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Dreizehntes Kapitel

Wenn sie auch den Lehrer nicht in den Pfuhl getaucht hatten, so war ihm doch vor Angst der Schweiß am Leibe heruntergeflossen, wie das Wasser den Mädchen beim Dyngus. Er hatte von seiner nächtlichen Flucht eine böse Erkältung davongetragen. Mit pfeifendem Atem hatte er die zwei nächsten Tage noch Schule gehalten. Seine Wangen glühten wie zwei feurige Rosen, und immer röter wurden sie, immer brennender, denn in der Miene eines jeden Kindes glaubte er eine versteckte Drohung zu lesen. Die Knaben mit den breiten Backenknochen und den schmalen Augen blickten so unternehmend in der Klasse umher, und die Mädels hoben die Stumpfnasen so frech in die Luft – ja, ja, sie alle hatten zu Hause gehört: deutsch sollte unterrichtet werden! Und das würden sie sich nicht gefallen lassen!

Ein sonderlich großer Respekt vor dem Lehrer war nie vorhanden, aber heute war in den drei Knabenbänken zur Rechten eine ewige Unruhe; in den drei Mädchenbänken zur Linken war nicht gerade eine offenkundige Respektlosigkeit, aber ein immerwährendes Kichern verwirrte Ruda ganz. Er fühlte sich machtlos. Es zuckte ihm wohl in den Fingern, nach dem Stock zu greifen, aber er traute sich nicht – würden ihm die Eltern nicht auf den Hals kommen?! Heute morgen, vor Beginn der Schule, hatte mit Kreide an der Schultür gestanden – kaum zu entziffern war das unorthographische Gekritzel –:

›Du Hund, wenn du unsre Kinder nicht auf polnisch lehrst, so schlagen wir dich tot!‹

Wer das wohl geschrieben haben mochte?! Es war das rechte Mittel, eine bange Seele ganz zu verängstigen. Ein gewaltiger Schreck war dem Lehrer in die Glieder gefahren. Gewiß, ja, er wollte gern auf polnisch unterrichten, aber da saßen doch die drei kleinen Ansiedlermädchen in der vordersten Bank und sahen ihn verständnislos an mit den Blauaugen, und hinter ihnen tauchte wie ein Riese der Vater auf und drohte mit der Faust: ›Deutsch wird gelehrt!‹ Und überall, wohin er auch blickte, bäumte sich ihm mit erhobenem Finger ein Gespenst entgegen: die Behörde.

In seiner Not versuchte der Geängstigte jetzt allen gerecht zu werden. Erst stellte er die Fragen auf polnisch und wiederholte sie dann auf deutsch, oder umgekehrt. Aber ein unbändiges Füßescharren und Räuspern entstand, sowie er das erste deutsche Wort sprach, und als er sich nicht irremachen ließ, sondern unentwegt weiterstockerte – das Übersetzen wurde ihm sauer, und sehr genau brachte er's nicht zuwege –, meldete sich kein Kind zur Antwort. Sie waren auf einmal sämtlich taub, mochte er noch so sehr schreien.

Auch Settchen, die älteste der Bräuers, die doch verständig genug war, jede Frage zu begreifen, hob nicht den Finger und stand nicht auf. Sie weinte. Die Schwarzäugige neben ihr hatte sie schmerzhaft in den Arm gekniffen, und die hinter ihr hielt sie an den Zöpfen fest.

Der Lehrer sah das Kneifen und hieß die Schwarzäugige sich in die Ecke stellen. Da erhub diese ein lautes Geheul und klemmte sich in der engen Bank fest, und in den Knabenbänken stand einer auf, hob gar nicht erst den Finger, sondern sagte ganz dreist:

»Herr Lehrer, die Nisia soll nicht in der Ecke stehn, die Deutsche soll in der Ecke stehn!«

In den wirren Fieberträumen, die diesen bösen Schultagen folgten, ängstigten den Lehrer immer das schwarze und das weiße Schaf, von denen ihm einst seine Mutter gesungen; aber sie hatten Hörner bekommen und stießen wie Böcke, sie waren polnisch und deutsch und quälten ihn.

Ignaz Ruda glaubte seine letzte Stunde nahe. Vergebens hatten die Schulkinder am dritten Morgen an die Tür gepocht, er war nicht mehr imstande gewesen, ihnen zu öffnen; da hatte er gehört, wie sie, vergnügt johlend, davonliefen. Niemand kam, nach ihm zu sehen; er lag ganz verlassen. Drüben beim Jezierski schrien die Kinder, man hörte die Mutter mit ihnen schelten – wenn doch wenigstens die Jezierska einmal herüberkäme, ihm das trockne Hemd zu reichen, was er dort im Schub hatte! Er hatte so sehr geschwitzt, nun schüttelte ihn der Frost. Und auch einen Trunk begehrte er, die Lippen waren ihm ganz verbrannt. Aber das Weib hörte nicht den Ruf seiner schwachen Stimme.

Aus den Augen des Kranken liefen die Tränen. So elend auch sein Leben war, er hing doch daran – wenn nur jemand zu errufen wäre, den er zu Doktor Wolinski schicken könnte! Er versuchte, aus dem Bette zu kriechen, aber halb ohnmächtig sank er zurück, er hatte die Kräfte nicht. Und dann begann er wieder zu rufen, zu schreien, bis seine kranke Brust das nicht mehr ertrug und ein würgender Husten ihm blutigen Schaum über die Lippen drängte.

In der kalten Kammer rang der Verlassene mit Todesnot. Er fühlte sich unsäglich elend. Was hatte er verbrochen, daß sie ihn so krepieren ließen? War er ein Hund? Hatte ihn nicht auch einstmals eine Mutter gewiegt? Die Mutter war jetzt ein altes Mütterchen geworden und wohnte zu Fraustadt im Spital – wenn die ihn so sehen könnte! Weinen würde sie über ihn, aber fluchen würde sie dem, der ihren Sohn soweit gebracht hatte. Ja, Fluch dem, der an allem Übel schuld war, der schlimmer war als die Pociechaer, als die Schulkinder, als der große Ansiedler mit seiner Prügeldrohung, schlimmer als der Teufel selber – Fluch dem Niemczycer! Mochte die heilige Mutter Gottes es dem heimzahlen, was er leiden mußte!

