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Das Deutschauer Herrenhaus lag ganz still. Seine Läden waren geschlossen, man sah kein Licht mehr, nur am Hoftor flackerte trübe die Laterne; Frau Helene war noch nicht von der Fahrt nach der Eisenbahn zurück.
Der alte Hoppe hatte sich in seinem Stübchen im Seitenflügel schon zu Bett gelegt – warum sollte er noch so einsam aufsitzen? Morgen mußte er sowieso doppelt früh heraus, da der Baron in Berlin war und er allein für alles aufzukommen hatte. Nun, aufkommen würde er schon, hatte der Gutsherr sich doch in letzter Zeit sowieso nicht viel um die Wirtschaft gekümmert. Merkwürdig, wie zerstreut der Herr jetzt oft war, ganz wie abwesend! Seit der Geschichte mit dem Plakat an der Katarynka war er förmlich verstört. Wenn er nun erst gar wüßte, wie viele solcher Plakate sein Inspektor mit der Zeit gefunden hatte! Gewiß an die zwanzig. An dieser Scheune und an jener, am Stall, am Speicher, sogar an der Haustür, überall auf dem Gehöft. Und letzthin hatte es auch außen an der Hofmauer gestanden, mit großen Kreidebuchstaben, so recht jedermann sichtbar:
›Hakatist! Schwein! Schächer! Hundeblut!‹
Immer waren es die gemeinsten Schmähungen, und immer war es ungefähr derselbe Wortlaut. In der Tat, wenn das einer immer und immer wieder zu hören kriegte, konnte er schon närrisch darüber werden!
Der Inspektor, bereits im Begriff, sich niederzulegen, war noch einmal an seine Kommode gegangen. Dort verwahrte er in einem alten Zigarrenkästchen, in wohlverschlossenem Schub, die schmähenden Zettel. Jetzt sah er sie noch einmal durch: pfui, pfui, pfui! Aber dann kam ihm der Gedanke: wie mußte man die Seele eines Menschen erbittert haben, daß der solches schrieb?! Wer jener arme Kerl wohl sein mochte? Ein Mitleid überkam ihn mit diesem, fast mehr als mit dem Niemczycer. Aber – warum nachforschen? Der Niemczycer war zu hochmütig, um sich darum zu kümmern, und ihn, den Inspektor, was ging's ihn denn eigentlich an? Er tat genug, wenn er die Insulten am frühen Morgen auf seinem ersten Rundgang, wenn noch alles schlief, absammelte und seinem Herrn so den Ärger aus den Augen räumte. Was seit Generationen am Volke gesündigt ist, läßt sich nicht aus der Welt schaffen. Nun traf die Rache einen, der vielleicht besseren Willen hatte; aber gerade den traf's doppelt hart.
Der alte Inspektor schüttelte den Kopf, als er müde vom Tage in sein Bett kroch: im Grunde waren sich die Herren doch alle egal, da war nicht viel zu erhoffen! Eine neue Generation mußte erst kommen, um ein Volk zu erziehen, das jetzt noch wie ein kleines Kind in Windeln war.
»Unser Vater im Himmel«, murmelte der alte Mann und faltete die arbeitsharten Hände über der Brust, »der du deine Sonne scheinen läßt oben auf den Lysa Góra und ebensogut unten auf das Luch im Feld, willst du uns nicht einen schicken, der da weiß, wie man säen muß, um Frieden zu ernten? Amen.«
Mit diesem schlief er ein. Er hatte schon ganz fest geschlafen, als ihn ein Schrei weckte. Ein johlender Schrei war's, wie er schon einmal hier erklungen war am Abend des Erntefestes – ein trunkenes Grölen sinnloser Freude.
Aus dem Pociechaer Krug hatte sich eine Schar aufgemacht. Es war ihnen zu langweilig geworden, zusammenzusitzen ohne Tanz und Gesang.
Mit Johlen und Pfeifen strömten sie aus der Schenke und trieben sich draußen herum. Dicht an der Propstei trabten sie vorüber – wollten sie etwa wieder hin zum Lehrer Ruda? O nein, der war ja jetzt brav! So machten sie wieder kehrt. Noch einmal ging's an der Propstei vorbei mit Lachen und Geschrei und mit Pfiffen, die durchs Dunkel stiegen wie Alarmsignale.
Wo wollten sie denn hin? Das wußten sie selber nicht. Nach Hause natürlich nicht; da gab's kalte Stuben und kein Fleisch im Topf. Jetzt war's freilich noch Fastenzeit, aber zu Ostern würde auch kein Fleisch da sein, und das behagte ihnen schon lange nicht.
» Psia krew!« Sie ballten die Fäuste. Wohin mit dem Ärger! Wohin denn nur?
Fern schimmerten die Lichtchen von Pociecha-Ansiedlung. Ein Stern flimmerte heller als die andern. He, da war ja auch ein Krug! Den mußte man mal probieren. Und wenn etwa die Schwabby sich breit darin gemacht haben sollten: »Schmeißt sie 'raus, die nichts drin zu suchen haben!«
In hellen Haufen zog man zum deutschen Krug.
