helene lächelte. Ihr eben noch so trübes Gesicht war übersonnt von diesem Lächeln, wie von Frühlingsschein die Flur.

Es war etwas Strahlendes um die Mutter, die zu ihren fünf Söhnen ging.

 

›Bleibe‹, hatte Helene von Doleschal ihrem Mann auf seinen Brief geantwortet. ›Bleibe ruhig noch in Berlin, wenn Du meinst, daß es von Nutzen ist. Die Kinder gehorchen mir, und wir denken Deiner allezeit.‹

So war er sogar noch ein paar Tage über das Fest fortgeblieben. Das hatte er wirklich nicht erwarten können, daß man ihm soviel Freundlichkeit in Berlin entgegenbringen, überhaupt dort soviel Interesse zeigen würde für die Verhältnisse in der Provinz.

Er, der so lange einsam auf seiner Insel gesessen, hatte doch davon keine Ahnung gehabt, wie die Wellen, die am Lysa Góra brandeten, auch in der Reichshauptstadt anspülten. Man drückte ihm warm die Hand und glaubte ihm versichern zu dürfen, daß man alles daran setzen werde, seiner Wahl nachzuhelfen. Er hetzte sich unendlich ab in diesen Berliner Tagen. Dahin – dorthin – immer noch gab es einen Weg, einen Besuch, eine Konferenz, aber er fühlte nichts von jener Müdigkeit, die ihm auf seinen Feldern so oft die Füße gelähmt hatte und den Mut auch. Elastisch überwand er die Anstrengung, und als er endlich im Coupé saß, um wieder nach Hause zu fahren, hatte er schon das beseligende Gefühl eines halben Sieges.

Er hatte Helene nicht bestimmte Nachricht über seine Ankunft zukommen lassen, nur geschrieben, er würde noch telegraphieren. Aber dann hatte er auch das nicht getan – wozu? Er würde lieber in der Kreisstadt einen Wagen bestellen, und während dieser angespannt wurde, die Gelegenheit wahrnehmen, um ein paar Augenblicke bei seinem Freunde, dem Landrat, vorzusprechen. Es drängte ihn, diesem sofort von der erfolgreichen Reise zu berichten.

Es war in Berlin schon recht frühlingsmäßig gewesen, der Winterpaletot war lästig geworden; auf allen Schmuckplätzen und in der Siegesallee hatten die Ziersträucher gegrünt, aus den Körben der Händlerinnen waren Wolken von Veilchenduft aufgestiegen.

Doleschal war schon am frühen Morgen, am geöffneten Fenster sitzend, abgefahren, aber noch war er nicht drei Stunden unterwegs, als er das Fenster schloß. Je weiter nach Osten, desto niedriger die Temperatur. Ein scharfer Wind wehte erkältend. Noch hatte man Posen nicht erreicht, als Doleschal den als lästig oben ins Netz geschleuderten Winterpaletot wieder anzog; ihn fröstelte, und ein Unbehagen kroch ihm über den Rücken. War denn die Temperatur wirklich so erheblich kühler hier, oder ließ nur die Angeregtheit, in der er sich befunden hatte, plötzlich nach?

Der Blick, der bald durchs Fenster links, bald durchs Fenster rechts schweifte, sah nichts als Felder, Felder, Felder. Wenige Bäume, wenige Häuser, wenige Menschen. Die große Monotonie des Ostens war da. Und wo der Zug hielt, fremdartige Stationsnamen – das Reich des Ostens war da.

Die Stirn runzelnd saß der deutsche Mann, und die lähmende Traurigkeit, die er schon glaubte ganz abgeschüttelt zu haben, war auch plötzlich wieder da.

Oh, wie grau war der Himmel! Und jetzt – war's möglich? Wahrhaftig, hier schneite es noch! Regen mit Schnee untermischt ging in dichten Schauern nieder, und der Wind, der ungehindert über die weite Fläche schnob, peitschte sie gegen das Fenster.

Ein Gefühl grenzenloser Vereinsamung überkam den ganz allein im Coupé Sitzenden. Wie dumm war es von ihm gewesen, nicht Paul Kestner von seinem Aufenthalt in Berlin wissen zu lassen! Vielleicht wäre der jetzt auf ein paar Tage mit nach Hause gefahren. Und wie töricht, Helene nicht zu benachrichtigen! Nun würde kein Wagen an der Bahn sein, und sonst wäre Helene sicher dagewesen, ihn abzuholen; er hätte ihre Hand ein paar Stunden früher in der seinen halten können.

