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Zwanzigstes Kapitel

Wie einen tiefen Schmerz empfand es Helene, daß die Stimmung jenes ersten schönen Abends bei ihrem Manne nicht andauerte. Er hielt sich ganz für sich, schützte wichtige Korrespondenzen vor. Sonst lagen die fertiggemachten Briefe immer auf dem kleinen Tisch im Entree, und der Landbriefträger oder der Bote, der gerade zur Post ging, holte sie sich von dort heraus – aber jetzt lag da kein Brief, sie sah keine Adresse. Er hielt seine Tür verschlossen, was er sonst nie getan; jederzeit hatte sie sonst eintreten und ihm über die Schulter weg aufs Papier sehen dürfen. Nicht wie sonst saß er abends bei ihr in ihrem Wohnzimmer; seit Tagen stand sie allein am Fenster und sah über den dunklen See hin zum dunklen Lysa Góra, über dem Frühlingssterne funkelten.

Hatte er denn immer noch zu schreiben?! Die im Sommer bevorstehende Wahl mache ihm unendliche Arbeit – so sagte er ihr. Aber sie glaubte es nicht recht; war da nicht noch etwas andres, etwas, das ihm mehr Qual machte, als alle Arbeit und Wahlunruhe es machen konnten? Ihr schien es fast, als habe er jetzt gar nicht mehr das rechte Interesse für die Wahl. War er denn seiner Sache so sicher, oder hatte er die Hoffnung bereits aufgegeben? Sie wußte nicht, was sie wünschen sollte.

Doleschal sah sich in einer peinlichen Lage. Er hatte, um das, was er für unbedingte Pflicht hielt, nicht länger hinauszuschieben, wenige Tage nach seiner Rückkehr von Berlin einen Besuch in Przyborowo gemacht. Er war nicht hinübergefahren, er war hinübergegangen, am gewöhnlichen Wochentag, und um ja der Sache nicht den Schein von Wichtigkeit beizulegen, im gewöhnlichen Anzug, so wie man wohl auf einem Schlendergang bei einem nächsten Nachbar ungeniert vorspricht.

Aber er hatte sich getäuscht, wenn er geglaubt hatte, sein Besuch würde so ganz unauffällig sein. Dafür war er viel zu lange nicht bei Kestners gewesen.

Schon als er durchs Przyborowoer Tor trat, glotzten ihn neugierige Blicke an. Eine kleine Magd stand auf dem Hof und fütterte die Hühner; eine Wolke von Federvieh stob um sie auf, als sie, beim Anblick des Niemczycer Herrn, ihren Futterkorb fallen ließ und mit hurtigen Sprüngen ihrer nackten Füße dem Hause zueilte.

Als Doleschal an der Klingel zog, wurde er bereits erwartet. Herr Kestner trat ihm aus seinem Zimmer, rechts bei der Haustür, entgegen – mit Zurückhaltung – aber man sah seiner Miene doch die Genugtuung an. Der Niemczycer kam zu ihm! Gewiß wegen seiner Wahl?!

Doleschal hatte gedacht, bei Kestner in das sogenannte Studierzimmer, das den Blick über den Hof hatte und dessen Tür von stetem Ein und Aus klappte, ganz ungeniert eintreten zu dürfen. Er wandte sich auch sofort dorthin, aber Kestner wehrte ihm mit ausgebreiteten Armen den Eintritt: »Oh, ich bitte Sie – nein, das würde meine Frau nicht verzeihen! Bitte, hierherein!«

Er stieß die Tür auf zum Salon, diesem gegen jeden Sonnenstrahl und jeden Fliegenschmutz verwahrten, mit wohlerhaltenen Plüschmöbeln ausstaffierten Raum, in dem Kornelia am Flügel saß und übte.

»Meine Tochter Kornelia!« stellte der Hausherr vor. »Meine Jüngste!«

Der hoch aufgeschossene Backfisch knickste und wußte nicht, ob er die Hand reichen sollte.

»Meine Frau wird gleich kommen. Entschuldigen Sie, sie war gerade dabei, an Paul zu schicken, wird aber sofort erscheinen. Darf ich bitten?« Kestner wies auf einen Plüschsessel und setzte sich dann selber dem Besucher steif gegenüber.

Doleschal biß sich auf die Lippen: wie fatal, ganz als steifer Besuch wurde sein ungezwungenes Vorsprechen beim Nachbar aufgefaßt! Die ganze Angelegenheit bekam dadurch ein andres Gesicht. Nun würde auch gleich die Dame des Hauses erscheinen, und die Tochter war auch zugegen. Übrigens ein hübsches Mädchen!

Er hatte die Schwester Pauls lange nicht gesehen, letzthin nur so flüchtig, daß ihr Anblick ihn jetzt überraschte. Zwar war der Rock noch halblang bis zu den Knöcheln, aber was ihm im Reitkleid nicht aufgefallen war: die Formen waren schon sehr entwickelt. Heute hingen ihr auch die Zöpfe nicht kindlich lang herunter wie neulich, halb gelöst auf wildem Ritt; sittig zu einem Kranz um den Kopf gelegt war das blonde Haar. Die Wimpern niedergeschlagen auf die leicht besommersproßte, blühende Wange stand sie da – nein, das war kein Kind mehr!

Eine Befangenheit überkam Doleschal: wenn das seine Tochter wäre, wie peinlich würde es ihm sein, das zu hören, was er jetzt dem Vater hier sagen wollte – sagen mußte. Er gab sich einen Ruck. »Ich – ich – dachte – ich wollte – ich möchte Sie gern einen Augenblick allein sprechen, lieber Kestner!« Er stotterte etwas. Zu unangenehm! Immer aufgebauschter wurde so die Sache, und so ganz gegen seinen Willen. Aber er konnte nicht mehr zurück. Mit einer leichten Verbeugung wandte er sich gegen Kornelia: »Gnädiges Fräulein entschuldigen!«

»Geh mal 'raus«, sagte Kestner und setzte sich erwartungsvoll in Positur. Aha, allein sprechen wollte ihn also der Niemczycer! Es schien ihm viel daran zu liegen – welch ein Triumph! Nun kam er doch, der Niemczycer, mußte er doch kommen und sich um die Gunst des Przyborowoers bewerben. Wenn doch Amalie jetzt zugegen wäre!

»Geh, ruf mal Mama«, rief er seiner Tochter nach, die ihre Noten zusammengerafft hatte und nun mit einem Knicks das Zimmer verlassen wollte.