Dort saßen in der Tat einige Ansiedler; da die Wirtsstube heute leergeblieben war, hatten sie sich an dem großen Tisch in der Mitte niedergelassen, über den die schaukelnde Hängelampe das hellste Licht warf.
Aber Frelikowski, der Förster, saß bei ihnen. Da wagten die Dörfler keinen Streit anzufangen, sondern sie forderten nur ungestüm vom schweigsamen jungen Wirt einen ›Sznaps‹, gossen den hinunter und trabten dann wieder auf die Straße.
Heftig gestikulierend, mit Fäusteschwingen standen sie noch ein Weilchen draußen. Friedlich lagen die Häuschen unterm schwach besternten Himmel, kein Ansiedler zeigte sich, wohl aber trat der Förster, wie nach dem Himmel spähend, einen Augenblick unter die Krugtür. Da zogen sie ab, knurrend zwar, aber sie zogen doch: was sollte man denn hier krakeelen? Arme Kerle waren die Ansiedler auch, die sich quälen mußten um ihr Stückchen Brot. ›Betrogen sind sie, wie wir betrogen werden, psia krew, laßt sie leben, die Schwabby!‹
In der ungeheuren Nachtweite, durch die sie zogen, blinkte ab und zu ein Sternchen auf, und Hundegebell hörte man von ferne, wie Wolfsgekläff in einsamer Wüste. Das waren Zeichen der Herrenhöfe, von denen selber man nichts sah, die versunken lagen flach in der Fläche. Aber der Lysa Góra tauchte jetzt auf und reckte seine Stangenkiefer wie einen Galgen, dräuend, herausfordernd. Da fingen die Trunknen an, laut zu grölen:
»Nach Niemczyce! Laßt uns dem Hundeblut, dem Hundesohn, dem nichtsnutzigen Hakatisten, das Dach überm Kopfe anstecken!«
Die Schritte, die eben noch so unsicher umhergetappt hatten, richteten sich plötzlich zielbewußter. Nun wußte man, was man wollte. Hatte nicht der Herr Vikar gerade auf den Niemczycer gezielt, als er das letzte Mal in der Sonntagspredigt von dem Wolfe gesprochen, der in Schafskleidern einhergeht und sich wählen lassen möchte, um beim deutschen König das Land zu vertreten? Ei, das wäre – der?! Da wäre man nicht vertreten, verloren wäre man da!
»Schlagt ihn tot!« heulte einer. Und zehn andre griffen den Ruf auf: »Schlagt ihn tot, schlagt ihn tot!«
Sie fingen an zu laufen. He, dem drohenden Berg da auf den Kopf gespuckt! Nach Niemczyce hinunter ging die Jagd.
Ahnungslos träumte der See, und das Haus schlief auch.
Das Hoftor stand offen, die Laterne zeigte den Weg. Schon waren sie im Hofe, schon vor dem Hause, als ihr Schrei des Triumphs sie ankündigte.
Nun hatten sie ihn sicher, den deutschen Spion, den Verräter, den Polenfeind.
Ein Reißen an der Klingel, und dann ein donnernder Faustschlag, vom Vordersten mit aller Gewalt gegen die Tür geschmettert, weckten ein dröhnendes Echo im stillen Haus.
»Pst, nicht so laut!« Häusler Jezierski, der Hausbewohner von Lehrer Ruda, er, der die neun Kinder hatte, und dessen Weib das zehnte erwartete, hielt seinem Vordermann beim zweiten Ausholen die Faust fest: »Bruder, nicht gar so gewaltig, ein Weib schläft darinnen und kleine Kinderlein!«
»Daß dich der Donnerstein erschlage!« schrie der also Gestörte. Aber der zweite Schlag war nun doch wenigstens ein Klopfen zu nennen. »He, aufgemacht, wir wollen den Niemczycer sprechen! He, he! Antwort, ist der Herr zu Haus?«
Das Fenster oben im ersten Stockwerk, das gerade über der Tür gelegen war, klirrte leise.
»Der Herr ist nicht zu Haus!« antwortete eine helle Stimme von oben herab.
»Wo ist er denn?«
»Nach Berlin gefahren.«
»Wir glauben es nicht! He, aufmachen soll er! Aufmachen soll er! Auf den Hof kommen soll er! Der Feigling, der Schächer, das Schwein! He, he, he, aufgemacht! Möge dich der Blitz zerschmettern! Daß dich der Donner erschlage! Mögen dich hundert helle Blitze treffen! Möge dich der schweflige Blitz anstecken! Niemczycer, komm heraus!«
Die Tür ächzte unter den Fausthieben; unter Fußtritten erzitterte sie.
»He, Niemiec, Deutscher, du Hundeblut!«
Der aus tiefem Schlummer geschreckte Inspektor hatte nicht rasch genug ans Fenster kommen können; schlaftrunken taumelnd riß er es auf: was ging da vor am Hauptbau? Träumte er noch, tobte da nicht eine Bande? Betrunkene? Was wollten die?
Er schrie ihnen zu, sie hörten ihn nicht.
»Niemczycer, Spion, Verräter, verfluchter Niemiec!«
Ein Steinwurf mußte eine Scheibe getroffen haben, Scherben klirrten. Das waren die dicken Milchglasscheiben der Haustür.
