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Doleschal hatte sich die Sache lange überlegt: nein, unter keinen Umständen würde er zum Wunsch des jungen Ansiedlers fördernde Hand bieten. Es tat ihm leid, wenn Valentin Bräuer sein Versprechen zu haben glaubte – mochte er ihm denn zürnen und seine Dankbarkeit sich in Unmut verkehren! Es war jedes Mannes Pflicht, diesen Knaben von dem unbesonnenen Schritt zurückzuhalten. Wenn die Pacht des Kruges ihm nicht zugesprochen wurde, hatte die Heirat wohl noch gute Wege.
Aber nichts Heimliches wollte Doleschal unternehmen, und so fuhr er, ungefähr eine Woche nach dem Besuch des jungen Rheinländers, hinüber zur Kolonie. Dort hatte der Bau des neuen Wirtshauses große Fortschritte gemacht; ein frischrotes, leuchtendes Ziegeldach war schon aufgesetzt, und die Sonne spiegelte sich schon in den Fensterscheiben. Bei den am Neubau Beschäftigten trieb sich Valentin Bräuer herum, aber Doleschal vermied es, den ganz in Anspruch Genommenen zu begrüßen. Er fuhr gleich beim Alten vor.
Sowie der Wagen hielt, kam die Frau herausgestürzt, streckte beide Hände in den Wagen und drückte und schüttelte Doleschals Hand:
»Ne, Herr, wat Sie doch so gut sind! Ne, Herr, wir danken Ihnen auch so vielmals! Wat is de Valentin so glücklich! Nu hat er die Wirtschaft – die andern mußten all abziehen – gestern haben se mit ihm Kontrakt gemacht!«
Was – Kontrakt? Doleschal war ganz betroffen: wie war das möglich, wie war das nur so rasch gekommen?! Vor acht Tagen schien der junge Mann doch noch gar keine bestimmte Aussicht zu haben.
»Gott, och Gott, is dat en Glückseligkeit!« Man sah Frau Kettchen die frohe Teilnahme an. »Mer wird selber noch emal jung derbei, wenn mer dat Pläsier mit ansieht. Dat vergessen wir Ihnen nie, Herr von Doleschal!«
»Ich – nein, ich bin ganz unschuldig daran! Ich – ich habe keinen Schritt dafür getan«, wehrte Doleschal ab.
» Sie hätten nix dafür getan?« Die gute Frau blieb dabei. »Wat Sie sagen! Ach ne, dat reden Sie mir nit vor, Herr Baron, dat Sie sich nit für de Jung verwend' haben!«
»Nein, mein Wort! Ich nicht.«
Und als Frau Kettchen ihn noch immer ansah, so ungläubig, so zweifelnd wie ein Kind, mit dem man seinen Spaß treiben will, sagte er ernst: »Ich würde mich hüten, meine Hand zu so etwas zu bieten. Ich halte es geradezu für ein Unrecht, für einen Unfug, Ihrem Sohn die Pachtung zu übertragen, da man doch weiß, daß er sich mit einem polnischen Mädchen verehelichen will.«
»Och, Herr!« Gekränkt zog die Mutter ihre Hand zurück. »Das is doch kein Unfug, wenn de Valentin die Wirtschaft kriegt! De is 'ne ordentliche Jung, und sein Braut is auch en sehr ordentlich Mädchen, sie wird uns alle Tag lieber. Un in drei Wochen, auf Michaelis' Tag, is die Hochzeit!«
So, also die Hochzeit war schon festgesetzt, und der Pachtkontrakt war schon unterschrieben? Was war da noch zu tun? Gar nichts! Da konnte er nur gleich wieder fortfahren. Eine Unterredung mit dem Vater, dem alten Bräuer, hatte nun auch keinen Zweck mehr. Zu spät!
Doleschal fühlte die plötzliche Kühle deutlich, mit der sich Frau Kettchen von ihm verabschiedete. Er hatte das freundliche, saubere Weib immer gern gehabt, nun tat's ihm leid, daß er ihr hatte so schroff erscheinen müssen. Eine plötzliche Verzagtheit kam über ihn – ach, er machte es eben keinem Menschen recht! Da waren doch so viele, die nicht halb das Interesse hatten für die Kolonisation wie er, und doch wurden sie freundlicher gegrüßt und mehr angesehen als er. Vor ihnen flogen die Hüte – vor ihm, der jetzt den Kutscher langsamer fahren hieß durch die Ansiedlung, wurden die Hüte lässig gezogen. Oder dünkte ihn das nur so?!
Mit einem gewissen Mißtrauen flogen des Deutschauers Blicke nach rechts und links; er gierte förmlich nach einem treuherzig fröhlichen ›Grüß Gott‹ des Schwaben, an dessen Häuschen er jetzt vorbeifuhr. Aber das ›Grüß Gott‹ des Mannes, der vor seiner Tür Holz sägte, klang gedrückt.
Warum war der nicht heiterer? Nun, natürlich, auch der hatte etwas gegen ihn – wie alle – alle!
Den Grübelnden überlief plötzlich ein Schauer. Sich ganz in seine Wagenecke drückend, ließ er den Kutscher Trab fahren. Er wollte nach der Kreisstadt zum Landrat – der wenigstens war sein Freund. Schneller! Warum denn wie mit Schneckenpost? Schneller! Der Kutscher hieb auf die Pferde.