In ohnmächtiger Wut ballte der Armselige die zitternden Hände, und dann streckte er sich – weh, jetzt kam der Tod! Daß er an dem Niemiec gerochen werde!

Aber nur wilde Fieberphantasien kamen, in denen des Lehrerchens schwache Gestalt gegen den hohen Niemczycer ankämpfte. – – –

Als Ruda wieder zu klarem Bewußtsein kam, saß der Vikar an seinem Bett, und im Ofen knisterte ein Feuer. Eben war Doktor Wolinski da gewesen; jetzt würde er bald eine Medizin schicken aus der Miasteczkoer Apotheke. Die Jezierska, die eine Suppe aus der Propstei geholt hatte, von Zuzanna, der Köchin, aus lauter purem Fleisch gekocht, weinte vor Rührung: so gut wie eine Mutter hatte der Herr Vikar für den Herrn Lehrer gesorgt.

Sie warm alle sehr freundlich zu Lehrer Ruda. Er konnte sich nicht mehr beklagen; er hatte Suppe aus der Propstei und Hühnchen und Wein, wie der Herr Vikar es verordnet hatte. Die Mütter der Schulkinder brachten, obgleich Eier jetzt rar waren, deren genug, da der Herr Vikar es geheißen hatte. Die Buben und Mädchen bezeigten gar keine Freudigkeit über die unverhofften Ferien, bescheiden klopften sie an die Tür und fragten nach des Herrn Lehrers Befinden und stammelten gute Wünsche, die der Herr Vikar sie gelehrt hatte. –

Aber es waren der Wochen doch viele, die hingingen über des Lehrers Krankheit. Er hatte weder beim Podkoziolek aufspielen noch den Karneval durchgeigen können bis Aschermittwoch. Nun ging's schon auf die zweite Hälfte der Fastenzeit.

Sankt Mattheis hatte viel Schnee heruntergeschüttet, noch lag der auf den Äckern, aber er hatte nicht mehr die starre Eiskruste des Winters; es gelang der Sonne, die zuweilen um die Mittagszeit scharfe Strahlen sandte, hier und da schon, das schmutzige Weißgrau abzulecken. Noch dampfte in allen Hütten die gewohnte Fastensuppe aus Sauerteig, aber die Herzen freuten sich schon in der Hoffnung der Osterspeisen.

Der Niemczycer liest fleißig Mist fahren und pflügen. Alle Gespanne waren draußen auf den Feldern. Man stand schon wieder früher auf als in der dunkelsten Winterzeit.

Es war am Tage nach Mittfasten, daß der neue Inspektor von Deutschau, der alte Hoppe, in aller Frühe über den Hof stapfte. Da sah er vor der Scheune Nr. 1, von den Leuten die Katarynka, der Leierkasten, geheißen, weil drinnen die alte Häckselmaschine zum Drehen stand, Knechte und Mägde in hellem Haufen versammelt. Was gafften sie da? Eben stieg das Sonnenrot aus der östlichen Ebene und schaute über die Hofmauer und warf Licht auf das, was mit vier großen rostigen Nägeln am Scheunentor angenagelt war.

Was gab's da zu buchstabieren?

»He!« Der Inspektor stieß die Gaffenden zur Seite und sah und las selber und rieb sich die Augen und las wieder, was auf grobem weißem Papier, wie auf einem Plakat, geschrieben stand.

Wenn der Herr Inspektor doch einmal laut vorlesen wollte, bitte! »Lesen, lesen!« Die Weiber reckten sich auf den Zehen; auch die Männer trauten ihren eignen Augen nicht recht.

Wie kam das hierher? Über Nacht mußte es angenagelt worden sein, denn gestern abend spät hatte der Inspektor selber noch einmal die Runde gemacht und mit dem Nachtwächter geprüft, ob auch alle Scheunen verschlossen seien; der Nachtwächter hatte mit der Laterne geleuchtet, und sie hatten nichts, gar nichts bemerkt am Torflügel der Katarynka. Es mußte einer genau die Stunde des Morgengrauens abgepaßt haben, in der der Nachtwächter und sein Hund heimzugehen pflegten, und mußte dann über die Hofmauer gekrochen sein, gewandt wie eine Katze, trotz der Höhe und der spitzigen Glasscherben und des Stacheldrahtes. Unübersteiglich war hier eben nichts.

»Hm, hm!« Noch stand der Inspektor kopfschüttelnd, und die Leute standen um ihn her und gafften bald ihn an, bald das Scheunentor. Da hörte man einen raschen Schritt die Freitreppe herunterkommen.

Der gnädige Herr! Dumm lachend stießen sich Knechte und Mägde an. Was würde der für ein Gesicht machen?

Inspektor Hoppe machte eine Bewegung, als wolle er das Plakat herunterreißen, aber es war zu spät, schon hatte Doleschal es ins Auge gefaßt.

Und er las. Hastig überflog sein Blick die polnischen Buchstaben, die so hingemalt waren, wie ein Kind sie mühsam auf die Tafel schreibt, und die doch eine geübtere Hand nicht verleugnen konnten.

›Teufel, Schwein, Schächer erster Klasse! Gauner, der du dich ein Christ nennst, du bist schlimmer als ein Heide, denn du willst Gottes Werk zerstören, du willst, daß eine Nation, von Gott erschaffen, untergehe, und die Deutschen allein sich breit machen. Ihr Hakatisten, wir sprengen euch die Köpfe mit Dynamit wie Hunden, denn mehr seid ihr nicht wert. Und ich schwöre dir, daß ich an dir meine Rache nehmen werde! Ich speie dich an! Du Ketzer, wir werden dich ans Kreuz schlagen wie den Schächer, aber du wirst nicht am dritten Tage mit Jesus Christus im Paradiese sein. Meinen Knippek werde ich dir zwischen die Rippen stoßen, daß du zur Hölle fahrest, denn durch dich bin ich elender geworden als ein kriechender Wurm!‹

Doleschals Gesicht war tief verfinstert. Er hatte leise für sich gelesen, aber unbewußt hatten seine Lippen die Worte mitgeformt.

