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So leicht sich die Verwundung der Ciotka angesehen hatte, so wenig gut nahm die Heilung ihren Fortgang. Doktor Wolinski schüttelte den Kopf bei seinem nächsten Besuch: die Wundränder sahen häßlich aus, blaurot entzündet und dick verschwollen, der Puls der Patientin war fiebrig. Aber das Medikament, das der Arzt verordnete, wendete die Ciotka darum doch nicht an, eine gefällige Nachbarin schüttete es den Schweinen vor – mochten die's saufen, für 'nen Menschen war das doch kein Getränk!
Die Stube des Tantchens wurde nicht leer von teilnehmenden Besucherinnen, denn einen Groschen nach dem andern holte die Leidende unter ihrem Bauche vor aus dem Bettstroh. Das Geld, das der Niemczycer dagelassen, wanderte zu Eljakims Krug.
Ungefähr acht Tage nach seinem ersten Besuch betrat Doleschal wiederum die Hütte. Er gedachte sich im Vorüberfahren zu überzeugen, daß die Ciotka wieder ganz wohlauf sei, statt dessen lag sie noch immer, sogar jetzt im Bett.
Bei ihr saß der Vikar. Er erhob sich sofort, als der Niemczycer eintrat, mit einem stummen Gruß und einer Verbeugung, die höflich war, aber zurückhaltend.
Welch ein interessantes Gesicht! Doleschal, der den jungen Geistlichen noch nie so in der Nähe gesehen hatte wie jetzt, kaum auf Armeslänge entfernt, musterte die hager vorspringende und doch fein geformte Nase, den etwas eingesunkenen, festgeschlossenen Mund und die schön gebaute Stirn. Er fand gar nichts Slawisches in diesen Zügen; unwillkürlich verglich er in Gedanken dies stolze Gesicht mit dem roten bäurischen des alten Propstes. Gemütlicher war das freilich, viel gutmütiger.
Eine unbehagliche Empfindung überkam ihn plötzlich; er fühlte: hier war eben von ihm gesprochen worden. Noch schien der Nachhall davon geblieben zwischen den rußigen Wänden. Die Weiber, die sich unten am Bettende aufgestellt hatten, glotzten ihn dreist an, ohne das gewohnte demütige ›Ich falle zu Füßen‹. Die Ciotka sah ihn gar nicht an, und der Blick des Vikars streifte ihn kaum von der Seite.
Was hatte er diesem Menschen getan? In der jähen Stille, die seinem Eintritt gefolgt war, überkam Doleschal eine verlegene Beklemmung. Um ihrer Herr zu werden, reckte er sich höher auf und sah von oben herunter auf die Gruppe am Bett.
Des Vikars schmale Lippen schlossen sich noch fester; auch er reckte sich höher auf.
Ohne Wort, wie zwei Gegner, die ein böses Geschick plötzlich zusammenhetzt, maßen sie sich.
Was fiel dem Pfaffen ein? Stellte er sich nicht vor das Bett, als wollte er den Zutritt wehren? Doleschal sagte kurz: »Sie gestatten!« und machte einen so entschlossenen Schritt, daß der andre zur Seite treten mußte, wollte er nicht geradezu unartig sein.
»Nun, Ciotka, wie geht es Euch?« Er ignorierte den Vikar gänzlich.
War das Weib harthörig geworden? Es antwortete nicht. Doleschal wiederholte die Frage noch einmal in erhobenem Ton; da schüttelte sie den gedunsenen Kopf und brummte mürrisch: » Nie rozumiem po niemiecku!« (»Ich verstehe kein Deutsch.«)
Was – nicht Deutsch verstehen? Neulich hatte sie sein Deutsch doch gut verstanden, und alle diese hatten ihn gut verstanden, einige der Weiber ihn sogar angebettelt auf gut deutsch. Was sollte denn jetzt die Komödie?
Er fuhr sie an: »Gebt Antwort!«
Aber statt der Antwort fing die Ciotka an zu jammern – eigentlich war es mehr ein Schimpfen –, und schnatternd wie eine Herde Gänse fielen sämtliche Genossinnen ein.
Doleschal stieg das Blut zu Kopf; er sah ein Lächeln um den Mund des Vikars. »Antwort«, sagte er sehr laut und schlug mit der Peitsche, die er noch in der Hand hielt, auf das Deckbett, daß die Hühnerfedern, mit denen es gestopft war, aus dem verlumpten Überzug herausflogen.
»Sprechen Sie polnisch, mein Herr!« sagte der Vikar.
»Mein Name ist Doleschal, Baron von Doleschal!« Es klang hochfahrend. »Ich glaubte von Ihnen gekannt zu sein!«
Der Geistliche sagte lächelnd: »Pardon, Herr Baron!« Und dann in verbindlichem Ton: »Wenn ich raten darf, sprechen Sie hier polnisch, Herr Baron!«
»Bedaure!«
Wieder dieses Lächeln! Es raubte Doleschal jede Besinnung. Also soweit war es gekommen, daß man gezwungen werden sollte, polnisch zu sprechen? Die Empörung machte seinen Ton rauh: »Hier ist deutsches Land, und hier wird deutsch gesprochen!«
Er wendete sich rasch, so daß er dem andern den Rücken kehrte, und ging mit erhobenem Kopf davon.
