Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Einundzwanzigstes Kapitel

Noch eine andre dachte an Abschied – das war die braune Michalina. Oft ging sie um den Sohn ihres Dienstherrn herum und sah ihn an mit bangen Augen. Was fehlte ihm? Seit dem Tage des Ablaß war's ganz schlimm mit dem Walenty geworden, so schlimm, daß sie oft dachte: ob er wohl sterben muß? Heilige Mutter, war er verhext? Hatte die Mora ihn nachts gedrückt? Wenn er doch erwachen möchte und die Böse festhalten in der Nacht! Michalina wußte ein Mittel. Es war einmal ein Mann gewesen, unweit von Pociecha-Dorf, den hatte auch die Mora gedrückt, so daß er zusehends verfiel, gerade wie der Walenty. Aber eine treue Seele wachte über ihm, und die sah, daß, als der Mann schlief, ein schönbackiger Apfel sich über seine Bettdecke kullerte. Weich und zart war der Apfel, wie aus Wachs gebosselt, recht zum Anbeißen – da rief sie so laut wie sie konnte: »Helfe dir Gott!« Und der Mann erwachte, und als er den schönbackigen Apfel kullern sah, streckte er die Hand aus, ergriff ihn beim Stiel und aß ihn auf bis zum Kerngehäuse. Das Kerngehäuse warf er den Schweinen vor, die fraßen es, und da war die Mora auf einmal weg. Und der Mann wurde von Stund an besser.

Wo Valentin auch sein mochte, die braune Michalina wachte über ihm. Sie ließ ihn nicht aus den Augen. Nun war die Zeit, da er mit seinem Vater viel im Felde zu schaffen hatte. Die blonde Stasia blieb zu Haus, aber die braune Michalina ging mit den Männern hinaus. Es war ihre beste Zeit, bei dem Walenty im blühenden Korn zu sein. Der Herr legte sich mittags, wenn die Sonne gar zu sehr stach, unter einen Busch, zog die Jacke über das Gesicht und brummte darunter, bis ein Schläfchen ihn tröstete. Sie aber schaffte weiter; ihr tat die große, runde Sonne nicht weh, die schon auf sie gebrannt hatte, als sie noch mit Bruder Jendrek im bloßen Hemdchen über die Flur gelaufen war. Michalina arbeitete immer unverdrossen, und Valentin stand bei ihr, wie damals, als er noch ein lediger Bursch gewesen war, und hielt die Arme über die Brust gekreuzt. Damals hatte sein Blick in die Ferne geschaut, wie ein recht Verliebter schaut, jetzt starrte er wieder in die Ferne, aber wie ein recht Betrübter.

Da lächelte sie ihn an aus ihren braunen Augen, wenn er sie auch nicht ansah, und sang, ihn zu erheitern, alle Lieder, die sie wußte; sang sie hell und zart, so gut sie nur konnte, sang traurige und lustige, Tanzlieder und Wiegenlieder, und das Liebesliedchen vom Bürschchen im Schornstein:

»Ich ließe mich gern herunter
durch den Schlot,
Ich käme zerschlagen herunter,
beinah tot.
Ich ließe mich gern herunter
durchs Essenrohr,
Ich käme geschwärzt herunter,
wie ein Mohr.
Ich schliche zu dir, mein Liebchen,
ganz sacht mich,
Ich höre, ach leider, mein Liebchen
verlacht mich!«

Dieses Liedchen hatte er früher immer gern gehört – aber jetzt, oh, was war ihm denn jetzt?! Heilige Mutter, weinte er?! Erschrocken blickte die Magd.

Valentin hatte sich abgewendet. Mit gepreßter Stimme stieß er heraus: »Arbeite du, arbeite du weiter, ich komme gleich wieder«, und rannte davon ins Feld hinaus. Und rannte so weit, bis ihn das Mädchen nicht mehr sehen konnte, nicht der Vater, niemand, und warf sich hin, so lang er war, an den blumigen Rain, schloß die Hände zu krampfhaften Fäusten um die fetten Stengel zweier großer Maßlieben und weinte. Eine dumpfe Schmerzahnung lastete schwer auf ihm. Er schluchzte wie ein Knabe ins grüne Gras und konnte lange nicht zu sich kommen. Und als er endlich aufstand vom Rain, war er so mürb und zerschlagen, als hätte er Jahr und Tag auf Steinen gelegen, auf lauter Steinen. Zur Michalina zurück mochte er nicht – sollte er sich auslachen lassen von der? Die war immer so fröhlich, was wußte die von tiefem Leid!

Sollte er sich vor dem Vater zeigen mit verweintem Gesicht? Nein, lieber ging er heim, recht leise, daß Stasia ihn nicht merkte, und legte sich in der Schlafkammer aufs Bett, denn ihm war wie krank.

Und als er nun ganz verstohlen in sein Haus schlich, in dem er so leise auftrat, als wäre es gar nicht das seine, hörte er plötzlich durch die mittägige Stille, durchs verzauberte ›Sumsum‹ schläfriger Fliegen, ein leises Gekicher. Und dann ein Geflüster. Wer war denn drinnen? Saß Stasia ganz allein in der um diese Zeit immer leeren Schenkstube und lachte sich eins? Oder wer war bei ihr? Nun, gleichviel, wer es auch sein mochte!