»Leute, seid ihr des Teufels?« Der Inspektor war in die Kleider gekommen, er wußte nicht wie; die steile Stiege des Seitenflügels stolperte er im Dunklen hinunter, seine alten Füße wollten ihn kaum so rasch tragen.
Jetzt war er am Platze: »Leute, Leute!« Er drängte sich zwischen den Haufen, es gelang ihm, die Freitreppe zu gewinnen. Die Arme hob er beschwörend: »Leute, was fällt euch ein? Ruhe! Was wollt ihr denn vom Herrn? Der Herr ist nicht zu Haus!«
»Glauben wir nicht! Der Niemczycer soll kommen, hierher, zur Stelle! Niederschlagen werden wir den Herrn wie einen Hund! Wie einen Hund, den Herrn! Hierher, hierher!«
Sie stampften mit den Füßen. Durchs Dunkel, das schwacher Laternenschein mühselig durchzitterte, blitzten ihre Augen wie Augen von Raubtieren, die lange hinter Eisenstäben gesessen haben. Ihr Atem dünstete Alkoholgeruch aus. Aber sie waren noch nicht völlig betrunken, noch nicht in der Trunkenheit, in der der Geist schon schläft und der Körper sich willenlos schieben läßt.
Hoppe sah's mit Schrecken: die hier waren gefährlich! Was tun? Wo steckten denn die Knechte? Ließen sich die denn nicht sehen zum Beistand? Drüben, ganz nah, schliefen doch die Knechte in den Pferdeställen?!
»Fornal, Fornal!« Keiner kam.
Und wohnte dort bei der Schmiede nicht der deutsche Stellmacher Krauz?
»Krauz, Krauz!« Er schrie.
»Halte dein Maul, du Kaldaunenfresser!« Ein harter Schlag traf seinen Mund.
Um Gottes willen, wenn die hier das Haus demolierten! Wenn sie nur die Fenster einschlugen und die Kinder entsetzten, das war schon des Unheils genug. Die Knaben waren allein zu Hause, die Herrschaft abwesend!
Mit ausgebreiteten Armen sprang der alte Mann vor die bedrohte Tür.
»Leute, Leute, macht euch nicht unglücklich!« Er rief es flehentlich.
Sie lachten schallend.
Erregt streckte er ihnen abwehrend die Arme entgegen: »Schert euch vom Hof, dalli!«
Ein derber Hieb auf seine ausgebreiteten Arme belehrte ihn, daß der Kommandoton heute gar nicht am Platze sei.
»Scher du dich! Geh zum Teufel!«
Wie eine Welle drängte es gegen ihn an. Für einen Augenblick sah er sich ganz umgeben von drohenden Fäusten; er fühlte sich von der Freitreppe heruntergezerrt – er verlor den Boden unter den Füßen – jetzt, ein Lupfen, ein Schwung – weit lag er, zur Seite geschleudert, unten auf dem Pflaster.
Da stieß er einen langgezogenen Schrei aus, der das rauhe Geschwirr der tobenden, jauchzenden, schimpfenden, lachenden, fluchenden Stimmen, das laute Getrampel der vielen stampfenden, wie besessen springenden und hüpfenden Beine übertönte:
»Zu Hilfe!«
Er versuchte, sich aufzuraffen. Um Gottes willen, die Kinder, die Kinder! Alle Glieder schmerzten ihn, sie waren ihm wie zerbrochen; es gelang ihm, einen Ellbogen aufzustemmen, aber seine Beine versagten, er kam noch nicht auf die Füße. Einen angstvoll spähenden Blick sandte er umher – nichts, nur die Nacht! Niemand kam! Als seien die Knechte gestorben!
Verzweifelt rang er, aber halb aufgerichtet mußte er am Boden bleiben. Über ihn weg sprangen die Rasenden, er fühlte ihre Tritte auf seinen Händen. Alle stürmten jetzt die Freitreppe hinan. Die Tür krachte.
Die Kinder, um Gottes willen, die Kinder! »Zu Hilfe, zu Hilfe!«
Da öffnete sich die Tür.
Ein breiter Lichtschein fiel heraus auf den Hof.
Sie johlten alle jubelnd auf.
Das schrumplige, angstverzerrte Gesicht und die zitternde Gestalt der alten Pelasia zeigten sich; sie hielt eine Lampe, aber sie zitterte so, daß diese fast ihrer Hand entfiel.
Was? Herr des Himmels, steh uns bei, war dieses Weib denn ganz verrückt? Ächzend rutschte der Inspektor auf allen vieren ein Stückchen näher heran. Statt die Kinder zu verstecken oder mit ihnen herauszuklettern über die Veranda und hintenherum in den Park zu flüchten, statt dessen kam diese blödsinnige Alte und – da – da –!
Die Augen drangen Hoppe fast aus dem Kopf.
Da stand der Junge, Doleschals Ältester, der Hanns-Martin, auf der Schwelle und sah ganz unerschrocken die Bande an.
Es war ganz still geworden.