Die dummen Mägde hatten das Lachen aufgegeben, auch die Knechte blickten betroffen. Der Inspektor scheuchte sie alle an die Arbeit; und als nun niemand mehr auf dem Hof war, der Herr aber immer noch stand und auf das Plakat starrte, ging er zurück zu ihm und stellte sich neben ihn hin. Der Herr sah ihn nicht, da räusperte er sich stark; und als der andre immer noch nicht aufmerkte, wagte er es, ganz sacht seine harte Hand auf den Ärmel der samtnen Hausjoppe zu legen.

»Herr Baron, die Frau Baronin werden mit dem Frühstück warten!«

»Ach so – ja, ja, ich danke Ihnen!« Doleschal war aufgefahren. Schon im Weggehen, drehte er noch einmal um und sagte hastig und leise: »Lassen Sie das Dings da abreißen – hören Sie, abreißen und verbrennen. Meine Frau darf davon nichts erfahren!«

»Sehr wohl, Herr Baron!« Mit raschem Griff löste Hoppe die haltenden Nägel und warf sie fort, das Papier aber faltete er zusammen und steckte es in die Tasche. »Man weiß nicht, wozu es gut ist, so was aufzuheben.«

Und als der andre ihn darauf wie fragend, aber ganz verstört ansah, hielt er nicht mehr an sich in seiner Empörung: »Herr Baron, das ist 'ne Gemeinheit, 'ne ganz miserable Hundsgemeinheit, so ein echt polnisches Bubenstück! Ich werde aber schon den Schreiber 'rauskriegen, da können sich der Herr Baron drauf verlassen!«

»O bitte, bitte« – Doleschal hob abwehrend die Hand – »lassen Sie die Sache auf sich beruhen!« Und dann, sich gewaltsam zwingend, sagte er in gleichgültigem Ton: »Sie lassen heute die große Brache hinterm Lysa Góra in Angriff nehmen, nicht wahr? Damit wir bei guter Witterung dann bald mit dem Sommerroggen in Land können.«

Kopfschüttelnd sah Hoppe ihm nach: immer so hastig, viel zu hastig trotz der anscheinenden äußeren Ruhe! Jetzt schon an Sommerroggen denken – Torheit, Schnee lag ja noch, zehnmal noch würde die Saat ausfrieren. Da war Kestner doch ein vorsichtigerer Mann gewesen, ein besserer Wirt. Und eine gewisse Sehnsucht stieg in dem alten Inspektor auf nach den so lange bebauten, gesegneten Feldern von Przyborowo. –

Es hatte Doleschal doch tiefer ergriffen, als er es zeigen mochte. Dieses: ›denn durch dich bin ich elender geworden als ein kriechender Wurm‹ hielt ihn gepackt. Wenn er sich auch zwingen wollte, nicht mehr daran zu denken, er riß sich nicht los davon. Wem hatte er denn so viel Leides getan, daß er ihn dafür mit solchem Haß bewerfen konnte? Grübelnd rührte er in der Tasse Tee, die ihm seine Frau eingeschenkt hatte.

Helene saß ihm gegenüber am Frühstückstisch. Ein wenig blasser und ein wenig schmaler hatte der Winter sie gemacht. Sie war jetzt selten herausgekommen, die Knaben hatten die Masern gehabt und die Mutter ganz und immerwährend beansprucht. Aber ihr zartes Gesicht hob sich lieblich über der dunklen Hausbluse, lieblicher noch, als es gewesen war mit der Sommerröte auf den runderen Wangen.

Ein wenig die Brauen hochziehend, sah sie ihren Mann beobachtend an: was hatte er nur? Die nervösen Fältchen um seine Augenwinkel zeigten sich heute tiefer als sonst, und ein bitterer Zug war um seinen Mund. Er hatte Ärger gehabt, und eben erst, des war sie sicher, denn beim Aufstehen war er noch vergnügt gewesen, hatte, was er selten tat, sogar gescherzt wie ein ganz Junger.

Geräuschlos stand sie auf, stellte sich hinter ihn und legte ihre Wange auf seinen Scheitel. »Woran denkst du? Haben sie draußen Dummheiten gemacht?«

»Wieso – wieso?«

»Mein Gott, wie du auffährst! Ich fragte ja nur!«

»Du sollst mich nicht fragen, du weißt, ich kann es nicht vertragen, ich – ich – es macht mich ganz rasend!«

»Verzeih!« Es lag keine Verletztheit in ihrer Stimme, aber eine stille Trauer in der Bewegung, mit der sie nun von ihm forttrat und sich wieder an ihren Platz setzte. Sie strich ihm ein Butterbrötchen.

»Willst du auch ein bißchen Honig darauf haben?«

Er gab keine Antwort. Aber als sie auch noch Honig über die Butter gestrichen und ihm das Brötchen stillschweigend auf den Teller geschoben hatte, aß er es stillschweigend auf.

In dem behaglichen Zimmer tickte die Uhr, die Zeit ging unaufhaltsam weiter – schade um jede Minute, die da verstrich, unwiederbringlich dahin war, ohne genossen worden zu sein! Ja – mit einem tiefen Atemzug sah Doleschal auf –, er war doch glücklich, wirklich glücklich, hier im Hause, bei seiner Frau, bei seinen Kindern! Daran mußte man sich eben halten.

Helene saß nicht mehr am Tisch, sie war ans Fenster getreten, wo zwischen den Doppelscheiben Hyazinthen, Tazetten und Primeln blühten, ein ganzer Flor. Sie begoß ihre Blumen, ein süßer Duft umschwebte sie. Ach, sie war doch seine gute, seine geliebte Frau! Wie konnte er nur einen Augenblick wähnen, daß das Glück ihn fliehe, daß alles sich verschworen habe, ihn zu kränken, zu peinigen, zu reizen!