»Oh, bitte!« Doleschal legte ihm die Hand auf den Arm, »ich möchte Sie allein sprechen!« Er betonte das ›allein‹.

»Also –?« sagte Kestner, als sich die Tür hinter Kornelia geschlossen hatte. Er war neugierig, aber gewissermaßen auch ein wenig schadenfroh: dem Baron schien es nicht leicht, sein Anliegen vorzubringen. Ja, das kommt davon, warum stellt man sich so mit seinen Nachbarn!

Er tat nichts, gar nichts, dem andern entgegenzukommen – mochte der ihm nur kommen!

Sich vorbeugend zu seinem Gegenüber und die Hände ineinanderschlingend, daß die Gelenke knackten – half es doch nichts, gab es doch kein Zurück mehr – sagte Doleschal jetzt in möglichst leichtem Ton: »Gestatten eine Frage, Herr Nachbar! Wie alt ist Ihr Fräulein Tochter?«

»Na – fünfzehn, wird nächsten Monat sechzehn«, sagte Kestner ein wenig erstaunt. Er hatte sich etwas andres erwartet, aber zugleich lächelte er auch geschmeichelt: »Schon stattliches Mädel, nicht wahr?«

»Hm – sehr!« Doleschal beugte sich noch weiter vor, und seine Stimme klang anders, als er eigentlich beabsichtigt hatte, leiser und doch gewichtiger: »Jedenfalls kein Kind mehr. Ich würde sie jedenfalls nicht mehr allein ausreiten lassen – hören Sie, Kestner, jedenfalls nicht mehr mit dem – mit dem – nun, mit dem Inspektor!«

»Mit dem Inspektor?! Wieso – warum?« Man sah's an des Vaters weit aufgerissenen, erstaunten Augen unter hochgezogenen Brauen, daß er keine Ahnung von diesem Ritt hatte.

Also richtig: Kestner wußte nichts, hatte gar keine Ahnung. Wie dankbar würde er ihm nun sein! Und rasch, ohne sich zu besinnen, erzählte Doleschal jetzt von der neulichen Begegnung am Luch. Er hatte sehr vorsichtig sein wollen, äußerst schonend, aber nun betonte er doch, wie sehr er durch sie verletzt worden sei – in die Seele des Vaters hinein – in die Ehre des Bruders.

»Welchen Mißdeutungen ist solch ein junges Mädchen ausgesetzt! Ich muß gestehen, ich selber würde, wenn ich nicht –«

Erregt unterbrach ihn Kestner. »Sie wollen doch etwa nicht sagen, daß meine Tochter imstande wäre, etwas – etwas –« Er schnappte nach Luft; ihm war, als sollte ihn der Schlag rühren. Dieser Schreck und dann diese Enttäuschung! Nicht wegen der Wahl kam der – sondern wegen Kornelia – wegen Kornelia?

»Da muß ich doch sehr bitten, sehr bitten!« Kestner war aufgesprungen und rannte mit großen Schritten im Salon auf und ab.

Erschrocken verbesserte Doleschal: »Pardon, ich – selbstverständlich ich – ich weiß ja natürlich, daß – ich trete ja gerade für das Fräulein ein – aber andre könnten –! Lieber Kestner« – er war auch aufgestanden und legte dem Erregten die schlanke Hand mit dem Wappenring der Doleschals auf die Schulter – »Sie kennen doch die Welt so gut wie ich. Das Reinste ist nicht rein genug. Und dann in unsern hiesigen Verhältnissen – wir müssen doppelt Bedacht nehmen – und dieser polnische Inspektor …«

»Erlauben Sie, der Mann ist nicht polnisch«, unterbrach ihn Kestner heftig, »der Mann heißt ›Schulz‹!«

»Aber polnisch geworden ist er. ›Szulc‹ schreibt er sich – Sie gestatten!« sagte Doleschal jetzt etwas scharf. Daß Kestner jedes Rühran seiner Tochter übel vermerkte, war natürlich, aber wie man so gereizt werden konnte bei Erwähnung dieses Inspektors! Überhaupt, war es nicht unerhört, daß ein deutscher Gutsherr sich einen polnischen Inspektor hielt?

Das hatte ihn schon lange geärgert.

»Ich traue dem Menschen nicht«, sagte er mit einem Achselzucken, »den Renegaten ist nie zu trauen!«

Da fing Kestner laut an zu lachen: »Das hat Ihnen wohl Hoppe eingeblasen, der alte Esel! Nichts als Eifersucht von dem, Eifersucht, da er nicht mehr hier in Przyborowo ist.«

»Ich lasse mir von meinem Inspektor nichts einblasen. Übrigens hat er das auch nie versucht.«

»So – na, wenn Sie mit ihm zufrieden sind! Ich hätte mir an Ihrer Stelle diesen alten Stoppelhopser nicht engagiert. Sozialdemokrat ist er auch noch dazu – das verträgt sich nicht mit seiner Stellung.«

Doleschal stieg das Blut zu Kopf. Schärfer, als er es eigentlich wollte, sagte er: »Und ich finde es mit meiner Stellung nicht vereinbar, mir einen polnischen Inspektor zu halten. Übrigens« – er besann sich, was sollte er mit dem hier disputieren? – »sind wir von unserm Thema abgekommen, Herr Kestner. Es war lediglich das Interesse für Pauls Schwester, das mich hierhergeführt hat.«

»Interesse, Interesse«, grämelte Kestner und lief mit hochgezogenen Brauen in der Stube hin und her.

In diesem Augenblick kam die Frau des Hauses. Sie war noch im Morgenrock gewesen – sehr sauber – aber dem Baron so simpel entgegentreten? O nein! Sie hatte sich mit der Toilette beeilt, und so kam sie, etwas erhitzt, in einem schweren Wollenkleid mit Seidenbesatz.

Doleschal küßte ihr die Hand mit dem lebhaften Wunsch, bei der Mutter mehr Verständnis zu finden. Er wußte, Frau Kestner galt als sehr gute Mutter. Es war ihm so unbehaglich in diesem nicht immer bewohnten, nur bei besonderen Gelegenheiten benutzten Salon. Ein erkältender Hauch legte sich von diesen Wänden nieder auf seine Seele. So steif war er kaum je gewesen, er fand keinen gemütlichen Ton. Konnte er sich wundern, daß die Kestners auch steif waren?