»Papa ist nicht zu Haus«, sagte der Knabe mit seiner hellen Stimme; man hörte sie deutlich bis in den fernsten Winkel. Und man sah auch die kleine Gestalt ganz deutlich von überall. Vornehin, auf die oberste Treppenstufe, war er jetzt getreten, nur mit Nachthemd und Unterhöschen bekleidet; der Zugwind fuhr in die blonden Haare und wehte sie empor über der freien Knabenstirn. Im zitternden Schein von Pelasias Lampe sah man klar das frische Gesicht.
»Schlagt die Brut tot, schlagt sie tot«, heulte einer auf. Aber der Ruf wurde nicht wiederholt.
»Warum wollt ihr uns was tun?« sagte der Junge. »Wir haben euch ja auch nichts getan!«
»Doch, jawohl, schlagt ihn tot, den Hundesohn!«
»Nein, psia krew, laßt den Bengel in Frieden!«
»Laßt uns das Hündchen hängen ans Scheunentor! Nagelt es an durch Hände und Füße!«
»Reißt ihm die Kaldaunen aus dem Bauche, dem Herrensohn!«
»Was fällt euch ein? Sünde wäre das. Wollt ihr ins Fegefeuer kommen?«
»Sünde?! Fegefeuer?! He, ihr seid wohl toll?! Gott der Herr wird sich freuen, wenn er vom Himmel schaut und sieht das!«
»Wir leiden es nicht!«
»Aber wir!«
»Nein, niemals!«
Zankend schrien die Stimmen untereinander.
»Fürchte dich nicht, kleines Herrchen«, sagte Häusler Jezierski und bemühte sich, deutsch zu sprechen. »Hab ich Kinderlein zu Hause – dürfen sie dir nicks tun, sag ich!«
Für Momente hatte es um den Kindermund gezuckt wie von nahendem Weinen. Die Wimpern hatten geblinzelt, die Augen wollten sich zupressen angesichts der drohenden Gefahr. Nicht alles hatte Hanns-Martin verstanden, doch immerhin genug; er sah die wild erhitzten Gesichter und die Arme, die sich nach ihm ausstreckten, und eine Angst wollte ihn beschleichen.
Aber nun, da er eine gutmütige Stimme hörte, lächelte er tapfer. Vertrauend faßte er die Hand des fremden Mannes: »Sie werden nicht leiden, daß man uns was tut, meinen Brüdern und mir, nicht wahr? Mein Vater wird Ihnen Geld dafür geben, aber ich werde Ihnen die schönen bunten Ostereier geben, die er mir mitbringt. Und meine Brüder sollen Ihnen auch von ihren Ostereiern geben für Ihre Kinder. Bitte, sagen Sie den Leuten doch, daß die nach Hause gehen!«
Drinnen im Flur ertönte jetzt ein jämmerliches Gekreisch. Die kleineren Doleschals wollten ihrem ältesten Bruder nach; vergebens versuchten Pelasia und die jetzt auch zum Vorschein kommende, vor Furcht ganz fassungslose Gouvernante, sie zu halten.
»Höre«, sagte Hanns-Martin, »wie sie weinen! Die haben Angst. Ich habe keine Angst.«
Er reckte sich auf den Zehen und warf den Kopf in den Nacken.
»Brauchst auch keine Angst zu haben, Herrensohn!«
Irgend jemand sagte es, und ehe der Knabe sich's versah, hatte ihn sein Freund, der ein breitschultriger und stattlicher Mann war, emporgehoben. Hanns-Martin strampelte mit den Beinen: nein, auf den Arm wie ein kleines Kind wollte er nicht! Aber es half ihm nichts, auf die Schulter mußte er.
»Kleines Herrchen, sage du ihnen, und sie werden gehen! Sage du ihnen, daß du geben wirst deine bunten Ostereier, und sie werden dir danken.«
Der Knabe besann sich nicht lange, fühlte er sich nun doch viel sicherer hoch oben auf der breiten Schulter. Vergnügt lachte er, ein wenig ängstlich und doch stolz zugleich, wie einer, der zum erstenmal ein feuriges Roß unter sich fühlt.
»Geht nach Hause!« rief er keck. »Meine kleinen Brüder sind müde, wir möchten gern ruhig schlafen. Ich gebe euch auch die bunten Ostereier, die ich kriege – ja, ja!« Er nickte eifrig, als er in die Gesichter sah, die ihn ungläubig anstarrten, und legte dann, ganz ernsthaft, die Kinderhand aufs Herz. Mit einem Ausdruck über seine Jahre sagte er:
»Was ich versprochen habe, halt' ich auch. Ihr kriegt sie – auf Ehre!«
Es war so still gewesen bei den Worten des Knaben, daß der Inspektor einen neuen, noch heftigeren Ausbruch von Wut fürchtete; unheimlich dünkte ihn diese Stille. Mit einer gewaltigen Anstrengung gelang es ihm jetzt, auf die Knie zu kommen; jetzt setzte er den ersten Tritt auf die Erde – hin, hin um jeden Preis, sich hinstellen vor den tapferen Jungen und ihn schützen! Wenn sie dem was tun würden, dann –
Er erschrak fast. Ein Gelächter war plötzlich losgebrochen. So einmütig aus allen Kehlen kam es und so überraschend, daß es ihn förmlich packte.
Er taumelte und sank wieder auf die Knie. Wie im Traum hörte er sie alle untereinander schreien.