Reuig trat er zu ihr und küßte ihre Hand: »Helene, es war nicht böse gemeint!«

»Das weiß ich, das ist selbstverständlich, daß du's nicht böse meinst.« Ihr reines Gesicht ihm zuwendend, sah sie ihm tief in die Augen. »Wenn du nur glücklicher wärest, Hanns!«

»Bin ich denn nicht glücklich? Warum fragst du mich? Wie kommst du darauf?« Er sah sie argwöhnisch an. »Du bist wohl nicht glücklich, daß du so von mir denkst? Ich bin glücklich, sehr glücklich – wer sagt, daß ich nicht glücklich bin? Aber freilich, wenn du nicht glücklich bist, dann –« Er zuckte die Achseln.

»Ich bin glücklich!« Sie sagte es ruhig, mit einer felsenfesten Zuversicht.

»Nun denn also – was wollen wir dann noch mehr?!« Er schlug einen heiteren Ton an: »Weißt du, du mußt es nicht gleich tragisch nehmen, wenn ich mal irgendwelchen Verdruß habe.«

»Sage ihn mir«, bat sie rasch.

»Wozu? Männersachen sind keine Frauensachen. Ich will ja auch nicht alles wissen, was du an deine Eltern, an deine Dutzend Freunde schreibst!«

»Hanns« – sie sah ihn innig an – »du weißt sehr gut, daß ich nur dich auf der Welt habe. Selbst meine Eltern sind mir fernergetreten. Nicht, daß ich sie weniger liebte, o nein, aber hier bei dir, nur hier wurzle ich jetzt ganz. Und du läßt mich jetzt so oft allein! Ich meine nicht«, sagte sie rasch, als er sie unterbrechen wollte, »daß du nicht aufs Feld gehen sollst, aufs Vorwerk, dich nicht um deine ganze Wirtschaft kümmern sollst. O nein!« Tränen stiegen ihr in die Augen, aber sie unterdrückte sie tapfer. »Deine Seele ist nicht bei mir! Du hast viel im Kopf, ja, aber ich würde mich gern dareinfinden, wenn ich nur sehen könnte, daß es dich froh macht. Du hast mir's zwar nicht gesagt, aber ich weiß es doch: du möchtest dich gern aufstellen lassen zur nächsten Wahl – wie soll es dann erst werden?« Sie rang leicht die Hände ineinander und blickte starr geradeaus: »Ich fürchte, wir werden bald gar nichts mehr von dir haben, die Kinder und ich.«

»Setze dich«, bat er und drückte sie in den nächsten Sessel. Auf der Lehne Platz nehmend, legte er vertraulich den Arm um ihre Schultern.

»Sieh mal, wenn du meinst, ihr hättet dann weniger von mir, dann irrst du. Im Gegenteil, ihr hättet mehr! Denn ich würde soviel freudiger sein, soviel zuversichtlicher, so ganz andrer Stimmung. Das verstehst du eben nicht. Ihr Frauen seid zufrieden, wenn ihr für Mann und Kind und Haus gesorgt habt, aber wir Männer – ja, wir haben eben noch etwas andres. Und das quält mich, daß ich nicht wirken kann wie ich möchte, daß ich hier lebe wie auf einer wüsten Insel!«

»Unser Deutschau eine wüste Insel?« Sie machte einen schwachen Versuch zu scherzen.

»Du weißt recht gut, wie ich's meine«, sagte er, schon wieder leicht gereizt. »Daß ich Deutschau nicht liebhätte, davon kann wohl keine Rede sein. Aber gerade weil ich's liebe, so sehr, daß mir jede Hufe deutschen Bodens so teuer ist, wie – wie –«, er suchte nach einem Vergleich, »ich finde nichts, was mir teurer wäre. Es ärgert mich, es kränkt mich, es schmerzt mich tief« – seine Stimme wurde erregt – »wenn ich sehe, wie –«

Er brach plötzlich ab; die Stirn furchend, versank er wieder in Grübeln.

Leise strich sie ihm über die Wange. »Sprich dich aus, Hanns, sprich! Es wird dir guttun. Du sagst, ich verstehe es nicht, Frauen könnten so etwas nicht verstehen, nun, ich werde es lernen zu verstehen. Und wenn ich es nicht ganz lernen kann, so wird mir Gott doch ins Herz geben, was ich zu tun habe. Immer!«

»Mein Gott, Helene, quäle mich nicht! Das sind eben undefinierbare Dinge; man fühlt sie – sie liegen in der Luft – aber erzählen kann man sie nicht. Ich habe nichts zu erzählen.«

Er wurde rot – da ertappte er sich auf einer Lüge, hatte er denn wirklich nichts zu erzählen? Aber warum ihr von dem Drohbrief sagen? Sie würde sich beunruhigen, ihre Augen würden ihn ängstlich begleiten, ihre Sorge ihm folgen, überallhin. War es nicht genug, daß er sich erregt hatte? Wer wohl den Brief geschrieben haben mochte? Da war niemand, dem er eine solche Gemeinheit zutrauen konnte. Auch war er sich nicht bewußt, jemanden beleidigt zu haben.

Es klopfte. Der Diener überreichte die Post, die der Milchwagen aus Miasteczko mitgebracht hatte: Zeitungen, allerlei landwirtschaftliche Offerten und zwei Briefe. Einer mit gerichtlichem Stempel, der andre in einem dünnen Kuvert von bläulichweißem, geringem Papier, wie es die Landleute für wenige Pfennige beim Dorfkrämer kaufen.

Ach, dieser zweite war jedenfalls ein Bettelbrief. Erst den andern! Doleschal riß das Siegel ab und warf dann das gerichtliche Schreiben hastig auf den Tisch: das fehlte noch, mußte das auch heute gerade noch kommen?!