»Ein seltnes Vergnügen!« sagte die Hausfrau spitz, wenn sie auch verbindlich dabei lächelte.

»Er kommt wegen Kornelia«, sagte Kestner. »Unsre Tochter soll sich nicht passend benommen haben!« Die ganze Verletztheit des eitlen Vaters brach jetzt durch – nichts auf der Welt liebte er so wie diese Tochter –, er bekam einen roten Kopf, und die Stimme zitterte ihm: »Man sagt dem Kinde Abscheuliches nach. Man verdächtigt sie – womöglich eine Liebschaft mit dem Inspektor – Herrgott, Herrgott!« Er faßte sich an den Kopf.

»Aber ich muß doch sehr bitten, bester Herr Kestner! Nichts habe ich hiervon gesagt, gnädige Frau, gar nichts, ich versichere Sie!«

Der bestürzte Besucher erhob die Stimme, aber der Hausherr erhob die seine dagegen. Nein, auf seine Kornelia ließ er nichts sagen! Und wenn es etwa galt, auf Pan Szulc zu hetzen, der ja, verhaßt wie alles Polnische – allbekannt war das und diente wahrlich nicht zur Förderung des allgemeinen Interesses –, dem Herrn Baron ein Dorn im Auge war, so mußte er sich's doch ganz entschieden verbitten, seine Tochter als Deckmantel einer Intrige benutzt zu sehen.

Diesen Ton konnte er sich nicht gefallen lassen. Doleschal verabschiedete sich mit einer steifen Verbeugung gegen die Frau des Hauses.

Sie hielt ihn nicht zurück. Auch sie war empört. In die Stille ihres Hauses hatte dieser adelsstolze Prinzipienreiter einen Funken zu werfen gewagt wie überall, wohin er auch kam. Was hatte er denn eigentlich gesagt? Was war denn eigentlich geschehen?!

Aber Kestner rannte wie unsinnig durch die Stube, gab ihr keine Antwort und hielt sich den Kopf mit beiden Händen: dieser Doleschal, dieser verfluchte Hakatist – ein Hetzer, ein Stänker! Was mischte er sich in alles, in Sachen, die ihn gar nichts angingen?!

»Rufe mir den Inspektor – den Pan Szulc – sofort!« Was Kestner sonst nie getan haben würde, er bestimmte, daß man den Inspektor hole, vom Felde, aus der Scheune, wo er auch sei, mitten von der Arbeit weg. Er mußte ihn sprechen. Und dann würde er an Paul schreiben – Paul mußte her, und zwar sofort – das ließ er sich nicht gefallen, das war eine Beleidigung, eine ungeheure Beleidigung.

Der sonst ewig grämelnde, nie ganz ernsthaft zu nehmende Mann wuchs jetzt in der Kränkung über die Kränkung seiner Tochter über sich selbst hinaus. Es war Würde in dem Brief, den er sofort an seinen ältesten Sohn schrieb. –

Ungeleitet war Doleschal zur Haustür hinausgegangen. Ganz benommen, wie betäubt. Also das war der Erfolg?! Er kam sich vor wie ein dummer Schuljunge. Hatte er denn noch immer nicht ausgelernt? Wie anders hatte er sich sein Herausgehen aus diesem Hause gedacht! Er hatte geglaubt, Kestner würde ihm die Hand drücken, und er hatte gehofft, durch diesen wirklichen Freundschaftsdienst wieder gutzumachen, was er einmal in unbedachter Gereiztheit dem alten Herrn Unliebenswürdiges angetan. Gehofft – gehofft –! Er lachte bitter. Wieder einmal auf Unmögliches gehofft. Warum hoffte man eigentlich immer wieder – für was – für wen?!

Die ganze Qual seines Daseins hob sich vor ihm auf und die Fruchtlosigkeit seines Ringens. So wie Kestner, so waren sie alle, alle. Ein wenig besser, ein wenig schlimmer, aber alle ohne Verständnis. Das ganze Volk. Was man ihnen auch Gutes tun wollte, sie stießen es von sich. Überall Nichtverstehen, Stupidität, Trotz – und noch viel Schlimmeres: Tücke, Haß. War es dieses Land wert, daß man es auf blutendem Herzen trug wie ein Vater ein geliebtes Kind, das ihn oft kränkt und ihm doch immer gleich teuer ist?!

Eine ungeheure Bitterkeit wallte in Doleschal auf. Dieser unangenehme Zusammenstoß mit dem Nachbarn hatte Quellen aufgerührt, die noch verschüttet gelegen hatten. Der kleine Zufall wurde ein großer Vorfall – nein, nun war es ihm deutlich gezeigt, hier war nichts zu machen. Er war am Ende, ihn ging's nichts mehr an; mochte jetzt geschehen, was da wollte, er würde keine Hand mehr heben, kein Wort mehr dazwischenrufen! Mochten sie polnisch werden bis in die Knochen, und mochten sie samt den Polacken selber verkommen in Schmutz und Suff und Verdummung! Mochte dieses Land ausgenutzt, ausgesogen werden, ganz unter die Füße kommen! Wer darin war eines besseren Loses wert? Sich ganz zurückziehen würde er nun, sich ganz auf sich selbst beschränken. Aber da dünkte ihn plötzlich der sonnige Frühlingsvormittag dunkel und kalt; ihn fröstelte.

Als er, ohne zu sehen, über den Hof stolperte, den Blick finster gesenkt, hörte er ein Weinen. Es klang so jämmerlich wie ein hilfloses Kinderweinen. Und nun konnte er den Blick nicht zur Erde gesenkt lassen. Er sah sich um – da kauerte, wenig Schritte von ihm entfernt, beim Hofpfuhl ein junges Ding auf den Hacken. War das nicht das kleine Hühnermädel, das ihn vorhin so flink im Herrenhaus angekündigt hatte? Jetzt saß es hier wie eine Trauernde. Neben dem Pfuhl war eine Mulde im schlammigen Grund ausgeschaufelt, darin lag auf der Seite, bis an die Ohren mit Schlamm bedeckt, ein junges, noch nicht ausgewachsenes Schwein. Es war häßlich betupft, ganz blaurot angelaufen, und so regungslos lag es, als wäre es schon tot; nur die Ohren zuckten noch. Die Magd war so versunken in ihren Gram, daß sie gar nicht merkte, wie jemand zu ihr trat. Den Kopf auf die Knie gelegt, stöhnte sie herzbrechend.