Als sie durch Pociecha-Dorf rasten, war gerade die Religionsstunde der Kinder, die nächste Ostern zur heiligen Kommunion gehen sollten, zu Ende. Mit ihrem Katechismus unterm Arm standen die Knaben und Mädchen am Pfuhlrand, zwischen Schule und Propstei, und ließen den Wagen passieren.
Keines der Kinder grüßte; sie glotzten nur. Aber als der Wagen vorbeigesaust war, kam ein Steinwurf nachgesaust, und eine Knabenstimme kreischte gellend hinterdrein:
»Deutscher, Deutscher, Hundeblut!«
Die drei Wochen bis zum Michaelistag waren schneller dahingegangen, als selbst Valentin Bräuer, der ungeduldige Bräutigam, es geahnt hatte. Mit den Schwalben, die fortgezogen, waren auch die Tage geflogen.
Nun war die Stasia sein Weib; sie schwur ihm Treue fürs ganze Leben vor Gott. Der Priester weihte ihren Bund.
Valentins Brust hob sich unter schwellendem Atemzug des Glückes: nun war sie sein! Sein, die hier so schön, so zierlich neben ihm stand. Es fiel ihm darüber gar nicht auf, daß er eigentlich kein Wort verstand von dem, was da am Altar gesprochen wurde.
Piotr Stachowiak, der Propst, lag an einem neuen Gichtanfall, so traute sie der junge Vikar.
Aber er hielt die Traurede polnisch. Nur als er sich direkt an den Bräutigam wandte: ›Ich frage dich, Valentin Bräuer, Junggeselle, willst du diese hier anwesende Jungfrau Stanislawa Marianna Frelikowska, als dein christliches Eheweib hochhalten und lieben dein ganzes Leben lang, so antworte: ja‹ – sprach er deutsch. Aber er lispelte es rasch, leise und unsicher, wie man eine fremde Sprache spricht, die man nicht ganz meistert.
Desto lauter klang des Bräutigams ›Ja!‹ durch die Kirche. Er rief es heraus aus voller Brust, so ehrlich zuverlässig, daß selbst die Neugierigen, die sich aus dem Dorf eingefunden hatten, dieses ›Ja‹ verstanden.
Stasia sagte nicht ›Ja‹, sie sagte: ›Tak!‹
Unter dem mit Rosmarinzweigen besteckten Brautmützchen, das sie, wie alle polnischen Landbräute, am Hochzeitstag trug, schaute sie beharrlich zu Boden. Es war ihr nicht so gar leicht zumute. Gestern war sie noch einmal zur Beichte gewesen, und mit weinenden Augen hatte sie den Beichtstuhl verlassen. Es war doch eine nicht so leichte Aufgabe, der sie entgegenging – des war sie sich im Beichtstuhl erst ganz bewußt geworden.
Sie machte ein ernstes Gesicht. Es hellte sich auch nicht auf, als der Kutscher des Hochzeitswagens, ein wehendes buntseidenes Tuch ins Knopfloch geknüpft, kunstvoll mit der langen Peitsche knallte, daß es klang wie Pistolenschüsse. Sie lächelte nicht, als der Wind sie mit den vielen flatternden Bändern vom Rosmarinsträußchen ihres Hochzeiters kitzelte, lachte nicht, als beim Hochzeitsschmaus der Vater und der Schwiegervater, die beide kräftig getrunken hatten, Brüderschaft schlossen, und dann plötzlich draußen vorm Haus die Musikanten von Pociecha-Dorf, die man nicht bestellt, aber die sich doch eingefunden hatten, den Krakowiak zu spielen anfingen. Und sie spielten doch so flott, daß der nimmermüden Michalina, die den ganzen Tag Kuchen und Braten aufgetragen und Bier und Wein eingeschenkt hatte, die Füße juckten.
Sie schaute erst zuversichtlicher drein, als ihr die Brautjungfern um Mitternacht das Brautmützchen abgenommen und ihr als Zeichen der Würde die Frauenhaube aufgesetzt hatten. Die würde sie nicht immer tragen, bewahre! Auf das besorgte Flüstern ihres Ehemannes: ob sie denn von nun ab ihr schönes blondes Haar verdecken wolle, schüttelte sie lächelnd den Kopf: o nein, nein, man hielt eben nur fest an den alten Hochzeitsbräuchen.
Gegen das nun einmal Hergebrachte ließ sich nichts sagen. Das hatten auch die Eltern Bräuer eingesehen, wenngleich Frau Kettchen an dem Hochzeitstag oftmals recht unsicher blickte. Es kam ihr alles so sehr fremd vor, und sie, die die Hochzeit eifrig betrieben hatte, konnte ein paar leichte Seufzer nun doch nicht unterdrücken.
Schon daß die Braut keinen Myrtenkranz trug, wollte ihr nicht in den Sinn – war sie denn ein Mädchen, dem die Myrte nicht mehr zukam? Doch, doch, freilich! Aber der Rosmarin war nun einmal hier Sitte anstatt der Myrte.
Verstohlen suchte ihr Blick überm Sofa das Glaskästchen, darinnen ihr eigner Brautkranz hing – ach, den hatte sie immer so hochgehalten! Und sehnsuchtsvoll flogen ihre Gedanken zurück zu jener Zeit, da in der kleinen Dorfkirche am Rhein ihr Glück begründet worden war. Und eine Sorge kam sie an: ob die hier denn auch glücklich werden konnten?