Eine gerichtliche Vorladung war's in Sachen der Anna Sierakowska, Witwe des Dorfmusikanten Waclaw Sierakowski, wohnhaft zu Pociecha-Dorf. Sie klagte auf eine lebenslängliche Rente, da sie durch die ihr am 20. November vergangenen Jahres zugefügte Körperverletzung zu andauernder Betreibung ihres Gewerbes außerstande gesetzt sei, laut Gutachten des Doktor Zygmunt Wolinski zu Miasteczko.

War's möglich? Jetzt kam die Ciotka mit einer Klage?! Doleschal faßte sich an die Stirn. Da begegnete sein Blick dem Blick Helenes, und er lächelte. »Warum siehst du mich so besorgt an, mein Herz?«

Sie antwortete nicht.

Er griff nach dem zweiten Brief, aber er öffnete ihn jetzt nicht. »Der hat Zeit«, sagte er nachlässig und steckte ihn ein. Aber kaum hatte seine Frau für Augenblicke das Zimmer verlassen, so riß er ihn in nervöser Hast aus der Joppentasche – da – da – natürlich wieder etwas! Wieder las er, mit heißen Augen, die Zähne aufeinandergesetzt, was er heute morgen schon einmal gelesen hatte am Tor der Katarynka. Fast denselben Inhalt hatte dieser Brief wie das Plakat: Schimpfworte, wahnsinnige Beschuldigungen einer getretenen, geknechteten Kreatur. – – –

 

Vierzehn Tage waren verstrichen seit dem Empfang des Drohbriefes, aber es war Doleschal, als hätte er ihn gestern erhalten.

In der Kreisstadt zankten sich sein Anwalt und der Rechtsbeistand der Witwe Sierakowska herum; ihm war es augenblicklich ganz gleichgültig, ob er verurteilt werden würde, arm würde es ihn ja noch nicht machen, der Ciotka eine Rente zu zahlen. Nur das fraß an ihm, daß er nicht wußte, woher er auch diesen Schlag erhalten hatte. Im Kopf des halbverrückten Weibes war dieser Anschlag sicherlich nicht geboren, jemand hatte ihn ihr eingegeben – aber wer, wer? Seine Gedanken irrten umher, suchten und fanden nicht. Und das regte ihn seltsam auf.

Wenn er jetzt einsam über seine Felder ging, allein, wie er es oftmals seit Jahren getan, fühlte er sich doch nicht mehr allein und nicht frei auf seiner Flur, der Nachhall seines Trittes auf der Scholle erschreckte ihn. Ihn umlauerte etwas, was er nicht mit Augen sah, nicht mit Händen greifen konnte, und was doch da war. Wer mochte das Plakat und den Drohbrief verfaßt haben? Stand die Klage der Ciotka mit ihnen in Zusammenhang? Die Ciotka war der einzige Mensch, dem er Übles getan, freilich wider Willen – aber geschrieben hatte sie's doch nicht, sie konnte ja gar nicht schreiben. Diktiert vielleicht – wem? Wem denn nur?! Dieses immerwährende Denken darüber machte ihn ganz wirr. Alle Menschen, die er kannte, ließ er an sich vorbeipassieren, vom untersten Knecht an bis zum vornehmsten Besitzer, vom Nachbar links – dem Polen auf Chwaliborczyce – bis zum Nachbar rechts, Herrn Kestner auf Przyborowo. Mit einem gewissen Argwohn klammerte sich sein Geist an Garczyñski: der war viel zu geschmeidig, um immer aufrichtig zu sein. Aber, nein – mit Unwillen gegen sich selbst wies er diese Gedanken weit von sich –, Garczyñski war ein Edelmann, und ob deutscher oder polnischer, Adel bleibt Adel. Und dann – er schlug sich vor die Stirn –, wie konnte er das vergessen, das: ›Durch dich bin ich elender geworden als ein kriechender Wurm‹ –?! Das stimmte ja gar nicht zu Garczyñski. Es war doch die Ciotka – nein, nein, sie war's doch nicht! Aber wer – wer? In tollem Wirbel drehten sich die Gesichter um ihn: Bürger und Bauersleute, Städter und Dörfler, Förster und Inspektor – auch nicht einer war unter ihnen, bei dem er hätte rufen können: der ist's!

Er hatte unruhige Träume. Und wie er sich auch gegen die Niedergeschlagenheit sträubte, die ihn gleich beim Erwachen überkam, sie befiel ihn doch.

An den Weiden um das Luch im Niemczycer Acker zeigten sich die ersten Kätzchen, die man weihen läßt am Palmsonntag; auch die erste Lerche ließ sich hören am Feldrain, und grüner schien die Wintersaat zu grünen. Ein Ostern war im Nahen, ein Auferstehen aus Winterdunkel, aber der Deutschauer Herr schritt mit gesenkter Stirn über seinen Acker, und seine Füße wurden kalt und naß von den getauten Schneelachen, in die er achtlos trat.

Löb Scheftel fuhr auf Niemczyce zu. Vor der Karwoche war er immer auf der Tour, denn zu Ostern aßen auch die kleinen Leute Fleisch, die sonst das ganze Jahr keines kauften. Wenn die gnädigen Herren nur nicht gar so teuer sein wollten mit dem ›Lebendgewicht‹!

Der Handelsmann sah den Baron schreiten, so ganz in Gedanken verloren, daß er seinen respektvollen Gruß mit tief abgezogener Mütze gar nicht bemerkte.

»Gott soll hüten, was der gnädige Herr macht for'n Gesicht!« sprach Löb Scheftel zu seinem Sohn. »Isidor, halt an, laß mer absteigen! Wer' ich mal hingehn zum Herrn Baron, wer' ich zu ihm sprechen: ›Kein Kälbchen zu verhandeln, Herr Baron? Kein Lämmchen auf Passah?‹ Und wer' ich ihm dabei ins Auge blicken, daß er sieht, er hat wenigstens eine treue Seele. En freisinniger Mann, en aufgeklärter Mann – ä, was tu ich mit der ganzen andern Meschboche!«

Mit leisem Schritt machte sich Löb Scheftel an des Niemczycers Seite. Hui, wie fuhr der auf!