Wie ein Sieger ging er, aber innerlich fühlte er sich doch geschlagen: der andre blieb. Draußen vor der Hütte hörte er jetzt die sonore Stimme – die sprach polnisch.
Ein bitterer Geschmack kam ihm auf die Zunge. Undankbares, wankelmütiges Volk! Wie hatte das Weib ihn neulich mit Segnungen überschüttet – und heute?! Warum war sie heute nur so ganz anders?
Pah, es war nicht wert, weiter darüber nachzudenken; die Sache war erledigt, mußte erledigt sein. Hatte der Landrat nicht grade heute noch zu ihm gesagt: ›Sie nehmen alles zu persönlich warm, wenn ich so wäre, ich käme ja vor Ärger um bei den hiesigen Verhältnissen!‹ – – – Ja, ja, der Landrat hatte ganz recht, man mußte gelassener sein! Aber freilich, der hatte gut reden, war ihm dieses Land denn Heimat? Vom Staate ward er bestellt, vom Staate bezahlt, er tat seine Pflicht. Aber lieben kann nur der die Provinz, dem der Wind über die eigne Scholle bläst; der allzeit steht an seiner Grenze wie eine Schildwacht in finstrer Mitternacht.
Das alte Soldatenlied, das er in seiner Kürassierzeit so oft gehört, beim Biwak, um stille Lagerfeuer, von kräftigen Soldatenstimmen hinausgesungen in die dunkle Nacht, schoß ihm plötzlich durch den Sinn. Und wenn er jetzt die Augen schloß, konnte er wähnen, auch dort auf dem Gipfel des Lysa Góra brenne ein Feuer, und getragen vom Wind klang's stark hinaus über unabsehbares Land:
›Steh' ich in finstrer Mitternacht
So einsam auf der stillen Wacht –‹
So einsam – ja, einsam! Er senkte den Kopf. Da gab es kein Verhehlen: ja, er hatte sich in letzter Zeit oft einsam gefühlt, einsam trotz Weib und Kind. Man verlangt nach männlichem Austausch gleicher Gedanken, gleicher Meinungen. Das hat etwas so Kräftigendes; es gibt das beruhigende Gefühl, Freunde, Gefährten hinter sich zu wissen, nicht allein zu stehen auf verantwortlichem Posten. Freunde?! Paul Kestner war abgereist, aber wäre der auch hier, ändern würde das doch weiter nichts; er war ein guter Mensch, ein lieber Freund, aber was kümmerten den Land und Leute? Ob polnisch, ob deutsch?! Der führte sein Leben in der Garnison. Der säte ja auch nicht und erntete nicht – die Ernte interessierte ihn nur insoweit, als sich seine Extraausgaben bei guter Ernte noch vergrößerten.
Der Einsame seufzte: kam das mit den Jahren, daß man die Unbefangenheit verlor, grüblerischen Gemüts wurde und mißtrauisch fast? Oder spitzte sich wirklich alles zu? War's nicht recht geheuer im Schoße dieser hartgefrorenen Erde, über die der Wagen jetzt mit Poltern holperte?
Im Rollen der Räder klang ein Grollen mit. Tief unter dieser Ackerkrume schlief etwas, das schlief nicht in ewigem Frieden. Hier war gedüngt mit Blut. Noch war kaum ein halbes Jahrhundert verstrichen, daß die Sensenmänner zwischen diesen Feldern gezogen waren, ihre blinkenden Sensen geschultert, und daß der weiße Adler auf rotem Grund seine Krallen gestreckt hatte. Daß die Posener Infanterie die Saaten zerstampft und die Breslauer Jäger die Empörer zusammengeschossen hatte wie Hasen auf der Treibjagd. Nein, diese Erde konnte noch nicht ruhig sein, dieses Land hatte noch nicht vergessen. Würde es je vergessen? Das walte Gott!
Mit Schwermut ließ der Deutschauer Herr seinen Blick über die winterliche Ebene schweifen. Von der siegessicheren Freudigkeit, die er an jenem Sedantag beim Aufpflanzen der Fahne auf dem Lysa Góra empfunden hatte, war jetzt nichts mehr in ihm. Man hatte die Fahne vom Gipfel gerissen und in den Schmutz getreten – es galt, sie wieder neu aufzurichten. Aber wer, wer half dabei?!
›Kulant, tolerant‹, hatte der Landrat gesagt und die Achseln dabei gezuckt, ›es hilft nichts, wir müssen es sein. Mit der Faust ist hier nichts zu machen. Ich werde dem Herrn Schulinspektor Dzieciuchowicz Ihre Klagen wegen des mangelnden Deutschs beim Unterricht sehr schonend stecken – wir stehen uns gut, ich denke, er wird entgegenkommen – aber, sehen Sie: auch entgegenkommen, so weit als möglich, das ist meine Taktik.‹
Immer entgegenkommen? »Nein!« Doleschal hatte es so laut gerufen, daß der Kutscher sich erschrocken nach seinem Herrn umdrehte.