Vater Bräuer war es auch nicht einerlei gewesen, daß der Sohn aus dem Hause ging. Aber darüber nachzudenken, dazu kam er vorderhand nicht. Es war nun vor Winter noch eine Menge Arbeit zu erledigen, und auf den neugebackenen Ehemann war in dieser Zeit nicht viel zu rechnen. Der mußte nun erst einmal die eigne Wirtschaft begründen, und – hatte man wohl je Ähnliches erlebt? – der hing seiner jungen Frau ja förmlich am Schürzenzipfel. Alle seine Gedanken waren nur bei ihr, kaum war er einmal weg vom eignen Herd, so saß er auch schon wieder daran.
Das würde sich ja hoffentlich legen mit der Zeit. Ein Glück, daß die Schwiegertochter nichts Unbilliges verlangte, denn wahrhaftig – Vater Bräuer schüttelte mißbilligend den Kopf –, der Junge ließ ja alles mit sich machen!
Nun war der Winter gekommen. Weiß lagen die unabsehbaren Flächen, und Schneehaufen gleich, kaum sich hebend vom Boden, die niedrigen Hütten der Arbeiter.
Der Ackerbau ruhte. Die Pflugschar rostete.
Tief unterm Schnee schliefen die winzigen Hälmchen. Wer konnte jetzt schon sagen, ob sie einst hoch und kräftig emporschießen, reife, wiegende Ähren werden würden, die sich neigten unter der eignen Fülle – oder ob sie verkommen würden, ersticken unter der Last, die der Himmel mit jedem Tag auf sie heruntersenkte?!
Von November an fiel der Schnee stetig. Kein Sonnenwetter gab's mehr. Auch kaum einen Wind. Ruhig blieb der weiße Mantel liegen; kein Ast, kein Ästchen der Akazien von Przyborowo und der Pappeln von Chwaliborczyce war nackt. Jeden Morgen das gleiche Weiß, dieselbe weiche, fleckenlose, jeden Schall dämpfende Hülle. Lautloser Friede lastete überm Lysa Góra.
Auf dem platten Lande machte sich die Langeweile breit. Zu Sommerzeiten wurde nie soviel geklatscht. Löb Scheftel brauchte, wenn er jetzt mit seinem Wägelchen herumfuhr, immer länger und länger zur Tour. Und das war nicht die Schuld des Schnees allein, der sich den Rädern anklebte, Schuld trug auch nicht, daß er nun alles allein zu besorgen hatte – sein Sohn Isidor half ihm nicht mehr, der war im Herbst fortgezogen –, das Schwatzen machte es, das ihn in jeder Küche festbannte, beim kleinen Mann sowohl wie in der Herrschaftsküche.
»Gott der Gerechte und Weh geschrien!«
Der Händler hatte viel zu jammern: wie sollte es werden, wenn die neuen Zölle durchgingen? Wie teuer würde man dann 's Fleisch einkaufen! Gott soll hüten!
Wie man in der Zeitung las, die der Herr Kestner hielt – der Briefträger, den Scheftel auf seinem Wägelchen täglich ein Stück Wegs mitnahm, ließ ihn zum Dank dafür immer ins Kreuzband gucken –, war Zollerhöhung auf die Einfuhr vom Ausland das einzige Mittel, die heimische Landwirtschaft zu heben.
Klug gesprochen! Das meinte Löb Scheftel auch. Mochten sie nur immer die Einfuhrzölle erhöhen, hierzulande wuchs ja auch Getreide, und Kälber wurden auch geboren und Lämmer und Ferkel. Aber – weh geschrien – nun wollten die großen Herren auch gleich denselben Preis für ihre Produkte machen, wie der für die auswärtigen war, die doch den hohen Zoll auf sich hatten. Ja, auf diese Weise verdienten wohl die großen Herren – aber andere?!
Wenn die Futtergerste, der Mais, die Ölkuchen, überhaupt alle Futtermittel, so teuer wurden, wie sollte da der kleine Besitzer die Aufzuchtskosten erschwingen? Dann mußte der ja ein Stück Vieh fast so teuer verkaufen wie früher zwei, und hatte doch noch keinen großen Profit dabei. Und der Händler, der 's Rind und 's Schweinchen und 's Hämmelchen so hoch bezahlen mußte, konnte das Fleisch nun doch auch nicht mehr so billig weggeben.
»Schlechte Zeiten! Teure Zeiten!« Löb Scheftel rechnete es allen, die ihm mit besorgten Mienen zuhörten, an den zehn Fingern vor, warum er auf alles Fleisch zehn Pfennig pro Pfund aufschlagen mußte. »Wenn der Isidor würde sein noch hier, würde 's Fleisch gewiß aufschlagen um fünfzehn Pfennig, denn der rechnete besser, und« – Scheftel zog die Achseln hoch und machte ein bedauerndes Gesicht – »wer kann wissen, ob's nicht zu Ostern schon kosten wird zwanzig Pfennig mehr per Pfund?!«
Also nicht einmal mehr zu den Festtagen sollte der kleine Mann Fleisch essen? In der Woche hatte man ja sowieso nie Fleisch im Topf. Da war der Lehrer in Pociecha-Dorf, der hatte, seitdem er krank gelegen und aus der Propstei gespeist worden war, keinen Braten mehr gerochen. Und nötig hätte der's wahrlich, denn Doktor Wolinski hatte Schwindsucht festgestellt.
Und so wie Lehrer Ruda waren viele, die gern Fleisch gegessen hätten und es nicht bezahlen konnten, denn zehn Pfennig mehr für das Pfund ist zuviel.