Die Sehnsucht, die bis jetzt zurückgedrängt gewesen war, scheinbar geschlafen hatte, regte sich. Hätte er ihr doch depeschiert! Aber nun war's zu spät; auch wenn er von Posen aus ein Telegramm schickte, konnte sie doch auf den schlechten Wegen nicht mehr zur rechten Zeit mit dem Wagen an der Bahn sein. Allein mußte er ankommen, wieder allein sein, wie immer. In einem Gefühl der Verbitterung, so weggesetzt zu leben, so fernab der Kultur, schloß er die Augen und drückte die von einem dumpfen Schmerz befallene Stirn gegen das Polster.

So fuhr er in der Kreisstadt ein; den Paletot zugeknöpft, den Kragen hochgeschlagen, schritt er vom Bahnsteig.

Bekannte Laute grüßten ihn wieder. Alles polnisch: ›Was befiehlt der gnädige Herr? Dem gnädigen Herrn zu dienen! Falle zu Füßen, gnädiger Herr!‹

Über den bespuckten Flur schritt er durchs Bahngebäude nach der Straße.

Dort saß eine Hökerin mit einem Fäßchen auf der untersten Treppenstufe des Portals, ein triefäugiges, schmutziges Weib, und eine Frau in polnischer Haube stand bei ihr und feilschte um einen Hering. Das alte Weib fuhr mit den schwarzen Fingern in die Tonne – die Salzlake troff –, und die andre nahm den Hering auch in die Hand und fraß ihn auf, stehenden Fußes, mit Kopf und Schwanz, mit Schuppen und Salzlake, nur die Gräte des Rückgrates spuckte sie vor sich hin.

Ihn ekelte. Tief verstimmt schritt er in die Stadt hinein.

Kein einziges deutsches Firmenschild. Alles polnische Namen und jüdische. Polnisch-jüdisch – wer konnte das trennen? Ebenso unlöslich diese beiden Elemente miteinander verbunden, schier unzertrennlich verwachsen, wie die ganze Provinz mit dem Polentum. Es schien Doleschal auf einmal, als seien all seine Bestrebungen, lang Bestehendes auszumerzen, fruchtlos kindisches Bemühen.

Er sah nicht mehr rechts und links. Ihn ärgerten die Schilder der Läden, ihn ärgerte der Dom, der so uralt mit seinen wie von Zyklopen gebauten Mauern auf den Markt heruntersah. Hier an den eisernen Buckeln der Domtür zeigte man die Spuren der Axthiebe, mit denen einst heidnische Feinde die Kirche des weißen Adlers zu erstürmen gedacht – die Beile waren zersplittert, die Tür hatte jedem Anprall getrotzt.

Den Besuch beim Landrat gab Doleschal auf, ihm war plötzlich die Lust vergangen.

Was er dem Freund eigentlich so Freudiges mitzuteilen gehabt hatte, wußte er nicht mehr. Leere Versprechungen deuchten ihn plötzlich die Berliner Versicherungen, die ihn gestern noch mit solcher Ermutigung erfüllt hatten; nichtige Redensarten schienen sie hier auf dem Platz, an dem rechts der Dom emporragte, links das Palais des Kirchenfürsten und dicht dabei das Priesterseminar in all ihrer massiven Stattlichkeit lagen.

Ganz ohnmächtig kam er sich auf einmal vor.

Hier, hier an der Ecke der Gasse, die ihn nun der Wagen, in den er am Domplatz gestiegen war, hinabfuhr, stand in großer Schrift der Straßennamen auf polnisch und ganz klein darunter die deutsche Bezeichnung. Herrgott, Herrgott! Er fuhr sich über die Augen, als müsse er's fortwischen, das Trugbild – hier war ja noch ganz, ganz polnisches Land!

In einer Betrübnis, die auch die Aussicht, bald sein Deutschau wiederzusehen, bald Helene, bald die Knaben ans Herz drücken zu können, nicht lindern konnte, fuhr er dahin.