Tief verstimmt saß der Deutschauer in seine Wagenecke gedrückt. Wohin er auch sah: nirgends ein Stützpunkt, nirgends ein andrer Anhalt für das schweifende Auge als hier der schwarze Turm von Pociecha-Dorf und dort der Lysa Góra. Zwischen diesen beiden rollte sein Wagen dahin, fortgerissen von den schnaubenden Pferden.
Hinterm Fenster der Propstei hatte Piotr Stachowiak dem herrschaftlichen Wagen nachgeschaut, dessen Rasseln in der Stille des öden Dorfes einen großen Lärm machte. Die Schweine in den Koben fingen erschreckt an zu grunzen, und die Habichte, die dort in den zwei Pappeln am Pfuhl auf die Enten lauerten, flatterten mit gellendem Schrei davon.
Auch der Propst war unsanft aus seinem Mittagsschlaf – den er jetzt, in der dämmernden Winterszeit, bis Abend auszudehnen pflegte – geweckt worden. Sich mit der einen Hand am Tischrand haltend und mit der andern auf den Stock stützend, humpelte er ans Fenster seiner Studierstube. Er mußte doch was sehen. Aha, der Niemczycer! Psia krew, was brauchte der einen solchen Skandal zu machen! Ja, diese Herren, die denken, sie können sich alles herausnehmen! War der ein Schwabb, daß er nicht lesen konnte, was auf gut polnisch am Eingang des Dorfes angeschlagen stand: ›Schritt fahren‹ –?! Es hatte schon einer von diesen Deutschen einmal ein Kind überfahren und ein junges Ferkel dazu. Jetzt hieß es: Bauer, hüte dich! Daß diese Herren der Wolf auffresse! Überhaupt der Niemczycer, das war der Allerschlimmste, hochmütig wie Satanas vor dem Fall, ein rechter, dicker, eingebildeter Deutschschädel. Und in alles mischte er sich. Górka hatte schon recht, auf den hieß es doppelt Obacht geben!
Piotr Stachowiak stand und guckte noch in müßiger Langeweile, als das Gefährt längst außer Hör- und Sehweite war. Auf dem Pfuhl vorm Haus schwammen zwei Enten und ein Erpel; der Erpel mühte sich galant mit seinen stärkeren Ruderbewegungen, das freie Wasserloch in der Eiskruste für seine Schönen größer zu machen, das machte dem Propst Spaß. Als er noch nicht Hochwürden war, sondern der kleine Pièsio, der mit nackten Füßen lief wie alle Dorfkinder, hatte er gern mit Steinen nach Enten auf Pfuhlen geworfen – o la, wie alle Kinder! Er lächelte in der Erinnerung: es war zu entschuldigen, man hatte ja damals noch nicht die Bildung!
Es klopfte.
Aus seinen Jugenderinnerungen aufgeschreckt, rief der Propst: »Herein!« Aha, der Ruda!
»Gelobt sei Jesus Christus«, sprach der Lehrer und stolperte mit seinen aus Tuchleisten zusammengenähten Flickenpantoffeln über die Schwelle. Er schien erregt, das hektische Rot auf seinen herausstehenden Backenknochen brannte abgezirkelter.
»Hochwürden, Hochwürden«, stammelte er hastig, »haben Hochwürden nicht den Niemczycer durchfahren sehen?«
»Nun wohl, er fuhr wie der Teufel – was sonst?«
»Hochwürden, er ist in der Kreisstadt gewesen! Sein Kutscher hat es dem Löb Scheftel gesagt, derweilen er, der Niemczycer, drinnen war bei der Ciotka. Der Löb Scheftel nun hat es mir wieder gesagt.«
»Nun, und was denn?« Piotr Stachowiak sah den Aufgeregten verständnislos an und lachte dann gutmütig. »Laß ihn doch fahren in die Kreisstadt! Hat er sich auch einmal ein Vergnügen gemacht.«
»Nein, nein«, jammerte der Lehrer, »er ist beim Landrat gewesen, Hochwürden! Beim Landrat, sagt der Löb Scheftel. Und ich weiß, warum. Hat sich der Ansiedler Bräuer beim Niemczycer beklagt; der ist mit dem Niemczycer unter einer Decke. Und der Niemczycer wieder hat sich beim Landrat beklagt. Das ist so sicher, wie zweimal zwei vier ist. Löb Scheftel hat es mir vorgerechnet an seinen fünf Fingern.«
»Ei, daß dich! Wer gibt sich denn mit dem Juden ab!« sprach verweisend der Propst.