»Was, was sagt das Herrchen?!«
»Bunte Ostereier will er uns schenken, sagt er!«
»Guter paniczek!«
»Ostereier will er uns schenken, das Bürschchen! Seine Ostereier, die er geschenkt kriegt. Daß die heilige Mutter ihn segne!«
Wie vorhin, so drängte auch jetzt die Rotte gegen die Freitreppe an. Wie vorhin, so blitzten auch jetzt die Augen, wie vorhin, so streckten sich auch jetzt die Hände aus. Aber Inspektor Hoppe konnte ruhig auf den Knien liegenbleiben und starren und starren mit weit geöffneten, erstaunten Augen. Diese Hände da, diese heftig gestikulierenden, sich reckenden Arme, wollten jetzt den Herrensohn nicht mehr herunterreißen, sein Blut nicht mehr vergießen am Scheunentor.
»Kleiner paniczek! Lieber paniczek! Goldener paniczek!« Ein Durcheinander von Zärtlichkeiten schwirrte zur Schwelle des Herrenhauses empor.
»Die heilige Dreieinigkeit soll ihn hüten!«
»Daß er gesegnet sei mit goldenen Ähren und langen Jahren!«
»Daß er groß wachse wie ein Baum und Schatten gebe!«
»Daß er lebe: hoch!«
Jezierski hatte das geschrien und sich hochgereckt unter der leichten Last, die seine starken Schultern nicht spürten. Den Hut vom Kopf reißend, schwenkte er ihn mit gellendem Jauchzen. Und gellendes Jauchzen gesellte sich dem seinen.
Weithin tönte es durch die Nacht, ein Jauchzen, das Kraft hatte, Tote zu erwecken. Über den Hof, übers Herrenhaus hinweg, über den See hörte das der Lysa Góra.
»Der junge gnädige Herr soll leben! Er lebe hoch! Hoch! Hoch!«
Jetzt knarrten die Stalltüren, jetzt ließen die Knechte sich sehen, und auch des Stellmachers Stimme wurde laut aus der Schmiede:
»Holla, was ist denn da los?«
Nun bedurfte man dieser Hilfe nicht mehr.
Des Inspektors Augen wurden starrer und starrer, er wußte nicht, wie ihm geschah. Sah er denn recht: das deutsche Kind hoch auf polnischen Schultern?! Und schwielige Männerhände, hart wie Eisen vom Lenken des Pfluges, vom Führen der Sense, reckten sich liebkosend nach der weichen Kinderhand.
Ein Schauer überlief den alten Mann. Eine Erregung schüttelte ihn so mächtig, daß er aufschluchzte. Nebel legten sich vor seinen Blick, die Tränen liefen ihm übers Gesicht. –
Als Inspektor Hoppe wieder seiner selbst mächtig war, zog die Rotte eben zum Tor hinaus.
Horch, wie Donner rollte es vom Lysa Góra! Nein, das Gewitter war abgezogen, es waren nur die Räder einer Kutsche, die auf dem Fahrweg längs des Sees holperten. Frau von Doleschal kam zurück.
Besorgt eilte Hoppe auf die Straße hinaus: die Trunkenen würden doch der Heimkehrenden keinen Krawall machen?
Dreist genug hatten die Männer in den Wagen gestiert, aber als sie die Darinsitzende erkannt hatten, waren sie zur Seite getreten und hatten die Hüte gezogen: » Padam do nóg!«
Es war die Mutter des gnädigen jungen Herrn, die grüßten sie ehrerbietig.
Still lag bald wieder das Herrenhaus von Deutschau unterm matt gestirnten Himmel. Wie ein Schatten schwand jetzt auch der Lysa Góra. In einem großen Frieden schliefen die nächtigen Äcker. Die Lichtchen der Ansiedlung, die weithin geblinzelt hatten, blinzelten nicht mehr; selbst die Tierstimmen von den Herrenhöfen, die versunken lagen, flach in der Fläche, schwiegen nun.
Aber die Rotte rastete noch nicht, die zog weiter. Sie alle hatten etwas in ihren Adern, das floß wie Feuer, das ließ ihnen keine Ruhe.
Erst toblustig, dann voller Zärtlichkeit, jetzt wieder zerstörungswütig. Die Milchglasscheiben in der Herrenhaustür hatten so lustig geflirrt, als sie aufs Pflaster prasselten – hei, mehr, mehr so! Das war eine Musik, anfeuernd wie der Krakowiak – immer toller, toller, toller – immer wilder, wilder, wilder. Das kleine Herrchen im weißen Hemdchen, mit den nackten Beinchen in den kleinen Schuhen, schlief jetzt wohl in seinem Bettchen. Und fest schlief es, man würde es nicht stören, denn nun war man ja schon weit von ihm.
» Psia krew, was werde ich nach Hause gehen, wo die Kinder schreien und mein Weib schilt!« schrie Häusler Jezierski und zog den Gurt fester um die heruntergerutschte Hose.