»Bitte um Verzeihung, daß ich habe erschrocken den gnädigen Herrn Baron! Nix zu handeln heute, Herr Baron? Der Herr Baron werden doch nich verkaufen dem Meir Götz aus der Kreisstadt? Lassen Se mir zukommen den kleinen Verdienst! Die Zeiten sind schlecht, die Zeiten sind teuer, aber ich zahle de höchsten Preise, das wissen doch der gnädige Herr Baron!«

»Ich habe nichts zu verkaufen, Scheftel«, sagte Doleschal müde. Aber dann dauerte ihn des Händlers enttäuschtes Gesicht. »Sie können ja mal auf den Hof fahren und den Schweizer fragen. Ich weiß nicht, hat er was oder hat er nichts.«

»Ach, der Herr Baron, en guter Herr, en einsichtiger Herr! Aber der Herr Baron wissen doch, der Schweizer« – Scheftel hob, die Schultern hochziehend, beide Hände – »eiweih! Wenn der gnädige Herr Baron doch lieber möchten selber –«

»Fragen Sie den Inspektor, meinetwegen, aber mich lassen Sie in Ruhe!«

Es klang ungeduldig. So war der Niemczycer doch sonst nicht gewesen! Von der Seite blinzelnd, guckte Löb Scheftel schlau. Und dann sagte er geschmeidig: »Wer' ich fahren zum Herrn Inspektor, wer' ich mer berufen auf den Herrn Baron, wer' ich nich länger belästigen den gnädigen Herrn Baron selber!« Er zog die Mütze. Aber schon im Fortgehen hielt er noch einmal an: »Der Herr Baron hat jetzt Wichtigeres in seinem Geiste. Er wird sich wählen lassen. Wann werden sein die Wahlen, wer' ich geben dem Herrn Baron meine Stimme, und alle von unsre Leut' werden geben dem Herrn Baron ihre Stimme. So 'n Mann« – er hob die Hände – »Gott der Gerechte, wie haißt, wie kann man antun dem Herrn Baron so 'ne –«

»Was – was – was meinen Sie?« fuhr Doleschal ihn unwirsch an.

»Nu« – Scheftel hatte die Daumen in die Armlöcher seines Rockes gesteckt und spreizte die übrigen vier Finger jeder Hand – »nu, mer weiß doch, was der Herr Baron hat gefunden an seiner Scheune. So 'ne Frechheit, so 'ne – so 'ne Chuzpe! Aber Gott der Gerechte wird sie strafen bis ins vierte und fünfte Glied! Was meinen wohl der Herr Baron, wer's geschrieben hat?« Er drängte sich ein Schrittchen näher und lugte dem andern bedeutungsvoll von unten herauf ins Gesicht. »Unsereins kommt viel unters Publikum – en armer Jüd, vor dem geniert man sich nich. Meine Hochachtung dem Herrn Baron – Baron is er, aber er hat 'n Herz für den Fortschritt und für unsre Leut'. Soll ich dem gnädigen Herrn Varon ins Ohr flüstern, wer's Papierchen hat an die Scheune geklebt?«

Er näherte seinen Kopf dem Ohr des Niemczycers.

Da fuhr dieser zurück, als habe ihn ein widriges Insekt gestreift. »Nein«, sagte er hochfahrend, »ich will es nicht wissen!« Schroff wendete er sich ab, mit einem flüchtigen Greifen an den Rand seines Hutes. Rasch entfernte er sich querfeldein.

Löb Scheftel stand wie begossen und sah ihm nach.

Isidor kam angefahren: »Nu, nu, was hat der Herr Baron gesagt? Wird er dir verkaufen – und wie billig?«

»Dreh um! Wir werden nich fahren nach Niemczyce«, sagte der Alte ganz melancholisch, und ein Zucken wie von wirklicher Betrübnis ging über sein spitzbärtiges Gesicht. »Ich bin nich gekommen zu Rande mit dem Herr Baron. Er is 'n Rosche, so gut wie die Gojim alle.«

Da hätte er's nun erfahren können, was ihn so quälte. Das sagte sich Doleschal in einem fort. Aber nein, so nicht, aus dieser Quelle nicht! Er rümpfte die Nase, ein Ekel zog seine Oberlippe in die Höhe. Und was hatte der Jude noch gesagt? – ›Ich werde geben dem Herrn Baron meine Stimme‹ – unverschämt! Vom Hofe jagen sollte man den Menschen für diese Frechheit!

Aufs tiefste verstimmt, stapfte Doleschal durch den aufgeweichten Acker. Er fühlte sich beleidigt: also der Jude warf sich auf zu seinem Protektor? Nein, es war doch zu unsäglich naiv! Darüber konnte man wirklich nur lachen.

Aber er fand kein erlösendes Lachen. Alles ärgerte ihn, die Furche, in die sein Fuß sank, die Sonne, die sich aus den Wolken losgewunden hatte und grell herunterstach, die Bestellung, die ihm viel zu weit zurück schien. Warum zögerte Hoppe so? Es mußte vorangemacht werden – voran! Alle andern waren schon viel weiter.

Ohne daß er's wußte, war er hinaufgestiegen zum Lysa Góra. Den Rücken gegen die Kiefer gelehnt, von Deutschau abgekehrt, sah er mit gerunzelter Stirn hinaus ins weite Land.

Da grünte die Saat von Przyborowo, da blaute der Chwaliborczycer Wald in der Ferne, die Äcker von Deutschau umwitterte erdiger Duft. Drei Grenzen übersah hier der suchende Blick. Und über allem der Himmel, mit schlängelnden Bändern von einem lichten Blau, wie man ihn lange nicht gesehen hatte. Frühling wollte es werden auf Erden. Nur schwarz wie immer reckte sich der Turm von Pociecha-Dorf gegen den Horizont, und die Häuschen von Pociecha-»Augenweide« lagen noch immer wie nackte Würfel auf dem Brett der großen Ebene.