»Halten zu Gnaden, Hochwürden – den Lehrer in seinem abgeschabten Röckchen fröstelte vor Kälte und Angst – »man kann sein Ohr doch nicht verschließen. Der Löb Scheftel hat Eier gekauft von der rheinländischen Frau, da hat er mit ihr geschwatzt im Hühnerstall. Ihr Mann ist sehr böse auf mich, sagt sie, daß ich habe seine Tochter geschlagen. Hochwürden, bei meiner Gesundheit schwör' ich's, geschlagen nur mit dem Recht, das mir zusteht – nur einen kleinen Streich über die Hände! Aber jetzt ist der Niemczycer in der Stadt gewesen und hat mich verklagt. Und der Landrat hetzt mir die Schulinspektion auf den Hals – heilige Mutter! Sie werden mir vom Gehalt abziehen, mich vielleicht gar meines Amts entsetzen!« Er hustete und hielt sich die eingesunkene Brust.
»Hab' ich doch gestern drei Mark in der Apotheke gelassen und eine Mark bei Doktor Wolinski in der Sprechstunde. Ich habe mir nichts gespart. Was soll ich machen? Spreche ich deutsch, kommen mir die Mütter in die Klasse, schreien sie mir nach auf der Straße, und die Väter rempeln mich an. Ich bekomme das Brennholz nicht, das die Kinder sonst oft mitbringen in die Schule, kriege nie einen Fisch in der Fastenzeit, kein Stückchen Speck, wenn sie schlachten, auch zu Ostern kein einziges Ei, kein Bröckchen vom Kuchen. Ich bin schlecht zu Fuß und muß oft zum Arzte, da ist keiner, der mich aufsitzen hieße nach Miasteczko. Wenn ich Hemd und Strümpfe zum Sonntag wasche und hänge sie auf, daß sie trocknen, kommen meine Hausleute heimlich und gießen Wasser darüber; sie sagen, das Dach ist schadhaft. Und halte ich Klasse, schlägt nebenan der Schmied so hart aufs Eisen, daß ich nicht verstehen kann mein eigen Wort und schreien muß, bis ich fürchte, die Brust springt mir.
Ich soll die Kinder lehren: ›Ihr sollt nicht stehlen‹ – ›ihr sollt den Kaiser lieben‹! Wie mache ich das?! Mit der Anschauungslehre schaffe ich nichts; ich kann wohl einen Ochsen an die Tafel malen und auch eine Kuh, aber das Stehlen kann ich doch nicht malen! Spreche ich aber polnisch, so schlägt der große Ansiedler Lärm – Löb Scheftel sagt, daß er kommen wird, mich zu verhauen – ach, ach, was soll ich machen!« Ratlos faßte sich der Lehrer an den Kopf und rang nach Atem.
»Hochwürden wissen, ich bin ein friedfertiger Mensch. 's ist ein saures Brot! Wenn Hochwürden doch würden sprechen mit dem Herrn Schulinspizienten, daß er ein Einsehen hat mit meiner Lage. Ach, ach!« Der armselige Mensch blickte ganz verzweifelt.
» Psia krew!« Piotr Stachowiak strich sich über den runden Leib. »Das ist eine dumme Geschichte! Deutsch ist die Lehrsprache, aber es ist ganz in der Ordnung, daß du polnisch sprichst – hm, hm, was macht man da?«
Das Gesicht des Lehrers wurde immer angstvoller, ganz kreidig, die Backenknochen glühten.
Der alte Herr sah's mit Bedauern. »Nur keine Angst, man muß keine Angst haben«, tröstete er. Und dann, wie selber von einem erlösenden Gedanken beruhigt, sprach er: »Warten wir, bis der Vikar kommt!« –
Górka hatte derweilen bei der Ciotka gesessen. Das ging doch nicht an, daß sie ihr Recht nicht bekam, sie war ein armes Weib und der Niemczycer ein reicher Herr – nicht ungestraft spielt der Deutsche mit polnischem Leben! Sie war verpflichtet, zu klagen, schon um der guten Sache des Vaterlandes willen. Einen Rechtsanwalt mußte sie sich annehmen. Wer weiß, ob sie je wieder arbeitsfähig wurde? Der Niemczycer durfte ihr eine jährliche Rente nicht versagen.
Auf diese Weise zu einem schönen Geld zu kommen alle Jahr, ohne auch nur die Hand darum zu regen, das hatte der Ciotka eingeleuchtet: nun natürlich, heute noch würde sie klagen!
Als der Vikar heimkehrte, fand er den Lehrer, sehnsüchtig seiner harrend, vor.
Ein Schauer der Ehrfurcht lief Ignaz Ruda über den Rücken: was war der Herr Vikar doch für ein kluger, für ein seltener Mann! Es tat gar nicht not, daß er dem sein Leid klagte, der wußte bereits alles.
»Sie tun Ihre Pflicht, Sie dürfen keine Angst haben!«
Das klang ganz anders als die Tröstung des Herrn Propstes. Aber ein banges: »Ich bin staatlich angestellt – und der Erlaß, ach, ach!« konnte der Ängstliche doch nicht ganz unterdrücken.