Regen und Schnee, die gegen die Eisenbahnfenster geprasselt, hatten nachgelassen; aber er saß noch in eine Ecke des Wagens gedrückt, den Kragen hochgeschlagen, die Reisedecke, die er gar nicht mehr zu gebrauchen gedacht hatte, bis zur Brust heraufgezogen. Er fühlte nicht, daß ihn jetzt wieder eine lindere Luft umwehte. Aprilschauer waren vorübergerauscht, nun lachte Aprilsonne. Im blanken Sonnenschein wogten grüne Saaten. Er sah das alles nicht. Das Kinn auf die Brust gedrückt, die Augen niedergeschlagen, verharrte er unbeweglich. Er grüßte nicht, als in der Nähe des ersten Dorfes, das man passierte, ein Sämann am Ackerrand den Hut bis zur Erde zog: » Dobry wieczór!« Er erwiderte auch den Gruß des Mädchens nicht, das, hübsch und leichtfüßig, trotz einer schweren Last, die seinen Rücken beugte, eine Weile neben dem Wagen herschritt. Er sah alles nicht, nicht das Wachsen der Saaten, nicht den Fleiß der Leute, auch nicht die helle Sonne; er fühlte nicht den erdigen Duft, der von der Scholle aufstieg und mit belebendem Hauch um seine Stirn strich. Um ihn her war es finster.

Er hörte auch nicht das leise Trillern einer Lerche am benäßten Grabenrain. Aber er hörte jetzt das Läuten der Glocke von Pociecha-Dorf. Das Sechsuhrläuten. Weithin über die Felder wehte der Klang. Die Leute, die vereinzelt da und dort arbeiteten, verneigten sich; er sah, wie sie sich bekreuzten und dann schleunigst, ihr Arbeitsgerät zusammenraffend, sich zum Heimweg anschickten. Sie hatten genug geschafft, die Feierabendglocke rief sie. Ach, wann, wann würde sie ihn rufen?! Würde er auch bald Feierabend machen können nach vollendetem Tagewerk? Nein – aber vielleicht bald Feierabend machen müssen nach nicht vollendetem, nach fruchtlosem Ringen!

Schwermütig nickte er vor sich hin: Feierabend nach fruchtlosem Ringen. Und dann durchfuhr es ihn jäh mit einem Schrecken: um Gottes willen, das war ja schon fast Melancholie!

Sich einen Ruck gebend, richtete er sich aus seiner Ecke auf; die Hände zusammenballend, biß er die Zähne aufeinander – nein, sich nicht unterkriegen lassen, den schwarzen Vogel scheuchen, der die Flügel senken wollte!

Da fühlte er den Hauch der Scholle. Gott sei Dank! Und er riß den Paletot voneinander und atmete tief. Gott sei gedankt für diesen Duft der Felder!

Den Hut von der Stirn zurückschiebend, sah er freier um sich. In seinem zerquälten Herzen wachte die Liebe auf; so groß auch die Qual war, die Liebe war doch noch größer. Nein, diese Felder hier waren schön, schöner als alle andern in der Welt! Wie hatten sie ihn nur monoton dünken können? Und ihre Dankbarkeit mußte versöhnen für vieles, was sonst verstimmte.

Doleschals Stirn glättete sich: war hier nicht Tau und Sonnenschein, nicht Wachsen und Gedeihen? Ja, ja und dreimal ja!

Sein Landmannsherz tat sich auf, als er die Saaten betrachtete – so frisch, so dicht, so regennaß, so sonnenbeschienen standen sie im Feld. So weit das Auge reichte, bis dorthin, dort zum Lysa Góra, nichts als grüne, grüne Breiten. Ein ganzes Heer von junger Saat, eine Welt von Hoffnungen. Und da wollte er verzagen? Nein! Er atmete wie befreit auf. Seine müden Züge belebten sich, sein blasses Gesicht rötete sich. Und jetzt, siehe da! Ein freudiges Aufleuchten kam in seine Augen: sieh, das schönste Wunder der Ebene!

Über die große Fläche spannte sich der Regenbogen. Er stand auf hinter der schwarzen Holzkirche von Pociecha-Dorf, wölbte sich über Ansiedlung Augenweide und über Chwaliborczyce, über den Lysa Góra und Deutschau und stellte dort jenseits sein andres Ende auf Przyborowoer Grund. Unter dem Bogen des Friedens lagen sie alle miteinander. Und dort, ganz im Geflimmer der sich neigenden Sonne, hinterm Lysa Góra sich zeigend wie ein Traum, strahlte ein Abglanz wider der siebenfarbenen Herrlichkeit.