Sie drückten sich alle die runden Hüte fester auf die straffhaarigen Köpfe. Der Wind ging lau, die Nacht war lind, recht dazu angetan, draußen verbracht zu werden. Was hat denn der Bauer anders als die Freiheit in der Nacht? Ist er nicht immer leibeigen dem Acker? Am Tage, ja, da muß er ihm dienen, dienen, dienen. Aber jetzt läuft er keck über ihn weg und zertrampelt die junge Saat – wer will's dem freien Mann wehren? Jetzt rennt er dem Herrn übers bestellte Feld, spuckt rechts und spuckt links, tritt hin, wo er will, und schert sich nicht an Grenzgräben und Grenzsteine, recht wie ein Herr selber. Der Flurwächter schläft, und der deutsche Gendarm, den Gott verdammen möge, ist heute wohl noch nicht daheim in Miasteczko, dem Städtchen; der Gendarm ist noch beim Ablaß, hat noch, wie der Teckel vorm Dachsbau, bei der kleinen Kapelle Posto gefaßt und kläfft wachsam. Ei, daß der wache bis morgen früh!
»Huch, hoho, huch, hoho!«
Hin wie die wilde Jagd geht's über die Äcker quer weg. Einer, der keinen Braten im Bauch hat, nicht mal ein Stück Kochfleisch, der kann schon rennen. Ja, die Kaldaunenschlucker, die Fleischfresser, die sich vollmästen an andrer Leute Fett, die können nicht nachsetzen. Ei, das wäre ein Spaß, denen die Fenster einzuschmeißen – warum hatten die denn satt?!
Weit dort drüben, hinter Pociecha-Dorf noch weit, lag die Ablaßkapelle; wenn der Gendarm dort lange genug gelauert haben würde, keine Laus mehr zum Ablaß kam, dann würde er in den Krug zum »Eiweih« stolpern und hinterm Schnauzbart brummen: ›Getanzt wird nicht zur Fastenzeit. Wo sind die Spektakler?!‹
Such sie, such sie doch! Sie sind nicht im Krug, sie sind nicht im Dorf, sie sind, wo du nicht bist! Sie sind lustig:
»Es lebe Polen!«
Mit lautem Zuruf feuerten sie sich an. Um sich in der tiefen Dunkelheit nicht zu verlieren, hatten sie sich an den Händen gefaßt; Mann bei Mann, so bildeten sie eine feste Kette. Mitunter strauchelte einer, fiel hin, tat sich weh, hatte nun des Rennens genug und wäre ganz gern nach Hause umgekehrt, aber die andern rissen ihn mit.
Es war ein Spiel, wie ein Ringelreigen; aber Ernst war im Spiel. Furmaniak, der Maurer, fluchte plötzlich laut auf und unterdrückte dabei einen Schmerzensruf. In ein Tellereisen war er geraten, der Schnepper quetschte ihm fast den Fuß ab. Verflucht, war man etwa schon gar in den Gärten der Miasteczkoer? Also so verwahrten die sich! Welch eine Gemeinheit! Ein Bubenstück war's, jetzt, wo's in den Gärten noch keine Pflaume, keine Gurke, gar nichts zu holen gab, Tellereisen zu legen.
Mit Mühe befreiten die andern den Genossen.
Jetzt kam der Mond hinterm Gewölk hervorspaziert; aber nur wie ein Schläfriger schob er mit zwei Fingern ein wenig den Vorhang der Wolken beiseite und lugte mal dahinter hervor. Jetzt ward's schon wieder dunkel. Aber sie hatten doch genug gesehen, nun wußten sie genau, wo sie zu gehen hatten. Da, weiter vorwärts, lag der See von Miasteczko. Wenn man den Finger naß machte und dann emporhielt, fühlte man, woher der Seewind kam; und neigte man das Ohr nach derselben Richtung, so hörte man in der Stille des schlafenden Städtchens die Wellen leise glucksen am sandigen Uferzipfel.
Hier führte der Weg. Einer ging hinter dem andern, leise traten sie auf, wie Diebe.
Unter den Füßen fühlten sie jetzt Pflaster; ein Brunnen rauschte – das war der Brunnen des heiligen Nepomuk mitten auf dem viereckigen Markt, den die Häuser von Miasteczko umstehen. Nur wie dunkle Klumpen zeigten die sich.
He, die Faulenzer drin schliefen wohl schon? Warum sollten die auch wachen? Die hatten ja den Bauch voll, und die wähnten sich ja so sicher, hatten sie doch Tellereisen gelegt. Aber warte, das sollte ihnen heimgezahlt werden!
Dem Furmaniak tat der Fuß erbärmlich weh, leise fluchend hinkte er. Schon bückte er sich, einen losgebröckelten Pflasterstein, über den er gestolpert war, zur Seite zu schleudern, da flüsterte sein Nebenmann ihm eifrig zu: »Schmeiße du, schmeiße du zuerst, dann werde auch ich schmeißen!«
He! Sie stutzten. Ein Lichtlein war plötzlich aufgeglommen – dort – im Hause neben der Bäckerei und Gastwirtschaft von Isak Prochownik, die heute ausnahmsweise keinen Lampenschimmer mehr zeigte hinter geschlossenen Läden.
»He, Brüder, seht, da!« Sie machten sich gegenseitig aufmerksam.