War es jemals früher hier so gewesen? Nein, niemals! Es gab noch Leute, die sich erinnern konnten, daß man das Rindfleisch um zwei Groschen gekauft, ein ganzes Ferkel für einen halben polnischen Gulden, und eine gute Legehenne noch zugekriegt hatte.
Ja dazumal, dazumal! Schäfer Dudek, der am liebsten von ›dazumal‹ erzählte, deutete ernsthaft mit einem Finger auf ihre Stirnen. Hatten sie denn ganz vergessen, daß ›dazumal‹ nicht ›heute‹ war? Dazumal, ach, da war das Land noch gut polnisch gewesen, und wenn einer Hunger hatte, ging er zum Nachbar und sprach: ›Du, gib mir zu essen!‹ Und wenn der Nachbar nichts hatte, so ging er mit dem zusammen zum zweiten Nachbar, und wenn der auch nichts hatte, so ging man zu dritt wieder zum nächsten Nachbar, und so fort, bis man endlich zu einem kam, der etwas hatte. Und der speiste sie dann alle, und sie blieben bei ihm, solange es reichte.
Ja, dazumal war noch Gastfreundschaft in Polen gewesen, und Liebe und Treue und Gutherzigkeit und Mildtätigkeit! Wo waren die Zeiten hin?!
Traurig schüttelte der alte Schäfer den Kopf. Aber dann richtete er den verlorenen Blick seiner Augen auf den Urenkel, der am Boden spielte, und sein Blick wurde hoffnungsvoll: Jasio, der Knabe, das kleine Hänschen da, der würde wieder leben in dem gelobten Lande, in dem Polen, wie es einst gewesen war, in dem großen Polen. Noch lag der Lysa Góra unterm Schnee, aber wenn der Schnee schmolz, und das Wasser hinuntertroff in die Ebene, dann schmolz auch die Erde, die die Schläfer deckte, und herauf stieg das Heer aus dem Berg mit klirrenden Schwertern und blinkenden Sensen: ›Es lebe Polen!‹ Und die Deutschen flohen wie Hunde, wenn der Wolf heult.
»Ich sage euch«, sprach Schäfer Dudek, »wenn die bösen Leute auch reden, daß Polen tot sei, es ist nicht wahr. Es liegt nicht im Grabe, es liegt nur und schläft wie ein Kind in der Wiege. Und es zählt im Traum die vielen langen Frühlinge, die es schon geschlafen hat, es hört die Fichten rauschen an seinen Flüssen und die Ähren in seinen Feldern, es hört seine Kinder in den Spinnstuben klagen über die blassen Eindringlinge mit den blutigen Händen, und es fühlt, daß sie sich sehnen. Und es erwacht und schüttelt sich: ›Die Stunde ist da!‹«
»Werden wir dann das Fleisch billiger haben und immer Brot genug?« fragten die Weiber, die sich allabendlich, wenn das Licht angezündet war, beim alten Schäfer einfanden.
»Ihr werdet alles genug haben, ihr werdet glücklich sein«, sprach der Alte. »Betet, daß das Reich komme!«
Und sie beteten alle eifrig und freuten sich schon. –
Es war vor Winteranfang gewesen – der Schäfer und die kleine Marynka hatten noch einmal ihre Herden geweidet, unfern des Berges, an dem entlang Telegraphendrähte sich spannten –, als sie ein seltsames Surren gehört hatten. Ein Klingen war über ihnen gewesen, ein Wehen, wie von geisterhaften Tönen.
»Was ist das?« hatte die kleine Marynka gefragt und die Kinderaugen aufgerissen in abergläubischer Neugier.
Auch der Schäfer hatte nach oben gehorcht, aber sein halbtaubes Ohr hatte den Wind nicht erkannt, der in den Drähten sauste und harfte; sein sehnendes Auge sah nur die Kiefer oben auf dem Berge wie eine Flagge winkend wehen, und er kauerte sich nieder und legte das Ohr lauschend auf den Boden und winkte dem Kinde, das gleiche zu tun.
Also hatten sie lange geharrt.
Aber wenn sie auch damals nichts weiter vernommen hatten, das erste Zeichen war doch gegeben, des war Dudek ganz sicher. Und er nahm sich vor, in der Nacht des 24. Dezembers, wenn der erste Schlag der Mitternacht anhebt und in der heiligen Stunde die Bäume grünen, wenn alle Tiere zu reden beginnen, alle Wesen, die sonst stumm sind, wieder zum Berge zu gehen. Dann würden die, die da unten schliefen, das zweite Zeichen geben.
Und als die geweihte Nacht kam, tat der taube Alte also und ging zum Berge und hörte, was er hören wollte, und alsbald lief ein Gerücht um in den Hütten und ging von Stube zu Stube, von Mund zu Mund: ›Der Dudek hat in der geweihten Nacht das schlafende Heer im Berge gehört, es hat ihm ein Zeichen gegeben – das zweite Zeichen!‹
Und man wurde immer gewisser: wenn Ostern herankam, dann gaben die Ritter im Berge das dritte Zeichen und standen auf wie ein Mann. –
Noch jemand hatte gleich Schäfer Dudek in der heiligen Nacht die Zukunft ergründet. Das war seine Enkelin, die Michalina.
Michalina war noch immer bei den Bräuers.
Die Hausfrau war zwar gesünder und konnte wieder ihre Wirtschaft beschicken, aber sie hatten sich zu sehr an die Magd gewöhnt.