War das Mädel krank? Doleschal tippte ihr auf die Schulter.

Die kleine Marynka hob das vom Weinen verschwollene, ganz erhitzte Gesicht. Mit großen, erschrockenen Augen starrte sie den gnädigen Herrn von Niemczyce an: was hatte sie denn getan? Er sah streng aus wie Pan Keszner, wie Pan Szulc – wie alle, alle! Unwillkürlich duckte sie sich.

»Ist das Schwein krank?« fragte Doleschal. »O weh, Rotlauf!« Er betrachtete es. »Schade um das Tier, es krepiert.«

Die kleine Marynka horchte auf: war der nicht mitleidig? O ja! O ja! Auf ihre Füße springend und dann tief einknicksend und nach dem Ärmel seiner Joppe haschend, stammelte sie: »Mein Schweinchen, Ringelschwänzchen, mein bestes Schweinchen! Kann ich aber nicht dafür, daß stirbt. Werd' ich doch nicht schlecht passen auf Ringelschwänzchen, mein bestes Schweinchen, wenn sich Mamsell auch so sagt. Psia krew!« Den Kindermund aufwerfend, machte sie ein kläglich trotziges Gesicht, und ein Strahl von Tücke blitzte in ihren scheuen Augen. »Mag sie, macht sich kleine Marynka nix draus. Aber Schweinchen, Schweinchen, liebes Freund von kleine Marynka, darum weine ich!«

»Wem gehörst du?« fragte Doleschal. »Gehörst du dem Kuhhirt oder vielleicht einem der Fornals?«

»Ist sie dem Herr Keszner seine«, sagte sie unschuldig und stieß sich mit dem Zeigefinger vor die Brust. »Weiß sie nicht, wer Eltern waren, sind sich lang tot. O weh, kleine Marynka, armes Waisenkind, sieht sterben liebes Freund!« Die Hände ringend, fing sie von neuem im, bitterlich zu weinen.

»Da!« Doleschal faßte in die Hosentasche, in der er das Geld lose trug.

Was er herauszog, besah er nicht – es war wirklich gleichgültig, ob es vielleicht zuviel war – mochte das arme Ding sich einen guten Tag machen! Soviel Tränen um ein Schwein, um ein Schwein – Herr Gott, diese Armseligkeit! Besaß sie denn weiter nichts auf der Welt zum Lieben als ein unvernünftiges Stück Vieh? Es schwoll ihm etwas im Herzen und stieg ihm in die Kehle; kurz wendete er sich ab.

Sie blieb zurück wie betäubt vor Erstaunen. Sie hatte ihm noch das Knie küssen wollen, den Segen aller Heiligen auf ihn herabwünschen – nun war er schon gegangen, nun würde er gewiß denken: kleine Marynka ist undankbar. O nein, o nein! Hat sie ein Herz, die kleine Marynka.

Wie der Wind war sie hinter ihm drein. Draußen an der Akazie vorm Hoftor ereilte sie ihn noch – sieh, wie traurig er dastand! –, vor ihm niederstürzend, umfing sie seine Knie, atemlos stammelte sie: »Gnädiger Panie, guter Panie! Daß heilige Mutter ihn segne, millionenmal! Hat er sehr freundlich gesprochen mit arme Marynka, wird sie ihm dankbar sein ihr Leben lang. Oh!« Sieh da, lächelte er nicht schon ein wenig? Sie küßte und drückte stürmischer sein Knie. »Ist er sehr gut gewesen, wird sie das nie vergessen, kleine Marynka. War nie jemand gut gegen arme Marynka ihr Leben lang!« Lachend und weinend rutschte sie vor ihm. –

Armes Kind! Von einem tiefen, weichen Gefühl erregt, ging Doleschal nach Hause. Über den Äckern schwebte Duft, der ganze Zauber des Frühlings. Jetzt empfand er ihn. Ach, dieses Land, ausgenutzt, ausgesogen, zertrampelt von vielen Füßen, war doch noch jungfräulich, doch noch fähig, zu empfangen und Frucht zu bringen dem Liebenden! Wie konnte er nur daran denken, den Kampf aufzugeben? Nein, noch einmal ans Werk!

Wie durch einen Zauber neu belebt, ward Doleschals Seele fast heiter. Diese schüchternen, gestammelten, geschluchzten Worte des armen Kindes, was hatten sie nicht alles in sich an beschwörender Kraft!

In der diesem Tag folgenden Nacht hatte Doleschal sehr sanft geschlafen. Und auch den nächsten Tag war er noch heiter, er dachte gar nicht mehr an jenen unangenehmen Besuch. Aber dann –?! Was sollte er jetzt nur Helene sagen? Ihr Blick ging immer mit ihm, fragend, forschend. Nein, vorderhand durfte sie nichts erfahren! Es war ja so unglaublich von Kestner, fast albern, so über alle Maßen unverständig! Warum sollte er seine arme Frau schon jetzt mit Dingen ängstigen, die sie ja, schlimmsten Falles, doch immer noch früh genug erfuhr.

Kestner hatte ihm einen Brief geschrieben, ihm, ihm, dem Freiherrn von Doleschal, und er, er, der Freiherr von Doleschal, der nie einen Flecken auf seiner Ehre geduldet hatte, sollte sich den ruhig einstecken? Beleidigungen fordern eine Sühne – freilich, so hatte Kestner auch geschrieben. Lag nicht eine versteckte Drohung hinter diesen Zeilen?

Doleschal grübelte viel. »Ich schreibe, habe sehr viel zu schreiben«, sagte er zu Helene. Aber er schrieb nicht; auf Kestners Brief hatte er noch gar nicht geantwortet. Aber ihn viele Male gelesen. Am Schreibtisch sitzend, auf die grüntuchene Platte den Arm gestützt und hinausstarrend durchs blanke Fenster auf den blanken See, verbrachte er Stunden. Selbst nicht die jauchzenden Stimmen seiner Kinder, die von den Terrassen unten am See zu ihm herauftönten, scheuchten ihn auf. In Worten sagen, was ihn so niederdrückte, was langsam, langsam, aber stetig wie mit schweren Flügeln sich auf ihn niedersenkte, sich wohl einmal wieder lüftete für Minuten, Stunden, sogar für Tage, um dann doppelt schwer niederzusinken – das hätte er nicht gekonnt. War es wirklich nur das Zerwürfnis mit Kestner, das ihn quälte? O nein – darüber mußte er fast lächeln. Das war den Kummer nicht wert, das gab jetzt nur den Anlaß. Wenn der alte, kindische, eitle Mann ihn vor die Pistole fordern wollte – nun, warum nicht? Ein Knall – und so vieles konnte vorbei sein, würde vorbei sein. Dort unten am See, vom Lysa Góra beschützt gegen die Winde des offenen Landes, schlief sich's gut.