»Schämen Sie sich, Ruda!« sprach da ernst der Vikar. »Wir sollen nicht Menschen fürchten. Erst Gott, dann das Vaterland, dann erst –«, er sprach nicht zu Ende. In leichterem Ton fuhr er fort: »Glauben Sie übrigens, daß Herr Dzieciuchowicz so wenig Einsicht hat?« Er lächelte. »Fahren Sie ruhig fort wie bisher, und was man auch gegen Sie in Szene setzen wird, ich« – seinen nachdenklich ein wenig geneigten Kopf richtete er kräftig auf, und es blitzte in seinem Blick – »ich werde auch das meinige tun!«
Lehrer Rudas Besuch war heute nicht der einzige in der Propstei. Draußen saß Förster Frelikowskis Tochter schon eine lange Weile bei der Köchin Zuzanna und wartete auf Vorlaß.
Die blonde Stasia sah verweint aus und gar nicht guter Dinge. Auf ihrer Wange brannten fünf rote Striemen, als hätten fünf kräftige Finger ihren Abdruck daraufgelassen.
War's möglich, sie war entlassen worden von der gnädigen Herrschaft in Chwaliborczyce? Und so auf einmal, mir nichts, dir nichts, Knall und Fall. Wegen dieses kleinen, kleinwinzigen Späßchens, das man sich gemacht hatte. Die Pfarrköchin tat ganz außer sich und schlug die Hände zusammen: »Heilige Mutter!« Aber im Grunde gönnte sie es der Stasia wohl: die war denn doch gar zu üppig!
»Was wirst du nun beginnen, mein Täubchen, mein armes, was fängst du nun an?« sprach sie. »Einen so guten Dienst kriegst du nie wieder! Heilige Mutter, erbarme dich um deines heiligen Sohnes und seiner heiligen Wunden willen!«
Stasia saß auf dem Schemel beim Küchenherd, holte nun ihr Schnupftuch hervor – ein batistenes der Herrin – und wischte zierlich die Tränen, die ihr über die Wangen tröpfelten. Ja, und der Vater war so entsetzlich grob geworden! Beim Arme hatte er sie gegriffen und gerüttelt, daß ihr die Nadeln aus den Flechten geflogen, die schönen Schildpattnadeln, und zerschellt waren auf dem Ziegelboden.
»Oh, heilige Mutter!« Sie schluchzte laut auf. Und gar nicht behalten wollte er sie zu Hause, sie sollte gehen und Geld verdienen – aber wo denn jetzt so schnell? Sie mußte sehen, daß sie Stellung fand in der Kreisstadt oder in Posen – ach, und die Pani hatte sie doch mitnehmen wollen nach Paris! Es war viel Schmerz in diesen Tränen, immer reichlicher begannen sie zu tröpfeln. Aber noch mehr Wut war dabei: also das war der Lohn dafür, daß man all die Jahre ein Sklave gewesen war, weiter nichts als ein Sklave? Mochte die Pani ihre Blusen für sich behalten, die Schmucksachen und den Sonnenschirm auch! Aber den Schlaf der Nächte sollte sie ihr ersetzen, den jungen, gesunden Schlaf, den sie versäumt hatte, weil sie immer aufsitzen gemußt beim Kratzen der alten Nepomucena. So viele Nächte geopfert! Und nun man einmal eine einzige Nacht für sich genommen hatte, da, ja da – ei, was hatte die Pani für einen Lärm geschlagen: ›Verführerin, Dirne, Canaille!‹ Und der Herr würde sie niedergeschmettert haben mit der erhobenen Faust, wäre nicht gerade der Vikar dazugekommen und hätte sie aus dem Zimmer gewiesen.
Das hübsche Gesicht des Mädchens verzerrte sich bei der Erzählung, das weiche Grau der Augen bekam einen schielenden, grünlichen Schiller, auffahrend ballte sie die Faust. Aber dann lachte sie spöttisch: nun, eine Erinnerung würden die auch behalten! Bolek, das gehütete Herrensöhnchen, war nun auf einmal kein Kind mehr; mochten sie ihn nur hüten, das nützte jetzt alles nichts mehr! Ei, war der ein verliebtes Jungchen! Und betrunken hatte er sich, daß er krank gelegen hatte drei Tage lang. Das gönnte sie ihnen. War sie denn eine Nepomucena, so ein altes dummes Tier, das die Hand noch leckte, die es quälte?! Nein, ein Gutes war doch dabei, daß die Deutschen ins Land gekommen: nun wußte man, daß man nicht mehr ein Sklave war wie früher.
Die Zuzanna sah ganz verblüfft drein, so heftig lachte jetzt Stasia.