Und wenn die eben zu Hause nichts mehr zu tun fand, lief sie hinüber zum neuen Krug und half dem jungen Ehepaar. Dort war immer etwas zu schaffen.
Die junge Frau war nicht an derbe Hausarbeit gewöhnt; ihre Hände hatten stets weich und fein sein müssen, um der Herrin aufzuwarten. An Geschick fehlte es ihr freilich nicht; niemand konnte so zierlich wie sie in der Gaststube bedienen. Wenn sie das Glas am Bierkran vollaufen ließ, daß es eine Haube trug, frisch gewaschen weiß wie die einer Frau am Festtag, und wenn sie es mit einem ›Wohl bekomm's!‹ vor den Gast hinstellte, dann schmeckte es dem besser als irgendwo anders, und er bemerkte nicht, daß der Holztisch ungescheuert war und noch die Kringel der übergelaufenen Biergläser und der verschütteten Schnapsneigen von vor acht Tagen zeigte. Wenn sie das Schnapsgläschen übervoll goß, mit einem Haufen schier, und dann mit spitzen Lippen daran nippte, mußte schon einer ein Stockfisch sein, der diese roten Lippen nicht gerne hätte plaudern hören. Aber das Fegen in Stube und Flur, das auf den Knien im Nassen liegen und die Dielen weiß scheuern mit Lauge und Sand, das stand Stasia nicht an. Lässig wischte sie einmal über alles hin; sie sah gar nicht, daß der Schmutz in den Ecken wuchs.
Dagegen machte sich Michalina ein Fest daraus, im Kruge zu scheuern. Des Valentin zufriedenes Kopfnicken und das behagliche Lächeln, das über sein Gesicht zog, roch er den Duft des frischen Seifenwassers in der Wirtsstube, machte sie glücklich.
Stasia haßte den Scheuergeruch. In Chwaliborczyce war niemals gescheuert worden, wenigstens niemals, wenn man davon etwas bemerkte. Das taten nur die Schwabby, alles mit Wasser überschwemmen und dann sagen, sie machten rein. Der Scheuergeruch, der ihre Nase beleidigte, war auch der erste Anlaß zu einem Zank zwischen ihr und ihrem Walenty. Was fiel ihm denn ein, ihr den Vorwurf zu machen, daß sie's nicht sauberhalte? War sie eine Magd? Dann hätte er sich eine solche heiraten müssen – vielleicht die da!
Und sie hob die Fußspitze und deutete nach Michalina, die eben auf den Knien unterm Tisch herumrutschte und die achtlos hingeworfenen, halb zertretenen Zigarrenstummel zusammenlas, die des jungen Wirts Ärger erregten. Diese Stummel hatte Pan Szulc, der Inspektor, gestern, als er hier ein Stündchen gesessen und geraucht, fallen lassen. »Liegen die etwa nicht gut da? Stören die etwa jemand?« meinte Stasia spitz.
Nein, die störten gar nicht, das fand auch die Michalina. Aber trotzdem suchte sie sie eifrig auf. Der Walenty war's eben so von seiner Mutter her gewöhnt, die konnte auch kein lächerliches Stäubchen liegen sehen – hatte die nicht sogar erzählt, daß bei ihnen zu Hause, wo der Rhein soviel Wasser gibt, selbst die Straßen gescheuert würden?!
Drollig genug war's, aber warum sollte man den Leuten, die so gut waren, nicht etwas zuliebe tun.
Michalina hatte die braunen Augen gehoben und das Gesicht des jungen Ehemannes gesucht. Aber er sah ihren Blick nicht, er suchte nur den seiner Frau.
Jedoch Stasia schmollte.
Sich den Armen, die sie reuig umschlingen wollten, entziehend, schlüpfte sie zur Tür hinaus. Draußen hörte man sie gleich darauf hell lachen und dann des Försters rauhen Baß dröhnen.
Frelikowski war heute gekommen wie alle Vormittage und wie alle Abende auch, seinen Schnaps hier zu trinken; der neue Krug lag ihm viel bequemer als der in Pociecha-Dorf. Überhaupt, wer würde zu einem Juden gehen? Wenn man beim Juden ein Gläschen anschreiben läßt, machte er gleich drei daraus!
Frelikowski führte der Tochter gute Kundschaft zu; die meisten Leute der Umgegend kehrten jetzt im neuen Krug ein. Wenn die Ansiedler am Sonntagabend, wo man doch gern vom Einerlei der Woche eine Abwechslung hat, einen Tisch haben wollten, fanden sie keinen. Sie mußten schon Platz nehmen zwischen den andern Gästen.
Und warum auch nicht? »Ein Wirtshaus ist für alle da!« sagte Stasia. Wem's nicht paßte, polnisch zu hören, konnte ja zu Hause bleiben. Daheim konnten sie deutsch genug reden mit ihren Hühnern und Gänsen; hier mußten sie's schon machen wie der Vater, der sprach halb polnisch, halb deutsch, je nachdem – und verstand den so nicht ein jeder?
Es war Valentin nicht recht, daß der Trunk polnisch begehrt, polnisch kredenzt und polnisch angekreidet wurde. Wenigstens das eine setzte er durch: daß nicht mehr soviel angekreidet wurde. Das ›auf Rechnung schreiben‹ hätte Frelikowski gern eingeführt, aber es gelang ihm nicht; der Schwiegersohn war pünktlich, was getrunken wurde, wurde auch bar bezahlt.