Nun, und wenn sie ihn nicht wählen würden – ach, das hatte er ganz vergessen, nächste Woche mußte er ja in der Kreisstadt und dann in verschiedenen anderen Orten, Ackerstädtchen und Dörfern Wahlreden halten – dann war es auch gleichgültig! Ungeduldig sprang er auf: ach, er war zu müde, zu müde! Nein, er mochte nicht mehr, er hatte es satt! Sollte er sich etwa von Löb Scheftel und Genossen ihrer Stimmen versichern lassen? Ein Ekel packte ihn. Und jemand anders würde wohl kaum für ihn stimmen trotz all der Liebenswürdigkeiten in Berlin, trotz der anerkennenden Versicherungen maßgebender Kreise. Was wußten die – so weit ab, so fern –, was wußten die darum, wie es eigentlich hier stand? Was man nicht im täglichen Leben so nahe vor sich sieht, so nahe fühlt, so Brust an Brust, wie der keuchende Ringer den Gegner im Faustkampf fühlt, das kennt man nicht. Aber er, er, der täglich, stündlich, immer all die großen und kleinen Stöße parieren mußte, die dem Deutschtum drohten, er wußte wohl, was hier not tat. Aber – und zum ersten Male stieg in ihm ein Zweifel auf, ein Zweifel, der ihn erschütterte –, aber war er, er nicht der nur, der gesandt war, anderen den Weg zu bereiten?! – –

 

Herr Kestner auf Przyborowo hatte so ziemlich die Besinnung verloren. Vergebens suchte ihm sein ältester Sohn klarzumachen, daß es unmöglich in Doleschals Absicht gelegen haben könne, Kornelias Mädchenehre anzutasten; dies ebensowenig, wie es seine Absicht gewesen sein konnte, den Vater zu kränken. So empfindlich der Rittmeister selber auch von der Sache berührt war – Teufel nochmal, wie kam Hanns-Martin dazu, das harmlose Kind zu verdächtigen! –, da glaubte er doch seinen Freund freisprechen zu müssen.

»So – so –, aber wenn er sich nun in den Kopf gesetzt hat, mir den tüchtigen Inspektor wegzubeißen, koste es, was es wolle?«

»Aber Papa!« Jetzt mußte der Sohn doch laut lachen. »Wie kannst du nur so was denken?«

»Du kennst diese Hakatisten nicht«, grämelte der Vater. »Was die Kerle alle stänkern! Nie haben wir früher soviel Krakeel in der Provinz gehabt. Deutsch, deutsch, deutsch – als ob der Szulc nicht zehnmal besser mit Land und Leuten Bescheid wüßte! Wir gehen zugrunde; aber nur an diesen Wühlereien. Ich hab's satt« – er stieß mit dem Fuß – »ich ziehe nach Posen!«

»Wenn du verkauft hast, Moritz«, warf Frau Kestner ein, die mit tief verstimmtem Gesicht am Kaffeetisch saß, trotzdem ihr Liebling, der Rittmeister Paul, heute, vor einer Stunde erst angekommen war.

»Nein, auch wenn ich nicht verkaufe«, beharrte Kestner eigensinnig. »Seit dieser Geschichte mit dem da« – er warf einen Nicker über die Schulter nach der Richtung von Niemczyce – »ist mir's nun ganz hier verleidet. Ich werde doch mein einziges Kind –«

»Bitte, Papa, wir sind doch auch noch da«, bemerkte trocken der Rittmeister.

»Ach, ich meine – äh, du weißt ja schon!« Ärgerlich fuhr der Vater auf. »Tochter, meine einzige Tochter, meine ich. Ich werde doch Kornelia nicht solchen Brutalitäten aussetzen. Hier ist's mir nicht mehr reinlich genug, alle Verhältnisse sind unsauber. Ich will wenigstens auf meine alten Tage meine paar sauer erworbenen Groschen in reinlichen Umgebungen verzehren.«

Der Rittmeister, der seine langen, glänzend polierten Fingernägel angelegentlich betrachtet hatte, sah jetzt doch auf: »So, also doch nach Posen? Ist auch 'n netter Ort. Na, wie du meinst, Papa. Wenn ich nur meine Zulage kriege!«

»Ja« – der Vater zog bedenklich die Augenbrauen in die Höhe – »ja, lieber Sohn! Aber du kannst ja Przyborowo übernehmen!«

»Den Deibel werde ich!« Ganz empört sprang der Rittmeister auf. »Eher schieße ich mir 'ne Kugel durch den Kopf, als daß ich hier auf der Klitsche Kartoffeln buddle. Nee, Papa, alles kannst du von deinem Sohn verlangen, nur das nicht!«

»Du wirst dem Niemczycer gründlich die Wahrheit sagen!« rief Kestner rasch, und etwas wie Haß sprühte in seinen Augen auf.

»Ich? Aber Papa!« Paul sah etwas betroffen drein. »Ich denke, Papa, das hast du selber schon besorgt. Und hast du ihm nicht noch dazu einen ganz gehörigen Brief hingepfeffert, wie Mama mir sagte?«

»Hab' ich, hab' ich! Aber glaubst du, der hat mir geantwortet? Einmal schon – es ist schon eine Weile her, auf einem Jagddiner bei Garczyñski war's – hat der hochnäsige Mensch sich umgedreht und mich stehenlassen ohne ein Wort, zum zweiten Male passiert mir's nicht mehr. Wozu habe ich denn Söhne? Mein Gut will keiner übernehmen, aber für meine Ehre wird doch wohl einer eintreten. Oder nicht?« Aufgeregt war Kestner aufgesprungen; die Hände auf den Tisch stützend, sah er den Sohn mit tränenfunkelnden Augen an.

»Aber Papa, Papa! Ihr seid hier alle so schrecklich aufgeregt, direkt cholerisch – weiß der Himmel, woher das kommt! Beruhige dich doch! Natürlich, wenn du's wünschest, werde ich mit Doleschal reden und –«

»Du wirst ihn fordern!« stieß der Alte heraus. Die Wut, die ihn überkam, erstickte seine Stimme; er zitterte.