»Weißt du«, sprach sie dann und trocknete sich ebenso zierlich die Lachtränen, wie vorher die Schmerzenstränen, »ich wundere mich nur, daß der Herr Propst noch immer nicht wird gerufen zur alten Nepomucena. Sie hat Wasser. Wenn sie sich bückt beim Kratzen, so gluckst es.«
»Sie wird doch nicht gerade sterben zur Winterszeit?« sagte die um ihren Herrn besorgte Pfarrköchin. »Da darf der Herr Propst nicht selber hin zur Ölung. Aber, mein Seelchen, mein Täubchen, was schwatzen wir! Geh du jetzt und klopfe an – der Hungerleider, der Lehrer, ist fort, ich hörte die Tür klappen. Sieh aber zu, daß du dich beeilst! Polnischer Karpfen ist fett und süß und das Leibgericht von Hochwürden, da muß er schon um sechse nachtmahlen, damit er ihn im Bette nicht drückt.«
Der Köchin Zuzanna Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, ihre Karpfen drohten zu zerfallen, so lange blieb die Besucherin drinnen. Ein paarmal schon hatte sie an der Tür gehorcht – was redeten die? Ins Studierzimmer hineinzugehen getraute sie sich nicht, so blieb ihr nichts übrig, als mit den Herdringen zu rasseln, mit den Topfdeckeln zu klappern und das Mädel zu verwünschen, die Hexe, die schielige, die einen nicht gerade ansehen konnte. Die war sicherlich, bevor sie getauft war, dreimal unter einem Tisch und zwischen dessen Beinen durchgezogen worden. Betrachte nur einer ihre Augen: der Augenstern war ja nicht rund, sondern länglich wie bei einer Katze. Die hatte den bösen Blick. Alles, was die anschaute, mußte eingehen.
»Auf den Hund den bösen Blick!« Zuzanna spuckte dreimal aus und bekreuzte sich dann dreimal. Die würde doch nicht etwa Pfarrköchin werden wollen?!
Es war schon längst dunkel, als Stasia aus der Studierstube wieder herauskam. Sie hatte dem Herrn Propst gebeichtet und viel dabei geweint. Sie schluchzte noch, als der Herr Vikar sie hinausgeleitet in den Flur. Er schloß fest die Küchentür, die Zuzanna aufgelassen hatte; so konnte diese gar nichts mehr hören. Es dauerte wiederum noch eine geraume Weile, bis die Haustür klappte und der Herr Vikar zurückging ins Studierzimmer.
Winzigen Sternen gleich flimmerten die Lichtchen von Pociecha-Ansiedlung, auf die Stasia jetzt zuschritt. Sie eilte, denn sie fürchtete sich ein wenig. Das Dorf lag weit hinter ihr, schwach hörte sie nur noch sein Hundegebell, und sonst war ringsum nichts als die ungeheure nächtliche Weite. Ihren Rock raffend, schritt sie hurtiger aus. Pah, an Gespenster glaubte sie nicht, wie die dummen Bauern – was schwatzten die da vom Lysa Góra?! Wenn wenigstens ein Feuer dort brennen würde, wie im Berg der heiligen Dreifaltigkeit bei Miloslaw! Dann würde sie hingehen, selbst wenn der Teufel dabeisäße und den brennenden Schatz bewachte, und sich die ganze Schürze voll Goldstücke raffen; sie fürchtete den Teufel und alle Geister nicht. Aber jetzt hatte sie Angst; es war so einsam hier, schon so spät und sie ganz allein. Wenn nun einer käme und sie anfiele? Huh, trappste da nicht schon hinter ihr ein Schritt?!
Sie traute sich nicht, nach hinten zu schauen, aber hastig fuhr ihre Hand nach den langen baumelnden Ohrgehängen – wenigstens die retten, wenn ein Räuber nahte! Aber sie hatte die Ringe noch nicht ausgehakt, als der Gefürchtete auch schon neben ihr war.
Sie guckte von der Seite. Soviel sie sehen konnte beim schwachen Sternenlicht: ein blonder Krauskopf, breit in den Schultern und doch schlank wie eine Fichte. Ein Schwabb!
Richtig, er redete sie an auf deutsch: »'n Abend, Mädchen, gehst du« – er verbesserte sich rasch, als er ihr vornehmes Kleid sah – »gehen Sie so allein, Fräulein?«
Sie dachte: nein, der tat ihr nichts! Aber dann schauerte sie zusammen wie ein banges Kind und sprach auch auf deutsch: »Ich fürchte mich!«
»No, warum denn? Vor mir doch etwa nit?«
Sie nickte.
Nein, das hatte sie wirklich nicht nötig! Gutmütig lachend ging er ein wenig von ihr ab auf die andere Seite der Straße. »Ich tu Ihnen nix, Fräulein«, sagte er treuherzig, »wahrhaftigens Gott nit! Aber wenn et Sie nit geniert, geh ich en Stücksen mit Ihnen langs! Wohin wollen Sie dann, Fräulein?«
Sie sagte ihm, wer sie wäre, und daß sie zurück ins Forsthaus wolle.