Stasia fand das gar nicht gutherzig: lieber Gott, wenn nun einer nicht genug Geld mit sich hatte und doch noch gerne trinken wollte! Sie stundete. Eine Wirtsfrau muß gefällig sein, das bewies sie ihrem Valentin klipp und klar. Wo hätte er wohl so viele Kunden her, wenn sie nicht wäre? Von den paar Ansiedlern konnte der Krug doch unmöglich bestehen. So aber kam die Pacht ganz gut heraus. Und darum ließ auch Valentin mit der Zeit mehr nach, mochte er doch ohnehin seiner Stasia nicht gerne widersprechen.
Es war ganz natürlich, daß Stasia diejenige war, an die sich alle wendeten, beherrschte sie doch das Polnische und das Deutsche gleich gut und verstand die Ansiedlersfrauen ebensowohl, die Salz und Zucker und Grießmehl verlangten, wie die kleinen Dorfbuben, die sich für ein paar Pfennige Zuckerchen und Lakritzen holten. Und die Gäste, die ›Bier‹ begehrten, bediente sie ebenso lächelnd wie diejenigen, die › Piwo‹ riefen.
Aber bald riefen sie alle › Piwo‹, macht es doch viel Spaß, sich gelehrig in einer fremden Sprache zu zeigen. Auch Valentin, der so oft das Wort › Piwo‹ hörte, sagte jetzt so – warum auch nicht?
»Es macht mir Freude«, sagte Stasia, »ich höre es gern. Kein Mensch spricht so hübsch polnisch wie du, mein Walenty. Walek!« Und sie lehnte sich an ihn und rieb ihre blonden Haare an seine Wange: » Dai mi buzi!«
»Jung, 'ne ganze Polack bist du schon geworden«, brummte Peter Bräuer; aber es war ihm nicht Ernst darum, er sagte es nur aus Spaß. Zum Spaß brauchten sie ja alle polnische Brocken – eigentlich wußte man es gar nicht mehr, daß man sie brauchte – war's denn auch wohl anders möglich? Da war die Michalina, die schwatzte einem ja den ganzen Tag die Ohren voll, aber wer mochte ihr das wehren!
Und wer mochte der fleißigen Magd dawider sein, daß sie nun auch das Weihnachtsfest herrichtete, ganz nach landesüblicher Weise.
Michalina war voller Freude aufs Fest und die Kinder nicht minder. Auch vorige Weihnachten, zu Hause noch, hatte man keinen Lichterbaum gehabt – 's war ja auch am Rhein nicht überall Sitte – aber dieses Jahr fastete man den ganzen 24. Dezember, und erst als der Abendstern am Himmel aufzog, trug die Michalina das Mahl auf: neun Speisen nach der Reihe, wie es die Sitte erheischte. Die Überbleibsel jedes Gerichts kamen in den Eimer fürs Vieh. Und ein Bund Stroh breitete die Michalina unter den Tisch zum Andenken, daß das Jesuskindlein einst in der Krippe gelegen hatte auf Heu und auf Stroh. Das machte den Kindern viele Freude.
Gegen zwölf Uhr nachts machte sich Bräuer mit den wohlvermummten Seinen auf nach Pociecha-Dorf. Die Frau hatte ihm keine Ruhe gelassen, hatte doch der Herr Vikar aufgefordert, in die Pasterka zu kommen – nein, die Hirtenmesse durften sie nicht versäumen! So gingen sie in die sternklare Winternacht dem Läuten der Glocke nach, und die Kinder guckten beständig hinauf zu den Sternen: ›so viele Sterne am Himmel stehen, so viele Eier werden die Hühner legen künftiges Jahr‹, das hatte ihnen die Michalina gesagt.
Michalina war allein zu Hause geblieben. Aber sie schleuderte nicht den Pantoffel vom Fuß rückwärts über den Kopf, um zu sehen, ob sie bald Hochzeit machte – wenn der auch noch so weit geflogen wäre, sie würde doch nicht Hochzeit machen!
Und sie klopfte auch nicht am Schweinestall und horchte, ob sich zuerst ein junges oder ein altes Schwein meldete – ob's ein junger oder ein alter Mann wurde, was kümmerte sie das?! Sie wollte keinen.
In den Garten schritt sie und schlang vom Strohbund, das unter dem Festtisch gelegen hatte, kleine Bänder um die jämmerlichen Obstbäumchen, damit die wachsen und brav Früchte tragen sollten dem Wirt zur Freude. Und dann ging sie, immer mit feierlichem Schritt und ernstem Gesicht, zum Stall.
Jetzt war die heilige Stunde da. Die ungeheure Stille der Winternacht hatte ihr den ersten Klang der fernen Glocke zugetragen. Sie bekreuzte sich fromm und bewegte betend die Lippen: jetzt ward Christ geboren! Jetzt tat sich auf, was bis dahin gebunden war – jetzt sprachen die Tiere!
Unterm schneebleichen Nachthimmel, der sich wie die Kuppel eines heiligen Doms, von goldenen Kerzen erhellt, über den stillen Hof wölbte, stand schauernd in Andacht und Furcht das einsame Mädchen. Es hatte die gefalteten Hände gegen das pochende Herz gedrückt. Horch, rührte sich drinnen noch nichts?