Die Weite war still, wie erschauernd in Bewunderung. Nur die Glocke schwieg nicht, sie läutete dazu: Friede, Friede! – –

 

» Dobry wieczór! Verehrtester Nachbar, guten Abend!«

Doleschal fuhr zusammen; eine Stimme, die ihm weh tat, hatte ihn geweckt. Mit einem Ruck hielt sein Mietswagen, ein bequemer Landauer war dicht neben ihm. Wie schon einmal hier unweit der Kolonie, war der Deutschauer mit den Chwaliborczycern zusammengestoßen. Geschwind waren sie dahergekommen und leise auf dem noch regenfeuchten, heute samtweichen Grund. Blaß wurde Doleschal bis in die Lippen, so erschreckte ihn diese Begegnung in seiner Versunkenheit.

»Herr Nachbar, außerordentlich erfreut! Ich bin entzückt, Ihnen noch Adieu sagen zu können«, rief Garczyñski. »Ich bedauerte unendlich, Sie gestern nicht angetroffen zu haben. Wir verreisen!«

»So?« Doleschal wußte weiter nichts zu tun, als sich zu verneigen. »Empfehle mich der gnädigen Frau!«

»Leben Sie wohl!« Lässig nickte die Garczyñska, und dann sandte sie ihm einen raschen Blick zu, so voll von Zorn, Anklage, Haß, Vorwurf, Wut und Verachtung, daß er ihn sich nicht zu erklären wußte. Was hatte er dieser Frau denn getan, daß sie ihn so anblitzte? Ewig lange hatte er sie ja gar nicht gesehen.

»Werden gnädigste Frau länger fortbleiben? Und zum Vergnügen?« Sie hatte ihn scheinbar nicht gehört – oder war er etwa nicht da für sie? Fast schien es ihm so. Sie hatte den Kopf nach der andern Seite gewendet und starrte gleichgültig in die Luft.

Garczyñski beantwortete die Frage durch ein Achselzucken: »Vergnügen? Mein Lieber, Verpflichtungen, Verpflichtungen. Und Einladungen, unendliche! Ich denke, vier Wochen werden daraus werden.«

»So.« Es war Doleschal ganz gleichgültig, was die Chwaliborczycer machten – mochten sie hier sein, reisen oder fernbleiben! – nur aus höflicher Gewöhnung fragte er: »Und wohin reisen die Herrschaften?«

Garczyñski lächelte maliziös und winkte zugleich verbindlich mehrmals hintereinander zum Abschied mit der Hand:

»Wir fahren, woher der Herr Nachbar kommen. Wir reisen nach Berlin. Kutscher, dalli, es ist Zeit!«

Nach Berlin? Die Stirn runzelnd, sah Doleschal dem Landauer nach. Jetzt sah er: ein kleineres Gefährt, darauf ein paar wahre Riesenkoffer verstaut waren, folgte noch nach. Die fuhren nach Berlin – Verpflichtungen, Einladungen, Toiletten für die schöne Frau in Riesenkoffern – warum verstimmte ihn das so? Warum sollte Garczyñski nicht nach Berlin reisen?

Horch, Peitschengeknall, der Kutscher feuerte jetzt die Pferde an! Da jagten sie hin, der liebenswürdige Pole und seine schöne Frau.

Als Doleschal noch einmal den Kopf wandte, sah er sie schon ganz weit. Nun ja, sie mußten eilen, wenn sie den Nachtzug noch treffen wollten, mit dem auch er nach Berlin gefahren war! Aber er glaubte ein Lachen zu vernehmen, das ihn höhnte, ein spöttisches Lachen, das ihm im Ohre blieb, wenn auch die wachsende Entfernung zwischen ihm und jenem Wagen längst jeden Laut verschlungen haben mußte.

Der Bogen des Friedens war verschwunden.

Mit einer jener Vorahnungen, die unabweislich Unangenehmes künden und wie Frostschauer die Seele überhauchen, drückte sich Doleschal wieder fester in seine Wagenecke. Den Paletot, den er vorhin aufgeknöpft hatte, knöpfte er jetzt wieder zu. Es zuckte nervös in seinem Gesicht, und er kaute an den Schnurrbartenden. Brütend schaute er in sich hinein: daß man doch nie, nie sich hier harmlos und ungestört an etwas erfreuen konnte! Immer fiel etwas nieder, wie jetzt die nahende Dämmerung auf die sonnbeglänzte Flur.