»Moritz, Moritz!« Frau Kestner sprang besorgt auf. »Um Gottes willen, errege dich doch nicht so!«

»Aber Papa!« Des Rittmeisters frisches Gesicht zeigte plötzlich einen ihm sonst fremden Ernst. Er runzelte die Stirn, und dann sagte er gehalten: »Du scheinst dir das ›Fordern‹ doch etwas leichter vorzustellen, als es ist, Papa. Ein Duell ist kein Kinderspiel, man bricht es heutzutage – selbst bei uns – nicht mehr so vom Zaun. Und noch dazu in diesem Fall. Doleschal ist mein guter Freund gewesen, als ich noch ein dummer Junge war.«

»Mich rührt der Schlag«, ächzte Kestner und griff mit den Händen um sich.

»Ich werde ja zu ihm hingehen und mit ihm sprechen, Papa – wenn du es wünschest, gleich! Ich bin überzeugt, daß –«

»Warte, warte nur bis morgen!« Die Mutter zog den Sohn, der sich jetzt eben erhoben hatte, mit einer gewissen Besorgnis wieder nieder. »Wir wollen die Sache doch erst noch überlegen. Ich bitte dich, Kestner, du kannst doch wirklich von Paul nicht verlangen, daß er sein schönes, junges Leben so aufs Spiel setzt, einem Nichtswürdigen – ja, lieber Moritz, da bin ich ganz deiner Ansicht –, einem Nichtswürdigen sich ausliefert!«

»Und Kornelia, Kornelia –?! Und keine Antwort, nicht einmal eine Antwort hat er mir geschrieben! Kein Wort der Entschuldigung. Dieser Hakatist, dieser hochnäsige! Was hat der hier schon alles verbrochen! Längst hätte die Kommission mir abgekauft, wenn der nicht wäre. Aber so werden nur die Polen ihre Güter los – 'raus sollen die um jeden Preis – und Preise kriegen sie, Preise! Wir Deutschen bleiben einfach sitzen – wir sollen ja bleiben. Lauter deutsche Besitzer, nur Deutsche – als wenn das Land dadurch deutsch würde! Lächerlich!« Kestner lachte zornig auf und hatte die Stimme erhoben, daß Pan Szulc, der gerade vom Hof hereinkam und einen Bericht in der Studierstube abstatten wollte, aufhorchte und vor der Tür der erregten Stimme seines Prinzipals lauschte. »Dieser Hakatist, dieser Polenfresser! Verdreschen sollte man ihn, ihm eins auf den Mund geben, daß er still wird wie ein Mäuschen. Dann erst wird es hier besser werden, wenn der zum Schweigen gebracht ist!«

»Aber Papa!« Das war nun heute schon das soundsovieltemal, daß der Sohn ›aber Papa‹ sagte.

Verstimmt stand der Rittmeister auf: mit dem alten Herrn war wirklich kein vernünftiges Wort zu reden, der war so gereizt, wie der Stier, dem man ein rotes Tuch vorhält! Aber von der Mutter ließ er sich in ein stilles Eckchen ziehn. Dort flüsterte sie mit ihm.

 

Es war am folgenden Mittag zur Besuchsstunde, als Rittmeister Paul Kestner dem Herrn Baron seine Karte hereinschickte.

Warum so steif?! Doleschal, der an seinem Schreibtisch gesessen hatte, tief in Gedanken verloren, mit der Feder, an der doch keine Tinte war, allerhand krause Schnörkel auf die grüne Tuchplatte ziehend, blickte verwundert auf. Sonst war Paul nach flüchtigem Anklopfen gleich hereingestürmt – der alte, frische Junge! – und hatte ihn auf die Schulter geschlagen mit einem lachenden: ›Da bin ich mal wieder.‹ Warum schritt er heute so gemessen durch die Tür, die der Diener vor ihm aufwarf?!

Verstört sah Doleschal ihn an.

Der Rittmeister erschrak: Donnerwetter, hatte sich der Niemczycer verändert! Das Gesicht, trotz der Gebräuntheit, fast fahl. Die Augen tiefliegend, die Stirn düster, und die Mundwinkel unter dem blonden Schnurrbart herabgezogen. Ein warmes Gefühl wallte in Paul auf, er wollte dem alten Freund beide Hände hinstrecken: ›Wie geht's dir, Hanns-Martin, du bist doch nicht krank?‹ Aber er besann sich: nein, er mußte sich zurückhalten, heute kam er nicht in alter Freundschaft! Es wurde ihm schwer, so steif zu sein, noch schwerer, als sich jetzt des andern beschatteter Blick, fast mißtrauisch fragend, so trübe auf ihn richtete.

»Was willst du?« fragte Doleschal. Und dann lachte er hart auf: »Du bist ja außerordentlich erfreut, mich zu sehen, das muß ich sagen!« Auch er streckte nicht die Hand hin; der Besucher hatte die seine ja auch nicht gereicht.

»Willst du nicht Platz nehmen? Bitte!«

Die Arme fest an den Leib gedrückt, als hielte er den Säbel, blieb der Rittmeister stehen. Er schien den Stuhl nicht zu bemerken, den der Hausherr ihm hinschob; eine flammende Röte war in seinem hübschen, trotz der Rittmeisterwürde und der Jahre noch immer jungenhaften Gesicht. Er räusperte sich und suchte nach einem Anfang. Das war schwerer, als vor der Schwadron zu halten und zu schreien: ›Abgesessen!‹

Doleschal half ihm. »Ich weiß nicht, du bist so merkwürdig, Paul! Habe ich dir etwa auch etwas zuleide getan? Aller Welt tue ich ja was. Weiß Gott« – er stützte den Arm auf und den Kopf in die Hand – »ich bin es müde.«

»Hanns-Martin –!« Da halte sich ein andrer zurück! Man ist doch kein Stock, wenn man einen leiden sieht, zumal einen, mit dem man im Niemczycer See gebadet, in der Przyborowoer Allee Habichte gejagt und den Lysa Góra gegen die Rotznasen, die Polackis, verteidigt hat. Herzlichkeit und Vorwurf stritten in Paul Kestners Stimme, als er sagte: »Donnerwetter, was hast du für 'ne Geschichte angezettelt! 'ne nette Stänkerei, das muß ich sagen!«