Michalina neigte das Mützchen an die Tür des Kuhstalls, sie preßte das Ohr fest an die Spalte. Alle Wunder der heiligen Nacht waren nichts mehr für sie, nur das eine wollte sie wissen, mußte sie wissen, und wenn sie auch ihr Leben darum lassen müßte: was brachte das künftige Jahr dem Sohn ihres Herrn? Ward es ein glückliches Jahr oder ein trauriges für den Walenty? Welche Antwort würden die Kühe geben? Ach, sein Blick war jetzt manchmal so trüb – plagte ihn die Stasia, plagten ihn Schulden, plagte ihn Krankheit? Ach, heilige Mutter, Allerbarmerin! Was plagte ihn denn?!
Was niemand sah, das hatte die braune Michalina gesehen. Valentins Gesicht war nicht immer froh, seine Stirn nicht immer frei. Wenn er in Stasias Armen lag, wenn die Welt draußen stumm war und dunkel, und nichts da als er und sie, dann war er wohl glücklich, so glücklich, wie er sich's erträumt hatte. Aber am Morgen im nüchternen Licht war's nicht mehr so. Mit dem Kehricht in den Ecken, den Stasias Röcke, die sie lang trug wie eine Dame, aufwirbelten, flog auch die Verstimmung auf.
Schon der Schwiegervater mit dem roten Bart, der sich pünktlich jeden Tag einfand und ungezählte Gläser leerte, war ihm nicht lieb. Der erzählte jetzt nicht mehr vom großen Krieg und von seiner Militärzeit, der schimpfte auf Kaiser und Reich und war wilder auf Polen versessen als die Polnischen selber.
Und der Inspektor, der bald nach dem Förster eintraf, war Valentin noch weniger lieb. Er war gut Freund mit dem Förster; sie spielten mitsammen Karten. Und wenn der Ansiedler, der Szleger, der hier aus der Provinz stammte und die polnischen Weiber im Hause hatte – Frau und Schwiegermutter und Schwägerin – sich noch dazu fand, dann war das ein Gerede, eine lebhafte Unterhaltung, von der der deutsche Wirt kein Wort verstand.
Valentin sah ein, es ging nicht anders, er mußte verstehen lernen, was in seinem Hause gesprochen wurde; er mußte wissen, was Stasia sagte, worüber sie mit den Männern lachte. Sie waren immer so eifrig. Wenn sie alle die Köpfe zusammensteckten, trat er wohl auch an den Tisch, wollte auch teilnehmen an ihrer vertraulichen Unterhaltung, aber dann traf ihn ein Blick Stasias, so fremd, so kalt, daß ihn fror. Sie war wohl seine Frau, vor Gott und Menschen ihm angetraut – aber war sie ganz sein? Er fühlte es dumpf, ohne sich dessen selber recht bewußt zu werden: ihre Seele war nicht sein. Die war zu Hause hier auf dieser Ebene, die wie ein Teller unter der Glasglocke des Himmels liegt – ihre Seele war polnisch!
Und eine jähe Trauer kam in sein Herz. Hastig riß er dann wohl ihren Kopf an sich und küßte sie und sah ihr tief in die Augen; sie ließ sich's gefallen. Aber schaute er auf, so traf er auf den spöttischen Blick des Inspektors und hörte das Lachen des Försters. Dann war ihm der Kuß auch verleidet, und er ging aus der Wirtsstube hinaus auf den Hof in den Schnee; kälter dünkte ihn die Winterluft nicht als drinnen die Stube. Er machte sich draußen zu schaffen mit dem Gefühl, drinnen ein Fremder zu sein, nur ein Geduldeter im eignen Haus.
Was die nur immer zu schwatzen hatten? Merkwürdig, die Michalina konnte er immer verstehen, obgleich die das Deutsch so verschimpfierte, daß es eine Schande war. Aber sie gab sich viel Mühe. Oft wenn er draußen allein stand, das Beil in der Hand, um Brennholz zu spalten, aber nicht zuschlug, sondern wie verloren auf den Hauklotz starrte, trat sie zu ihm.
Sie zupfte ihn am Ärmel, zeigte ihm lachend die Zähne und ermunterte ihn:
»Dalli, dalli, daß junges Frauchen sich nicht friert in Küche!«
Dann schlug er zu, daß die Kloben splitterten, und sie sammelte die Scheite in ihre Schürze und half sie ihm ins Haus tragen. Er war oft unwirsch gegen sie und sagte ihr nicht ›Danke‹, aber das bemerkte sie gar nicht. Heilige Mutter, liebreiche Mutter, wenn er nur wieder froh werden wollte! Was hatte er nur, daß seine Wangen nicht mehr so rot waren wie früher und seine Augen nicht mehr so blank glänzten?
Michalina hatte Valentin Bräuer schon viele Male in ihr Gebet eingeschlossen, ihn hundertmal der Mutter Gottes ans Herz gelegt – was sollte sie sonst für ihn tun? Würde er glücklicher werden im nächsten Jahr?
Das sollten ihr jetzt die Kühe sagen in der heiligen Nacht.
Aber wie sie auch begierig harrend auf dem einsamen Hof stand, der totenstill war, so still, daß das leiseste Wörtchen vernehmbar sein würde, wie sehr sie auch das Ohr an die Tür des Stalles preßte, kein Ton wurde drinnen laut. Nicht einmal das gewohnte Schnaufen war zu hören. Wie versteinert standen die Kühe, wie erstarrt.
Da wurde die Horchende plötzlich von Grauen geschüttelt: o weh, o weh, die Kühe sprachen heute nicht in der heiligen Nacht! Denen hatte die Mutter Gottes den Mund verboten. Die füllten gewiß nichts sagen, weil es gar so etwas Trauriges war!