Schatten krochen über die Ebene, das Grün der Saaten wurde grau, der farbige Zauberschein hinterm Lysa Góra hatte sich zu Wolken verdichtet, die, zerfetzt vom Abendwind, dräuend gleich Ungetümen mit Schwertern und Spießen, das verlöschende Sonnenrot des Himmels umstanden.

Horch, wer konnte hier so lachen?! Wer hatte hier noch den Mut dazu?

Ein fröhliches Mädchenlachen war's, das Doleschal aufmerken ließ. Langsam war sein Wagen weitergekrochen; nun war man unweit des Luchs, wo die Grenze sich zieht zwischen Przyborowo und Niemczyce. Aus der Richtung von Przyborowo galoppierten zwei Pferde heran, ein kleiner Schecke voran, ein großer Brauner hinterdrein. Das war wie eine Jagd. Lang streckten sich die Pferdeleiber, die Hufe flogen. Und nun erscholl wieder das Mädchenlachen, übermütig hell. Vor dem Mietswagen her, so dicht, daß dessen Gäule zurückprallten, setzten die beiden sich jagenden Pferde über die Straße. Ein Reitkleid flatterte um eine ganz jugendlich-schlanke Gestalt, blonde Zöpfe flogen wild, und hinterdrein – da – war das nicht der Inspektor Schulz, der dem Fräulein nachsetzte, vornüber auf den Hals seines Pferdes gelegt, die Hand ausgestreckt, um das flatternde Reitkleid zu fassen? Auf die Weiden am Luch, die wie eine dichte Schutzwand gegen den Acker standen, ging's zu.

» Psia krew!« Der Kutscher hielt an und deutete, vielsagend schmunzelnd, mit dem Peitschenstiel.

Das helle Mädchenlachen war plötzlich in einen hellen Aufschrei übergegangen – war der ängstlich oder –?! Der große Braune hatte den kleinen Schecken eingeholt. Warum diese Jagd? Warum dieser – dieser Aufschrei? Und jetzt?! – Die Mauer der Weiden hielt die Gestalten verdeckt, das Pferdegetrappel war verstummt, die Mädchenstimme ließ sich nicht wieder hören. Es war ganz still geworden.

»Voran!« herrschte Doleschal seinen Kutscher an; das Schmunzeln des Mannes dünkte ihn auf einmal ganz infam. Er wurde rot darüber. Was dachte sich dieser Kerl? Was wagte er sich zu denken? Ein Zorn überkam jäh den Herrn von Deutschau und zugleich eine Scham: waren ihm denn nicht selber Gedanken aufgestiegen, die –

Pfui!« Er sagte es laut, ein Unwille gegen sich selber überkam ihn. War er auch wie der gewöhnliche Mann, der sofort Gemeines voraussetzt? Nein, hier handelte es sich nur um ein ganz ausgelassenes junges Mädchen, das froh, der Gouvernante entronnen zu sein, sich einmal austobte. Das Lachen war so unbefangen gewesen, so kindlich hell. Aber der Aufschrei – dieser Aufschrei?! Grübelnd schloß Doleschal die Augen.

In dieser Einsamkeit, bei diesem Aufwachsen unter der Kreatur, diesem täglichen Sehen des Miteinanders von Knechten und Mägden, die sich wahrhaftig nicht genierten, war es da nicht möglich, daß – bah, Torheit! Kinderaugen, reine Augen sehen nichts. Aber dieser Inspektor?! Lag nicht etwas Brutales in dessen hübschem Gesicht? Ein Mißtrauen hielt Doleschal gepackt und peinigte ihn. Wie konnte man nur sein Kind diesem Menschen anvertrauen? Alle Antipathie abgerechnet, und wenn da auch sonst nichts, nichts irgendwie Bedenkliches vorläge, das schickte sich doch nicht. Man durfte seine Tochter nicht einem Blick aussetzen, wie der ihr heute geworden war, von dem Kerl auf dem Bock, und auch nicht solchem Schmunzeln.