»Was denn, was denn?« Doleschal blickte wieder so seltsam verstört. »Ach so – das mit deinem Vater?! Darum kommst du? Ah, darum!« Er atmete auf wie einer, der sich noch viel Schlimmeres erwartet hatte. »Ich konnte nicht ahnen, daß der alte Herr meine Warnung – auf Ehre, Paul, es war nur eine Warnung – so übelnehmen würde. Es ist mir sehr fatal.« Er seufzte. »Ich hatte es sehr gut gemeint.«

»Das glaube ich, das glaube ich!« Rasch sagte Paul Kestner es; ein Unbehagen schlich ihm über den Rücken in diesem Zimmer, in dem er früher so oft behaglich bei der Zigarre gesessen hatte. »Ich habe mir ja gleich gedacht, daß du nicht aus Absicht meinen alten Herrn so gekränkt hast.«

»Aus Absicht – aus Absicht –?!«

»Na ja, das meint er doch! Am liebsten hätte er gesehen, ich forderte dich. ›Komischer alter Knopp‹, wie meine kleine Schwester sagt – nicht wahr?« Er lachte leichtsinnig auf. Aber dann wurde sein Ton ernsthaft: »Wir werden uns doch nicht schlagen, Hanns-Martin?! Aber willst du mir nicht zu wissen tun, warum du zu meinem Vater gekommen bist und meine Schwester verdächtigt hast, warum du – wie sie alle sagen – dich immer in Sachen mischst, die dich doch eigentlich nichts, gar nichts angehen?«

»Das weiß ich nicht.« Doleschals Stimme war ganz tonlos, und dann hob er plötzlich beide Arme in die Höhe mit einer Gebärde tiefsten Schmerzes: »Glaube du mir wenigstens, wenigstens du!«

»Ja, ja, selbstverständlich – natürlich glaube ich dir«, sagte der Rittmeister erschrocken. Merkwürdig, wie sich Hanns-Martin verändert hatte! Er, der früher immer der Gehaltene gewesen, war jetzt so, so – nun zum mindesten sehr eigentümlich war er geworden. Krankhaft erregt – damit mußte man rechnen! Und Paul Kestner tat das beste, was er tun konnte, er rückte seinen Stuhl neben den eichengeschnitzten Sessel am Schreibtisch, legte seinen Arm um des Freundes Schultern und sagte, ihnen einen sanften und doch kräftigen Druck gebend: »Na, nun erzähle du mal! Eines Mannes Rede ist keines Mannes Rede, man muß sie hören alle beede.«

Was war da zu erzählen? Es gibt Geschichten, die sich eben nicht erzählen lassen, man muß sie ahnen, nachfühlen, und dann verstehen. Aber soviel wurde Paul doch klar aus den ruckweis herausgestoßenen Sätzen, aus den Andeutungen und bittren Selbstanklagen, daß er sich in seinem alten Hanns-Martin nicht getäuscht hatte.

Herzhaft schlug er auf dessen ganz nach vorn gebeugten Rücken: »Weißt du was, schreibe meinem alten Herrn einen feinen Brief – du hast's ja immer losgehabt, zehnmal besser als ich. Ein paar nette Worte der Entschuldigung: du hättest es gut gemeint, aber nicht richtig angefangen, es täte dir leid und so weiter und so weiter. Donnerwetter, wer macht nicht mal was verkehrt in seinem Leben?! Und ich versichere dir, die Geschichte ist beigelegt. Willst du?« Sein Gesicht nahe zu dem des Freundes bringend, sah er ihm in die Augen.

»Ich kann ja – gewiß – ich werde schreiben.« Wie entsetzlich müde das klang! Aber dann, sich aufraffend, drückte Doleschal dem Freund die Hand: »Du solltest hierbleiben, Paul! Du bist treu, du bist ehrlich, wir brauchen solche Männer. Und du bist frisch!« Ein Bitten lag in seinem Ton, ein dringendes Ersuchen: »Bleibe!«

»Nee, mein alter Junge!« Das war wieder ganz des flotten Rittmeisters leichtherziges Lachen. »Papa möchte mir auch gern Przyborowo andrehen; ich werde mich aber schwer hüten, hier, wo Hasen und Füchse einander gute Nacht sagen, Hütten zu bauen. Man hat zu lange draußen gelebt, man paßt nicht mehr auf die Klitsche. Höre mal, mein alter Junge« – den lachenden Ton dämpfend und wieder ernsthafter werdend, sagte er überredend, indem sein Blick musternd über das fahle Gesicht mit dem zergrübelten Ausdruck glitt –: »Du solltest auch lieber machen, daß du hier fortkommst!«

»Ich?!«

»Na ja, du! Meinst du vielleicht, du siehst aus wie ein Vierzigjähriger? Nein, ebensoviel in die Fünfzig hinein. Das denkt doch kein Mensch, daß du nur fünf Jahre älter bist als ich. Hier versauert man ja. Mach, daß du fortkommst, verkaufe! Niemczyce verkauft sich schon – schön gelegen, herrschaftlich – das wirst du los zu einem Liebhaberpreis, glänzend!«

»Ich verkaufe nicht. Schande über mich, wenn ich's täte!« Der Deutschauer Herr stand auf.

»Nee, aber« – ganz verblüfft sah der Husar zu ihm auf – »wenn ich du wäre, hätte ich längst verkauft. Macht denn nicht ein jeder, daß er hier fortkommt, sowohl Herr wie Knecht? Die Besitzer wollen verkaufen – alle! Lieber heut als morgen. Das Volk sieht auch zu, daß es woanders ankommt. Jetzt wird die Ausrückerei bald wieder losgehen, mein alter Herr hat schon Angst, er kriegt keinen mehr in die Ernte. Gerade als ich in Berlin abfuhr, kam bereits ein Schub an – alles Polacken – wie die Heringe eingepökelt im Viehwagen, sage ich dir, aber kreuzfidel. Nur weg, 'raus! Ich an deiner Stelle würde mich doch auch nicht lange mehr hier ärgern. Dank hast du doch nicht davon.«

»Wer weiß!« Ein eigentümliches Lächeln zuckte für einen Moment über des Niemczycers Gesicht, und es leuchtete in seinem Blick auf. »Es hat mir doch schon einmal jemand gedankt, wenn's auch nur eine in Lumpen war!«

»Aha« – der Offizier lachte auf – »du meinst wohl die Ciotka, die alte Baßgeige? Haha! Die lebt sich ja nun einen guten Tag auf deine Kosten, höre ich. Wie ich vorhin herkam, troddelte sie gerade auf den Hof, wollte sich vom gnädigen Herrn, vom ›zuckersüßen, goldnen, gnädigen Herrn‹, die Monatsrente holen, fragte mich, ob sie tanzen solle? › Podkoziolek, dziewcze moje‹ – sternhagelvoll, na, ich danke!«

»Die meine ich nicht.« Des Niemczycers Gesicht verdüsterte sich rasch. Das Licht in seinem Auge erlosch.