Und sie gab, von Angstschauern gerüttelt, Fersengeld, stürzte hinein ins Haus und auf ihren Strohsack, versteckte den Kopf in den Pfühl und weinte. Weinte angstvolle Tränen in der heiligen Nacht. –
Von Weihnachten ab wußte Michalina es ganz genau: dem Walenty drohte etwas. Ach, das kam davon, daß er früher so oft nach dem Tupadlo gegangen war! Wäre er doch fortgeblieben vom Sumpf, dann hätte das böse Irrlicht, die Mora auf dem Rad, nicht seine Seele behexen können.
Das sich ängstigende Mädchen beschloß, einmal den Großvater zu fragen, der war ja so klug, beinahe allwissend.
Der alte Dudek zürnte seiner Enkelin noch immer: was hatte sie bei den Schwabby zu suchen?! Er machte auch keine freundliche Mine, wenn sie ihm Tabak, den sie für ihn gekauft hatte und den er so gern schnupfte, mitbrachte, sah auch kaum hin, als sie dem Jasio ein schönes Kleidchen anzog, das Frau Kettchen ihr geschenkt hatte. Und wenn sie erzählte, wie gut es ihr gehe, wie freundlich die deutsche Frau sei, sie nicht schlage und nicht schelte, so hatte er auch dafür kein anerkennendes Wort.
Aber als sie ihm angstvoll sprach vom jungen Sohn ihres Wirtes, daß der bleiche wie das junge Gras, das zu heiß in der Sonne steht, da erhellte sich seine finstere Miene: so mußten sie alle dahingehen, die Niemcy – was hatten sie hier zu suchen?!
Als sie ihn bat, ihr ein Mittel für den Bleichen zu geben, auf daß ihm geholfen werde, schüttelte der Schäfer finster den Kopf:
»Ich könnte dir wohl ein Mittel geben, aber ich gebe ihm keines. Laß ihn krepieren!«
Michalina bat flehentlich: was hatte der arme Walenty dem Großvater denn getan? Warum war der Großvater so hartherzig?
»Ich bitte dich, Großväterchen, sage mir doch, ist es der Wind, der hart über unsre Felder streicht und den seine Brust nicht ertragen kann? Ist es der Staub unsrer Äcker, der seine Augen trübt? Ist es unser langer Winter, der ihn so traurig macht? Du weißt doch sonst alles. Ich bitte dich, sage mir!«
»Nimm das alles zusammen«, sprach Dudek gewichtig. »Ich sage dir, er ist nicht hier geboren, er ist hier eingedrungen – darum muß er sterben. Und wenn ich drei gequollene Erbsen nehmen würde, am Morgen, Mittag und Abend, und sie für ihn in den Brunnen würfe, und wenn ich das Wort ›Kalas‹ auf ein Stück Papier schreiben würde und ließe ihn das verschlucken, es würde ihm doch nichts helfen. Das sind Mittel, die das Fieber heilen. Ihn heilen sie nicht.«
»Aber ich glaube, er hat das Fieber«, versicherte Michalina rasch. »Ich sehe zuweilen, daß in seinen Augen ein Licht brennt. Es brennt, wenn seine Frau mit den Männern am Tisch sitzt und schwatzt – sie lacht soviel – und ich sehe, daß dann auch auf seinen Wangen ein Rot brennt, und das Rot steigt ihm in die Stirn, und dann sehe ich, daß er die Hand krampft, als schmerze ihn etwas. Und gestern – ach, Großväterchen! – gestern habe ich ihn gesehen im Schnee hinter der Stallwand. Da stand er und weinte. Großväterchen, o du mein liebes Großväterchen« – sie fiel vor dem Großvater nieder und umfaßte seine Knie –, »ich bitte dich, hilf ihm!«
Aber der Alte blieb hart: aufstehen sollte sie und sich schämen, was ging sie der an?! Hat denn ein Niemiec Barmherzigkeit mit den Polen? Nein, keiner von den Deutschen! Nicht der, der da hinterm Lysa Góra am See wohnt, der Oberteufel, der die Ciotka in den Rücken geschossen, den Schulkindern ihre Sprache geraubt und den Lehrer krank gemacht – und auch nicht der Ansiedlerssohn, der dreiste Knabe, der ein gut polnisches Herz gestohlen hat, daß es ihm gefolgt ist zum Altar.
»Tausend helle Blitze zucken, die Sensen sind schon geschliffen, sie, die da mähen das Hundeblut!« Mit rollenden Augen stand der Alte.
Der Enkelin grauste es: nein, so liebte sie den Großvater nicht. Wenn der betrunken gewesen wäre, dann wäre er noch zu begreifen – aber so?! Ach, er war ja grausam!
Mit einem Gefühl der Entfremdung schied sie von der Hütte; es war ihr, als wohnten gar nicht mehr die Ihren darin.
Raschen Schrittes eilte sie zur Ansiedlung zurück. Sie eilte sehr, aber ihr Herz flog ihr noch vorauf: die Frau würde ja schon auf sie warten, die Kinderlein ihr entgegeneilen. Würde nicht auch Walenty, der blasse Walenty, darauf harren, daß die Michalina ihm fegte in Stube und Küche?
Ach, und würde nicht, wenn die Sonne den Schnee vom Lysa Góra leckte und die Saaten grünten, alles wieder froh und glücklich werden?!