Aha, da hatten sie ja bis in die Kolonie denselben Weg! Er nannte ihr auch seinen Namen. Das beste Haus in der Ansiedlung – 's war ihr gewiß schon aufgefallen? – das mit den Fenstern rechts und links von der Haustür, mit den Ställen apart und mit der Scheune, die das Viereck schloß, gehörte seinem Vater. Es tat ihm gut, ihr das zu sagen, sie war so ein hübsches Mädchen und gefiel ihm wohl. Bewundernd betrachtete er den zierlichen und doch vollen Wuchs. Hm, die polnischen Mädchen waren alle nicht übel, aber die hier stach doch jede andre aus! Behend ging sie und so leicht, man hörte kaum ihren Tritt. Das matte Sternenlicht zeigte nicht viel, aber es zeigte doch genug; es umflimmerte ein blaßrundliches, blutjunges Gesicht mit einem weichen Stumpfnäschen. Als sie ihn anlächelte, sah er Grübchen. Und blonde Haare kamen unterm Hut vor, eine ganze mächtige hochgekämmte Tolle über der Stirn.
Er machte verliebte Augen. Um sie beide war eine große Stille; wohin man auch blickte: nirgendwo ein Mensch, nicht einmal ein Tier. Die flinzelnden Lichtchen der Ansiedlung blinkten noch fern, kein Hundegebell aus dem Dorf war mehr zu hören, selbst der Wind hielt sich still und pustete nicht. Da machte er wieder rasch die paar Schritte über die Straße zurück an ihre Seite und legte keck den Arm um ihre Taille. Sie trug kein Korsett, er fühlte die weiche Biegung ihrer Hüften.
Stumm ließ sie es zu, und als sein Arm etwas fester drückte, ließ sie auch das sich gefallen.
Dicht nebeneinander, bei jedem Schritt auf dem holprigen Landweg Schulter an Schulter reibend, gingen sie in die Einsamkeit. Unwillkürlich dämpften sich ihre Stimmen, zuweilen nur girrte ein Lachen des Mädchens auf. Als sie in die Kolonie kamen, ließ Valentin den Arm von ihren Hüften, aber sie gingen miteinander weiter.
Der Bursche ging an seines Vaters Haus vorüber, – dort war's, gefiel es ihr? – gemütlich fiel Lampenschein durch die Ladenritzen. Jetzt brachte die Mutter die kleinen Schwestern zu Bett, und dann würden sie mit dem Nachtessen auf ihn warten. Zum Pferdemarkt war er gewesen, einen Gaul sollte er kaufen – zum Frühjahr vielleicht noch einen zweiten – mochten die zu Haus nun denken, daß er sich dabei verspätet hätte. Das ging doch nicht an, daß eine so Hübsche allein durch die Nacht wanderte! »Gelt?«
Er faßte sie wieder um die Taille – die paar Häuser lagen bereits hinter ihnen – und zog sie näher an sich.
Sie ließ sich ziehen. Und durch ihre Gedanken schoß es: zwei Pferde, das ging an! Hofbesitzerssohn, der einzige noch dazu, das ging auch an! Und ein hübsches Haus, besser fast als die Propstei! Nach Posen in Stellung zu gehen, sich wieder quälen lassen von einer neuen Herrin, das war doch gar nicht angenehm. Sie murrte und ballte die Hand: » Psia krew!«
»Wat gefällig?« fragte er. »Sagt'st du wat?«
Da lächelte sie ihn an und lehnte sich für einen kurzen Augenblick ganz weich gegen seine Schulter. »Ich danke der heiligen Mutter, daß sie mich hat lassen dich treffen!« Fest drückte sie seine Hand: »Walenty!«
Wie seltsam sein Name aus ihrem Munde klang, ganz anders als sonst! Aber hübscher, viel hübscher. »Sag et noch einmal!«
Und als sie mit schmeichelnder Stimme wiederholte: »Walenty, Walenty«, seufzte er in plötzlichem Begehren auf: »Stascha, Stascha!«
Sie korrigierte ihn: so war's noch nicht ganz recht gesprochen! Zehnmal wohl ließ sie ihn sagen: »Stasia.« Nun war's richtig! Oh, er hatte eine gelenke Zunge – wie ein Pole –, er würde gut lernen!
Und sie redete ihm Schmeichelnamen vor:
» Moja duszko! Moje serce!« – »Meine Taube! Mein Seelchen!«
Er wiederholte gelehrig und lachend; dies Lernen machte ihm viel Spaß.
Dann machte sie sich plötzlich von seinem Arm frei und stellte sich vor ihn hin. »He, aufgepaßt: daj mi buzi!«
Was hieß das?
»Rate!« Die Hände auf den Rücken gelegt, den Oberkörper immer mehr nach ihm hinneigend, lachte sie schelmisch und sah ihn doch zärtlich dabei an: » Daj mi buzi!« Sie spitzte den Mund.