Brannte das Licht nicht im Hause des Löb Scheftel? Ei, der Halunke, der Jude, der saß natürlich noch auf, während alle Christenmenschen schliefen, und zählte sein Geld. Daß er in die unterste Hölle fahre! Alle Christenmenschen, die Übles getan haben, schickt Gott ins Fegefeuer zur Strafe, aber der Jude ist auch dafür zu schlecht, den muß man schon hier auf Erden strafen.
»Gebt ihm Prügel zu kosten, daß er nicht sitzen kann auf seinem Wägelchen drei Tage, daß er nicht ziehen kann auf den Schacher und uns betrügen!«
»Er hat meiner Anusia zwei Groschen zuviel abgefordert für das Pfund Speck zum Backen in Brotteig«, raunte einer.
Und Furmaniak mit dem gequetschten Fuß hetzte: »So wird dein Weib nicht backen können, natürlich nicht. Und meines auch nicht, denn ich werde zum Doktor müssen, daß er mir heilt den Fuß. So werde ich gar kein Geld übrig haben, Fleisch zu kaufen!«
Der Haufen murrte: kein Fleisch zu Ostern, nachdem man so lange gefastet hatte? Das wäre! Nein, Fleisch mußte man haben!
»Es ist so teuer«, seufzte Jezierski, »meine Kinder werden bald nicht mehr wissen, wie Fleisch schmeckt. Wie können neun Kinder Fleisch essen, wenn der Jude so teuer ist?«
»Schlagt ihn tot, den Juden«, brüllte Furmaniak, den der Schmerz peinigte.
Sie hielten ihm den Mund zu: »Pst, nicht so laut!« Aber recht hatte der Furmaniak, ja, ja!
»Laßt uns dem Juden tun, wie er Jesus Christus getan hat! Es ist schon lange her, aber die Gotteswunden bluten frisch, naht die heilige Karwoche.«
»So ist es.« Sie bekreuzten sich alle: »Jesus Christus, Sohn der Maria, um deiner heiligen Wunden willen!«
Mit funkelnden Augen drängten sie dem bescheidenen, wie ängstlich zitternden Lichtlein näher.
Die reine Nachtluft hatte sie nicht ernüchtert, im Gegenteil, die Freiheit der Felder hatte sie noch mehr berauscht, der Lauf übers Unbegrenzte das Blut noch rascher durch ihre Adern getrieben.
Der Jude, der gottverfluchte Jude! War's nicht eine Schweinerei, daß ein Jude Fleisch verkaufen durfte? Wer konnte sagen, ob es auch wirklich Fleisch vom geschlachteten Tier war, was er verkaufte? Pfui, wie das auf einmal hier stank!
Sie hoben witternd die stumpfen Nasen. Ein Dunst war plötzlich gekommen. Widerlich brenzlig und ekelhaft zog ein Geruch von der Abdeckerei her, die nicht fern hinter Löb Scheftels Haus am Rande des anstoßenden Feldes lag. Hier hatte der Schinder gestern einen alten Gaul abgeledert und dessen Fell auf Stangen zum Trocknen ausgespannt; nun stöberte der Nachtwind darin und trieb, als er sich jetzt stärker aufmachte, den Gestank bis auf den Marktplatz hinein.
»Wie das stinkt, wie das stinkt«, flüsterte Jezierski schaudernd. »Gott soll mich strafen, wenn das nicht Kinderfleisch ist, was da geräuchert wird!«
Ein Grausen rüttelte die Gemüter. Erregt stieß einer den andern an: »Bruder, he, hast du nicht gehört, daß Juden Kinder schlachten?«
Gewiß, man hatte es gehört. Und wenn der Löb Scheftel nun vielleicht auch kein Kind geschlachtet hatte, viel zu teuer war er doch mit dem Fleisch.
Ein Dutzend Stimmen heulten plötzlich laut auf:
»Schlagt ihn tot, schlagt die Juden tot. Jesus Christus haben sie geschlachtet! Kinder haben sie geschlachtet! Kälber und Lämmer haben sie geschlachtet, aber wir bekommen nichts davon!«
Die Bürger, von dem Geheul aus dem Schlafe geschreckt, zogen die Bettdecken höher über die Ohren: ei, Betrunkene, nichts Neues waren die. Ablaßtag war's – man mußte sie lärmen lassen.
Der Nachtwächter mit Signalpfeife und Spieß drückte sich fester in die Nische der Kirche, wo er zu schlafen pflegte: Betrunkene, denen ging er gern aus dem Weg.
»Gott soll hüten, haben die geschickert«, sagte auch Löb Scheftel. Er, der nun, da sein Isidor ihn nicht mehr unterstützte, oft bis in die Nacht zu schaffen hatte, war eben noch im Keller bei seinem Fleisch gewesen. Jetzt war er mit dem Lämpchen nach oben gekommen ins Lädchen und hatte sich noch hingesetzt, Kasse zu machen, während sein Weib und Röschen, seine Tochter, hinten heraus in der dunklen Kammer schon schnarchten. Bekümmert sein spitzbärtiges Kinn in die Linke stützend, während die Rechte die Feder hielt, rechnete er. Es war nicht allzuviel an Gewinn einzutragen ins Hauptbuch.