»Nein, du mußt von hier fort«, drängte Paul, »Mensch, ich habe ja einen Schrecken bekommen, als ich hier 'reinkam. Tu mir den Gefallen, Hanns-Martin!« Er war aufgesprungen; vor den Freund tretend und ihm beide Hände auf die Schultern legend, rüttelte er ihn eifrig: »Geh!«

»Ich verkaufe nicht!« Eine unbeugsame Entschlossenheit lag in Doleschals Ton. »Unterm Stein am See werde ich bei meinen Vätern schlafen. Helene hat einmal gesagt: ›Es muß einem im Grabe doch noch ein schönes Gefühl sein, im eignen Grund und Boden zu liegen‹ – das habe ich mir gemerkt. Und der Berg, auf dem ich so oft gestanden habe bei Sonnenuntergang und ins weite Land gesehen, wird über mir sein. Ich verkaufe nicht!«

»Na, du mußt ja nicht gerade verkaufen!« Paul ließ nicht nach. »Dann geh doch wenigstens 'ne Weile fort, eine kurze Zeit nur – auf ein paar Jahre! Du mußt mal 'raus, es wird dir guttun!«

Doleschal zuckte die Achseln: »Es geht nicht.«

»Mensch, sei doch nicht so umständlich. Warum denn nicht? Du hast 'nen ordentlichen Inspektor – unsern alten Hoppe habe ich immer gern gehabt, er ist ein Grobian, aber 'ne ehrliche Haut und ein tüchtiger Kerl – die Kinder läßt du solange bei den Schwiegereltern, und deine Frau geht mit dir. Du hast so viele Konnexionen, sprich mit dem Minister! Man schickt jetzt gern einen landwirtschaftlichen Beirat zu Gesandtschaften, dazu bist du gerade der Mann, mit deiner Tüchtigkeit, mit deinen Kenntnissen. Geh nach Amerika, nach Konstantinopel, nach Rumänien – was weiß ich, wohin sie dich schicken – nur fort! Ich bitte dich, Hanns-Martin, ich bitte dich herzlich, ich habe solche Sorge um dich, ich – ich – ich bin direkt in – ja, in Angst um dich!«

Man sah es Paul Kestner an, er war in Angst; das war keine Redensart. Sein blühendes Gesicht war ganz blaß geworden. Und nun biß er die Zähne aufeinander, er konnte nicht weitersprechen; er hielt nur den Freund bei beiden Schultern gepackt und rüttelte ihn stumm.

»Alter guter Junge! Mein lieber Paul!« sagte Doleschal.

»Wirst du fortgehen, versprich es mir, wirst du für eine Weile gehen?«

»Nein, ich gehe nicht!« Des Niemczycers Gesicht, das eben heller geworden bei den besorgten Worten des Freundes, auf kurze Augenblicke von einem freundlichen Schein geklärt worden war, wurde wieder finster. »Fortgehen hieße feige sein. Sie würden denken, ich habe Angst.«

»Sie, sie – wen meinst du denn damit? Sie! Wer würde denken, daß du feige bist?«

»Nun, sie – die« – Doleschal machte eine vage Handbewegung – »alle! Aber ich habe keine Angst. Man bleibt auf seinem Posten, solange man Ehre hat. Nein, mein Guter« – er lächelte flüchtig, und sein Blick, der starr geradeaus gesehen hatte in einer finstern Entschlossenheit, wurde milder – »ich danke dir für deine freundliche Besorgnis, aber die ist nicht nötig, wirklich nicht. Ich« – er wischte sich über die Stirn, und ein zerstreuter Ausdruck kam in sein Gesicht – »ich fühle mich hier am wohlsten, wirklich, Paul, ganz wohl! Ich könnte auch gar nicht woanders leben. Man steckt hier doch so tief drin, man ist zu fest eingewurzelt. Du verstehst mich nicht, auch du nicht! Du meinst es wohl gut mit mir – aber, nein, sprich kein Wort mehr! Nein, ich gehe nicht fort, ich kann hier nicht fortgehen!«

Der andre wollte noch etwas einwenden, da hob Doleschal gebieterisch die Hand: »Nein!« Und dann sich zu einem leichteren Ton zwingend, klopfte er dem Jüngeren auf den Rücken: »So, nun gehe aber auch, geh zu Helene, daß sie sich nicht wundert, daß du nicht gleich zu ihr gekommen bist. Ich bitte dich, laß sie nichts von unsrer Unterhaltung wissen. Sie ist ganz ahnungslos. Und, alter Junge, beruhige dich! Du weißt wohl nicht, daß ich mich zum Reichstag habe aufstellen lassen? Und wenn ich durchkomme – na, siehst du, dann muß ich ja doch ab und zu eine Weile fort. Du kannst dich beruhigen. Also geh jetzt, geh! Ich komme gleich nach. Ich will nur jetzt sofort an deinen Vater schreiben – damit ich's nicht vergesse. Und dazu muß ich allein sein. Ganz allein!«

Er lachte plötzlich unvermittelt auf, aber dann, den verwundert-bestürzten Blick des Freundes bemerkend, faßte er ihn in die Arme und drückte ihn kräftig an die Brust.

Was sie sonst noch nie getan hatten, sie küßten sich.

Als der Rittmeister den Gang hinunterschritt, sah er sich noch einmal nach der Tür um, die sich rasch hinter ihm geschlossen hatte. Über die Schwelle hatte ihn Hanns-Martin geschoben – eins, zwei, drei – förmlich hinausgeworfen.

»Hm, hm!« Den Kopf schüttelnd, sah er sich noch einmal um. Und sein Gesicht blieb ernst, selbst jetzt, da er zu der Frau ging, die ihm vielleicht von allen Frauen der Welt am besten gefiel. Sein Herz war und wurde heut nicht wieder leicht – war das ein Willkommen?! Ihm war es, als sei's ein Abschied gewesen.


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