Da begriff er. Mit beiden Armen sie um die Schultern fassend, zog er sie gegen sich und drückte ihr einen derben Schmatz auf. –
Es war ihm, als hätte er eins über den Durst getrunken, als er endlich zu Hause war. Schon manches Mädchen hatte er geküßt; schon ehe er zu den Soldaten kam, und dann erst recht – da war sogar eine in Köln, dem schönen Städtchen, die wartete nur darauf, daß er sie hierher nachkommen ließ, und die war eine Bürgerstochter und hatte auch Geld – aber er dachte jetzt nur an Stasia. Ach, die war doch ganz was andres!
Seine Augen glänzten. Er war viel zu spät heimgekommen, sie hatten schon gegessen und sich auch fast schon geängstigt um ihn. Die Mutter hatte ihm Kaffee warmgehalten, nun prasselten noch die Bratkartoffeln in der Pfanne, und zwei mächtige Scheiben schnitt sie ihm vom Schinken ab. Der Junge mußte ja tüchtig hungrig sein.
Das war er auch, aber er saß beim Tisch, hintenüber gelehnt an die Bank, die Faust mit der aufrecht darinsteckenden Gabel neben dem Teller, und spießte doch keinen Bissen auf.
»Jung, haste nit Hunger? Du bist wohl arg müd?« fragte die Mutter. Und der Vater, der, seine Pfeife rauchend, in der Stube auf und ab ging, wollte gern etwas vom Markte hören. Aber Valentin blieb einsilbig, nur das Notwendigste brachte er heraus: ja, ja, sie würden schon einen Braunen kriegen, aber nicht vom Markt in der Kreisstadt, da wurde man nicht handelseinig, die Polen wollten einen ja alle übers Ohr hauen. Ein Glück, daß er den Löb Scheftel aus Miasteczko getroffen! Der war mit seinem Sohne und dem Wägelchen dagewesen. Mit zurücknehmen hatten sie ihn auch freundlichst gewollt, dann hätte er schon am Nachmittag daheim sein können – aber mit 'nem Juden fahren, nein, da hatte er sich doch bedankt. Morgen würde der Scheftel ihnen nun ein Pferd vorführen, zu zivilem Preis, und ein viel besseres, als die Ware auf dem Roßmarkt gewesen. Morgen – ja, morgen!
Den Teller zurückschiebend, versank der junge Mann mit offenen Augen in ein Träumen: morgen, ja, morgen! Ob er die Stasia vielleicht dann wieder traf?
Bis an die Sumpfwiese vorm Walde, die jetzt so fest gefroren war, daß man über sie hinweg den direkten Weg nehmen konnte, hatte er sie begleitet. Weiter wollte sie sich nicht bringen lassen: nein, nein, der Vater war so streng! Wollte der Walenty wissen, wie es ihr, dem armen Mädel, ergangen war? Und sie hatte ihm die Wange hingehalten, deren weiches Fleisch die Spuren einer Züchtigung wies.
Der Alte war aber mal ein Grobian! Was konnte die Tochter dafür, daß sie hübsch war, so hübsch, daß der Herr von Chwaliborczyce ihr nachstellte und sie, da sie ihm nicht willig war, bei seiner Frau so verpetzt hatte, daß diese sie Knall und Fall aus dem Dienst entlassen? Das arme Mädchen! Valentin fühlte ein inniges Mitleid und einen Zorn dazu: mußte der Grobian denn nicht ein Einsehen haben? 's war doch brav von der Stasia, daß sie sich dem Herrn widersetzt hatte!
Ach, die Stasia! Die Sternlein hatten nicht mehr allein geleuchtet, auch der Mond hatte angefangen zu scheinen und schien gerade in das liebe, runde Gesicht. Am Sumpfrand, beim Dornenstrauch, der jetzt ganz entblättert stand – nur ein paar verschrumpelte Hagebutten waren hängengeblieben – hatte sie ihn zum Abschied um den Hals gefaßt: ›Dobra Noz!‹ das hieß: ›Gute Nacht!‹ Sie hatte es mit besonderer Betonung gesagt, ihn warm dabei gedrückt, und dann war sie schnell von ihm fortgelaufen, mitten aufs Moor hinaus. In dessen Mitte hatte sie sich noch einmal umgedreht, ihm gewinkt, eine Kußhand zugeworfen und war dann lachend verschwunden gewesen hinter dem Kieferngestrüpp des Waldrandes.
Als Valentin seine Schlafkammer aufsuchte oben im Giebel, lief ihm das Blut rasch durch die Adern. Der Mond schien ihm aufs Bett; es war eisig kalt in der Kammer, aber er lag, nur lässig zugedeckt, mit offenen Augen auf dem Rücken, und es fror ihn nicht. Vergnügt war er eigentlich immer, konnte es gar nicht begreifen, daß die Eltern so manches zu klagen hatten, aber so gut wie heute war ihm noch gar nie zumute gewesen. Des Neuen hatte er hier schon viel zu sehen und zu hören gekriegt, aber das Allerneueste war doch, daß er – schon halb im Schlaf lachte er übers ganze Gesicht und spitzte dann den Mund: ›Demi Buschi‹ – daß er einen polnischen Schatz hatte!