Es verwunderte Doleschal weiter nicht, als er, nach Hause zurückkehrend, den Ansiedler Bräuer dort vorfand. Hatte er nicht eben beim Anblick der Kolonie dieser Leute gedacht? Hoffentlich hörte er jetzt endlich einmal etwas Gutes!

Aber die Miene des starken Mannes war in sich gekehrt.

Eine Aufforderung der Gutsherrin, drinnen Platz zu nehmen und im Zimmer ihren Gatten zu erwarten, hatte Bräuer abgelehnt. Über den Hof war er hin und her getrottet in einer gewissen Unruhe, hatte flüchtige Blicke in die Ställe geworfen und mit seinem derben Knotenstock gedankenlos im Mist gestochert. Nun hatte er auf die Frage des Gutsherrn, wie es denn bei ihm zu Hause stehe, nur ein mißvergnügtes Brummen.

Wie sollte es wohl bei einem Ansiedler stehen, der hierzuland so aufgeschmissen war, so aufgeschmissen wie – no, gar nicht zu sagen, wie! Das neue Haus war feucht. In der trocken-kalten Winterzeit war es noch leidlich gewesen, aber nun sickerte und rieselte es von allen Wänden; die tauten. In der guten Stube war nicht nur an der Wetterseite die Tapete abgefallen; in der Küche stand auf dem Estrich alle Morgen ein ganzer Pfuhl, das Grundwasser drang aus dem Boden. Alle Türen klafften, sie hatten sich geworfen; kein Fenster ging auf, alle Rahmen waren verquollen. Aber was das Schlimmste war: die Frau konnte das Klima nicht vertragen, die war krank. Den ganzen Winter hatte sie Zahnreißen gehabt, jetzt hatte sie's im Leibe und immer Schmerzen in Seite und Rücken. Das harte Schaffen war sie eben auch nicht gewohnt; sie würde noch zum Liegen kommen.

»Jeses Maria« – der Ansiedler fuhr sich mit der flachen Hand über das verzogene Gesicht – »ein' Frau hab ich als verloren – dem Valentin sein' Mutter war noch zehn Jahr jünger als dat Kettche, als se sterben mußt. Wenn ich dat nu noch einmal erleben sollt, häng ich mich an den nächsten starken Baum, den ich find!« Er lachte bitter auf: »Nit emal 'ne anständige Baum hat mer hier! Mein' Obstbäum' kann ich nur auch im Schornstein schreiben, da wird sein Leben nix draus. Der Wind biegt die, als wären se dünne Haar'; im Winter hat ich sie so eingepackt wie en Pupp', mit Moos un Stroh un Säck' drum. Jawohl, abgekratzt haben mir die Luders, die Hasen, die ganze Verpackung, und die Borke abgeknabbert. Die Bäum' gehen kaputt. Un wat glauben Sie wohl, werd' ich nu en Entschädigung kriegen? Ne, so wat is hierzuland kein' Mod'. Dat sollt emal bei uns am Rhein passieren! Wenn da dem Graf Spee sein Wild oder dem von Ahrenberg seinet dem Bauersmann den Acker verbuddelt oder den Garten verruiniert, da muß de große Herr gleich Schadenersatz leisten. Da gibt et doch noch Recht und Gerechtigkeit. Da sind überhaupt nit soviel Unterschied'! Ne« – er ballte die Rechte zur Faust und klatschte unwillig mit dieser in die offene Fläche der Linken – »wat mich dat ärgert, dat wir nit nach Amerika gezogen sind! En größer Risiko war dat auch nit als hierhin, un wenn einer schnell reich werden will, kann er dat da drüben viel besser!«

Immer dieselben Klagen! Doleschals Auge, das sich beim Anblick des deutschen Mannes erhellt hatte, wurde wieder trüb. War denn das Schnellreichwerden das einzige Ziel, nach dem sie strebten? Hatte dieser Mann hier, der so recht das Urbild eines Deutschen schien, dessen Sohn soeben erst im Heere gedient hatte, denn gar kein nationales Empfinden?!

»Warum sind Sie eigentlich vom Rhein fortgezogen, Bräuer?«

»Ja, wissen Se« – der Ansiedler kratzte sich den Kopf – »no ja, darum! Et stand ja soviel dervon in den Zeitungen, von den ›großen Vergünstigungen‹, un wat weiß ich noch alles. Un da dacht ich mir: der große Jung hat sein Teil von der Mutter selig, aber Vatersteil muß er doch auch kriegen, und da sind die vier kleine Mädches, die wollen doch auch mal wat haben. Un du selbst bist doch auch nit alt, wer weiß, vielleicht kriegste noch Kinder, un dich dein ganz' Leben lang plagen möchtste doch auch nit, aber am Rhein is et so teuer, da wirste ganz gries, bis de dich ausruhen kannst. Wissen Se, et is sowieso da nix mehr mit der Landwirtschaft. Alles Fabrikken. Selbst die Sieben-Berg' möchten se abkloppen, für Stein zu kriegen zum Fabkikkenbauen. Wat soll da noch der Landmann? Ich hab en ganz hübsch Vermögen, aber am Rhein is dat gar nix, da sind ihrer viel, die Geld haben. Im Posenschen is et aber noch wat, die Polacken sind power. Un ich dacht: jedenfalls is et da genug für 'ne schöne Anfang. Als ich zum Valentin dervon sprach, war de gleich Feuer un Flamm. Der hat schon auf der Schul immer gern Indianerbücher gelesen, und wat die Geschichten vom Karl May sind – hau, de kann schön schreibm, die mocht ich selber noch gern lesen. Da kriegt mer ja so en Lust. Un denn, sehn Se, da hatte de Valentin in Köln eine von seiner Soldatenzeit her – guter Bürgersleut Kind war se, un wat Geld hatte se auch –, aber er mocht doch nu nit mehr recht, loskommen wollt er. Drum weit fort. Ach –«, er seufzte plötzlich auf und wiegte bedauernd den Kopf hin und her, »hätt er lieber die geheirat', et hätt besser gegangen, denn nu – ach du lieber Gott!«

Er brach plötzlich ab.