»Gott der Gerechte, teure Zeiten, schlechte Zeiten!«
Er seufzte und kratzte sich mit der Feder auf dem Kopf. Wenn die Herren Besitzer weiter solche Preise fürs Rindvieh machten, wie sollte man da bestehen? Von den Schweinen gar nicht zu reden. Und die Grenze gegen Rußland war gesperrt, kein Schweinchen kriegte man mehr 'rüber; und keine Speckseite von Amerika, keine Tonne Schmalz war mehr erlaubt. Nun fehlte bloß noch, daß der Sommer den Rotlauf brachte oder die Sperre fürs Rindvieh wegen Maul- und Klauenseuche, dann war's aus, dann konnte man hier gehen mechulle, bei Gott, wie der Isidor es prophezeit hatte.
»Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs!« Der alternde Händler legte die Feder hin und schraubte das Lämpchen ein wenig höher. Aber wie er auch schraubte und rückte, es wurde nicht lichter um ihn. »Gott meiner Väter, hast du denn ganz vergessen dein auserwähltes Volk? Wirst du uns nicht schicken den Messias, wie du uns hast doch verheißen? 's wär' an der Zeit. Teurer wird's von Tag zu Tag, aber bei Gott dem Allmächtigen, ich will nich leben und gesund sein, wenn ich mache 'n Geschäft hier – –«
Er stockte. Mitten im betrübten Kopfschütteln erstarrte er plötzlich; den Kopf ein wenig auf die Schulter geneigt, blieb er steif sitzen. Denn draußen vor seinem Ladenfenster – so dicht, als tutete es ihm in die Ohren – erklang ein: ›Hepp, hepp!‹
Das galt ihm! ›Hepp, Hepp‹ – wer hier hätte das nicht schon gehört?!
Die Erstarrung wich von Löb Scheftel. Sein Kassabuch hinter den Ladentisch schleudernd und sich selbst hinter den großen Hauklotz flüchtend, auf dem das schwere Fleischbeil blitzte, stand er mit vorgequollenen Augen, das verfettete Lederbeutelchen, mit dem er stets auf den Handel zog, fest an die Brust gedrückt.
Draußen tappten viele Schritte. Eine Faust pochte derb an den vorgelegten Fensterladen; eine Hand legte sich auf die Klinke der Haustür und rüttelte daran.
Einen wilden, verängstigten Blick warf der Jude um sich: weh geschrien, die Läden waren nur von Holz und nicht von Eisen! Die hielten nicht lange dem Rütteln stand, und die Tür auch nicht. Wo blieb der Gendarm, wo der Nachtwächter mit seinem Spieß?
»Jude, Spitzbube, Gauner, wir wollen dich lehren, das Fleisch so teuer machen!« Unter der Wucht eines sich dagegen werfenden Körpers erzitterte die Tür und das ganze winzige Häuschen. Von Steinen – oder waren es Fäuste? – wie mit Hämmern bearbeitet, ächzte der Fensterladen. Krach, schon barst ein Spalt, und die Stange, die von innen vorgelegt war, fiel aus ihrer Klammer.
Zu Hilfe, zu Hilfe! Wo blieben die, die den Bürger schützen sollten?! Die entsetzten Augen des Juden rollten: weh, die kamen nicht!
»Jude, Spitzbube, Gauner! Du Gottesmörder!«
Da hörte Löb Scheftel weiter nichts mehr. Die schlotternden Füße in verzweifelter Anstrengung zur Eile zwingend, sprang er in die Kammer, schob den Nachtriegel vor, schrie den erschrocken auffahrenden Weibern zu: »Lauft, lauft, die Gojim kommen«, und setzte zum Hinterfensterchen hinaus, daß die Blumentöpfe, die Röschen dort pflegte, in Scherben klirrten. Blindlings rannte er davon, wie das Wild auf der Jagd, sinnlos, atemlos, ein gehetztes Tier.
»Hepp, hepp!«
Er warf die Hacken fast bis an die Ohren auf eiliger Flucht; die Pantoffeln flogen ihm ab, er ließ sie fliegen, auf Socken rannte er in die Nacht hinaus.
Nun war er schon weit. Er hörte nicht mehr das schreckliche Pochen an seiner Tür, auch nicht das Pochen an der Gastwirtschaft des Prochownik nebenan, auch das nicht am Warenhaus bei seinem Schwiegersohn Leiser Hirsch, auch das nicht bei Gedulat Veigel, bei Joël Pascheles, bei Abraham Schaul, und wie sie alle hießen. Er hörte aber immer noch das ›Hepp, hepp‹ – das würde er hören bis an das Ende seiner Tage.
Vom Laufen erschöpft, von Furcht übermannt, sank Löb Scheftel nieder. Hier war die Abdeckerei. Einsam lag das dunkle Häuschen, ein wenig von den andern abgerückt.
Aber er traute sich doch nicht zu klopfen: weh geschrien, jetzt nur nicht unter eines Christen Dach! Da kroch er lieber unter die Pferdehaut, die seitwärts am Giebel auf Stangen trocknete. Er kroch auf allen vieren darunter und machte sich ganz klein. Hier würden sie ihn nicht finden, die Gojim, und wenn sie ihn suchten die ganze Nacht und tagelang. Hier würde er liegenbleiben, bis die gefährlichste Zeit vorüber war und bis das Fleisch billiger wurde nach dem Fest.