Er mußte das Kestner sagen. Freilich, eine angenehme Mission war es nicht. Aber das junge Mädchen, das halbe Kind, war seines Freundes Paul Schwester, die Tochter seines Nachbarn, die Tochter eines Standesgenossen, die Tochter eines Deutschen! Er mußte dem Vater Mitteilung machen von diesem Ausritt. Kestner konnte ihm ja nur dankbar sein. Vielleicht, daß er gar keine Ahnung von dieser Vertraulichkeit zwischen dem Inspektor und seiner Tochter hatte. Nun, dann war's um so nötiger! –

Doleschal kam nicht heiter zu Hause an. Ein weich behauchter Vorfrühlingsabend lag zwar über Hof und Park, aber der Heimkehrende hatte doch die Empfindung, als ob es noch Winter sei. Helene, durch sein Kommen aufs freudigste überrascht, hatte ihn innig in die Arme geschlossen, aber die Küsse, die sie ihm warm auf Wangen und Mund, auf Stirn und Augen drückte, entzündeten ihn nicht; auch sie dünkten ihn kalt. Hatte Helene ihn vermißt, wirklich sehr vermißt?

»Ja, ja!« Sie nickte eifrig. Und die Knaben, die mit glühenden Wangen um ihn herumstanden, nickten ebenso eifrig mit. Ein Licht glomm ihm entgegen aus den Augen seiner Lieben, aber ein Dämon beherrschte ihn, der befahl: lösche es aus, lösche es aus!

»Ich wünschte, ich wäre noch fortgeblieben«, sagte er selbstquälerisch, »ihr kommt ja ganz gut zurecht ohne mich, und ich habe hier nichts als Widrigkeiten!«

»Um Gottes willen«, sagte Helene langsam. Ihr Blick wurde traurig; hinter ihn tretend und beide Arme um seinen Hals legend und ihre Wange auf seinen Scheitel, wie sie so gern zu tun pflegte, weinte sie, und er fühlte ihre Tränen warm auf seinen Kopf tropfen. Das also war die Heimkehr?! Erst ihre Tränen brachten ihn zu sich.

Ja, sie hatte ganz recht, zu weinen. Sie hatte Ursache, es war undankbar von ihm, nach all den guten Tagen in Berlin, nach den Ermunterungen, die ihm dort zuteil geworden waren, nicht besserer Stimmung zu sein. Sie mußte ihn entschuldigen, es lag in einer Überreizung, ja, er war ganz abscheulich nervös!

Und er zwang sich zu einer gewissen Fröhlichkeit. Erst zwang er sich zu ihr wie zu etwas Fremdem, aber nach und nach wurde sie ihm eigner. Für diesen Abend wenigstens konnte er vergessen, was ihn drückte; er gehörte ganz seiner Frau.

Helene wollte ihm vorerst verschweigen, was sich in seiner Abwesenheit zugetragen hatte; sie war mit Hoppe übereingekommen, ihm nicht gleich davon zu erzählen, wie die Rotte hier vors Haus gezogen war und gefährlich gelärmt hatte – er würde sich ja noch nachträglich aufregen – aber nun sagte sie's ihm doch. Ein Stolz auf ihren Knaben trieb sie dazu und zugleich der Wunsch, den Vater zu erfreuen: siehe, das ist dein Sohn!

Mit einer Rührung, die sie fast beängstigte, nahm er es auf. Er ließ sich wieder und immer wieder erzählen, wie sein Sohn vor die wilden Männer getreten war.

»Also so sagte er? Also wirklich? Erzähle, Helene, sagte er wirklich so? Und nicht geweint, sagst du, hat er? Und die Ostereier, die ich geschickt habe, hat er unter die Leutekinder verteilt – seine Ostereier, auf die er sich so gefreut hatte! Ach, mein Junge!« Er konnte nicht genug davon hören. Morgen, ja morgen, würde er sich's noch einmal von Hoppe erzählen lassen.

Hand in Hand mit Helene ging er zu den Betten der Kinder und stand dann lange an dem Bett, in dem sein Ältester lag. Warmrote Wangen hatte sich der Knabe geschlafen, und ruhig ging der gleichmäßige Atem der kräftigen Enderbrust.

Der Vater konnte den Blick nicht losreißen von seinem Jungen; es war ihm, als sähe er ihn heute zum erstenmal. Das war sein lieber Sohn, sein tapferer Sohn, das junge Reis am Stamm der Doleschals! Liebkosend strich er immer wieder und wieder über den blonden Kopf.

Helene bat: »Komm, laß uns jetzt schlafen gehen!«

Da brach es aus ihm heraus mit einem Atemzug der Erlösung, so wohlgemut, wie er lange nicht gesprochen – einen frohen Blick sandte er dabei über die Schläfer hin –: »Ja, laß uns schlafen gehen, geliebte Frau. Und wenn wir einstmals für immer schlafen gehen, diese werden erwachen!«


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