Und dann, nachdem er ein paar Sekunden starr vor sich hin geguckt hatte, fuhr er plötzlich auf: »Der Teufel soll ihn holen, den Kerl, den Frelikowski! Kömmt de Schweinhund, de Polackenspion, mir auf einmal in meine Garte gestiegen, find't da en erbärmliche Hasenschling und macht 'ne Schkandal, als wär dat 'ne Strick, wo 'ne Mensch drangehängt is. Will mich aufnotieren, will mich auch seinem Herrn anzeigen, vor't Gericht bringen, Gott weiß wat! Aber ich hab dem heimgeleucht': ›Macht, dat Ihr eraus kommt! Eraus aus der Tür!‹ Aber de Kerl is so stark wie ich. Un de Valentin wollt nit mit anpacken, de stand wie vernagelt. Da hat de Schuft mein Flint mitgenommen, die geladen über mei'm Bett hängt – Donner un Doria!«

Bräuer atmete hastig, die Stimme zitterte ihm vor Erregung: »Herr, nu sagen Sie nur, muß ich mir dat gefallen lassen? Ich mir gefallen lassen von – dem – dem Polack?! Ne, ich laß et mir nit gefallen! Un ich laß et mir nit gefallen! De Valentin sagt zwar, ich hält unrecht – ach wat, de Jung is Partei! Ich laß et mir nit gefallen. Un wenn dat Wild mir mein' Bäum' ruiniert, schieß ich et eben, wie mer en Katz schießt, die auf die Vögel geht. Den will ich doch sehn, der mir dat verwehrt!«

Protzig reckte er seine breitschulterige Gestalt, die Röte des Zorns brannte ihm auf der Stirn. Begierig nach Zustimmung suchte sein Blick den Doleschals.

In diesem regte sich der Unmut: war der Mann denn ganz ohne Disziplin? Wie sollte man von Polen Gesittung verlangen, wenn Deutsche ein so schlechtes Beispiel gaben?!

»Hören Sie, Bräuer«, sagte er scharf, »Sie sind wohl ganz des Kuckucks. Ich habe Ihnen, wenn ich nicht irre, schon früher gesagt: wir leben hier in einem zivilisierten Lande. Wie können Sie Wild schießen, einfach, weil es Ihnen paßt? Dann sind Sie ja nicht besser als ein Wilddieb!«

»Oho!« Der Ansiedler schlug eine grobe Lache auf. »Auf meinem Grund un Boden bin ich doch Herr. Ne, dann haben Sie eben kein' richtigen Begriff von der Sach! Un mit dem Wilddieb, da seien Sie nur ganz still von! Ich bin keine Wilddieb. Ich bin 'ne anständige Mann, un wer wat spricht von ›Wilddieb‹, de is meine Freund nit mehr. Ich will nur lieber gehen. Sie haben viel Freundlichkeit für uns gehabt, Herr – danke! –, aber verstehn tun wir uns doch nit. Adjüs!«

Er grüßte kurz, mit dem ganzen Stolz eines Mannes, der sich in seinem guten Recht beleidigt fühlt, und ging, weit ausholenden Schritts, den Knotenstock fest aufsetzend, zum Hoftor hinaus.

Es gab dem Zurückbleibenden, der ihn forteilen sah, einen Stich durchs Herz. Auch der ging unzufrieden! Auch der, auf den er so viele Hoffnungen gesetzt hatte, war nicht das Holz, aus dem man die Männer schnitzt, tauglich für die Scholle, welche, gedüngt mit Blut, jetzt beackert sein will mit liebender Hingabe, auf daß sie Frucht trage.

Nun – er tröstete sich damit –, diese Generation, Leute wie Bräuer, waren eben nicht geeignet zu der Mission. Sie waren nicht erzogen dazu. Aber ihre Kinder! Der Sohn zum Beispiel, der Valentin, wenn der sich hier festsetzte, der war noch jung genug dazu, das Land lieben zu lernen, in dem er zwar nicht geboren, aber zum Manne geworden war. Und wenn der sich eine Familie hier gründete, so konnte sie eine Pflanzstätte deutschen Wesens werden, eine Feste gegen das Slawentum.

Voller Sympathie gedachte Doleschal des schmucken Ansiedlersohnes, der offen und heiter jedem ins Gesicht sah mit seinen blauen Augen.

Als er zu Helene eintrat, lächelte er. Sie saß in der Kinderstube. Erfreut über sein erheitertes Gesicht, ging sie ihm entgegen, umfaßte ihn und hob die Stirn zu ihm auf, daß er sie küsse.

Die Knaben umsprangen ihn. Früher hatte Väterchen sie oft reiten lassen auf seinen Schultern, das wollten sie auch heute wieder gern. Und er willfahrte ihnen.

Er lachte, als er einen nach dem andern seiner Söhne auf die Schultern hob. Schwere Burschen schon, das mußte man sagen; aber er fühlte die Last nicht. Wie ein wildes Pferd galoppierte er um den großen Tisch, an dem sie eben ihre Nachmittagsmilch getrunken hatten; noch standen die silbernen Becher, auf jedem der Name seines Besitzers, der Reihe nach: Hanns-Martin, Friedrich, Erich, Werner, Kurt.

Ganz außer Atem ließ sich der müde Vater endlich auf einen Stuhl fallen. Aber als Helene den Knaben, die nun stürmisch seinen Schoß erkletterten, wehren wollte, sagte er leise: »Laß sie!«

Sein Auge war schnell wieder ernst geworden. Lange ruhte es, wie prüfend, auf den noch kindlich unentwickelten, weichen Zügen seiner Knaben. Seiner Frau zunickend mit einem Lächeln, das heiter, aber nicht ohne Wehmut war, sagte er: »Ja, ja, mein Herz, man wird alt! Und müde schon. Unsre Söhne wachsen heran!«


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