Gleichgültig, müde, wollte er an der Tür vorbeischleichen. Halt! Nun stutzte er doch auf einmal, und der trübselige, matte Blick seines Auges funkelte auf in Zorn: das war des polnischen Inspektors Stimme! War der jetzt nicht draußen auf dem Felde? Saß der schon wieder drinnen und noch dazu allein bei ihr? Und wie eifrig sie sich erzählten! Hurtig ging das Gespräch, aber so viel Polnisch konnte er jetzt doch, um wenigstens den Sinn zu verstehen. Sie sprachen von der Wahlversammlung, die heut abend hier abgehalten werden sollte. Der Name des Niemczycers fiel, da fuhr der Lauscher zusammen, so hart lachte Stasia plötzlich auf. Und der Inspektor fluchte und schlug auf den Tisch: »Der deutsche Hund, niemals, niemals!« Und dann wurde das Gespräch leise, so tuschelnd, daß er nichts mehr verstand, bis er Stasia sagen hörte: »Ach, Unsinn, der wird ja nicht gewählt! Das wird der Herr Vikar schon nicht leiden.«

Jetzt lachte auch der Inspektor auf: »Das wäre auch, der Hetzer, der Zuträger, der alberne Schwätzer, der – Niemiec! Psia krew! Warte, mein Bürschchen, du wirst schon kriegen, was dir gebührt!«

Pfui, der gemeine Polack! In Valentins ehrlichem Gesicht zeigte sich Entrüstung: wahrhaftig, das hatte sich der Herr Rittmeister doch nicht verdient! Aber dann machte die Entrüstung, die ihm das Blut in die Wangen getrieben hatte, einer jähen Blässe Platz – er hatte plötzlich den eignen Namen gehört.

»Ach, der Walenty«, sagte Stasia hell, recht leichthin, wie abfällig, »was der sagt!« Obgleich Valentin draußen stand, glaubte er doch, sie mit den Fingern schnippen zu sehen. »Was glaubst du wohl, mein Lieber, als ob man auf den hörte? Haha, so ein Schwabb!« Sie lachte laut auf, und der Inspektor lachte mit ihr.

Valentin zitterte: Jesus, wie sprach sie verächtlich! Und nun das spöttische Lachen – das Lachen! Sie hörten gar nicht auf damit. Und ›du‹ nannte sie ihn, und ›mein Lieber‹! Herr im Himmel, Herr im Himmel, was war das?!

Des jungen Ehemanns Gesicht verzerrte sich: lachten sie ihn aus? Ja, sie lachten ihn aus mitsammen! Das ertrage ein andrer! Deutsche Fäuste wollte er ihn kennen lehren, den polackischen Schweinigel! Wut, Eifersucht, Zorn, Scham, Haß übermannten Valentin; die Tür aufreißend, stürzte er in die Schenkstube.

Da saßen Pan Szulc und die junge Frau recht gemütlich nebeneinander auf der Bank hinterm Tisch, und Stasia paffte mit von des Inspektors Zigaretten. Ein beißender, widerlich süßlicher Qualm erfüllte die ganze Stube.

Stasia hatte hellauf geschrien, als ihr Mann so mit Gekrach hereinplatzte, aber nun hatte sie sich schnell gefaßt. Sie setzte sich ruhig wieder nieder auf die Bank, von der sie im ersten Schreck der Überraschung aufgesprungen war; dreist sah sie ihn an, nur am leichten Schielen ihrer schmalen, grauen Augensterne konnte man merken, daß sie erregt war. Schwer atmend stand Valentin ihr gegenüber am Tisch; er rang nach Worten.

Da kam sie ihm schnell zuvor: »Walenty, mein Lieber, spektakle nicht so! Hab' ich mich erschrocken! Man meint ja, die Tür fällt ein. Was willst du?«

»Ich – ich – –« Die Fäuste auf die Tischplatte stemmend und sich nach Pan Szulc hinüberbeugend, ächzte er: »Heraus, heraus! Willste wohl gleich machen, dat der hier herauskömmt!«

»Was sagt er? Er ist wohl verrückt?« sagte Pan Szulc und stieß die neben ihm Sitzende an. »Was sagt er, ich verstehe ihn nicht!«

»Ich will dich wohl deutsch verstehen lernen, du polackscher Schweinigel«, schrie Valentin. Seine Rechte reckte sich über den Tisch weg nach dem Kragen des Verhaßten.

Stasia kreischte laut auf. Sie wollte ihren Mann zurückreißen, aber schon war Pan Szulc aufgesprungen.

Die Zähne zusammenbeißend, totenblaß, stand Valentin und erwartete den Gegner. Aber er wartete vergebens.

Ein Achselzucken und ein: »Sie sind wohl nicht recht bei Trost«, und schon hatte Pan Szulc seine Mütze ergriffen, und schon war er auf der Schwelle. Als der vollständig Verblüffte, ganz wie erstarrt Dastehende sich aufraffte, ihm nachzustürzen, packte ihn Stasia am Kittel. Sie hielt ihn fest.

Pan Szulc war fort. Wutbebend kehrte sich Valentin gegen seine Frau: »Untersteh dich – laß mich los!« Aber sie hielt ihn fest. »Läßte mich los?« Er wand ihr den Zipfel seines Leinenrockes aus den Händen, nicht gerade sanft.

Es tat ihr weh, sie sah ihn an mit bösen Augen.

»Ja, kuck mich nur an, kuck mich nur an! Sei nur falsch! Ich kenn dich jetzt – wat – wat haste mit dem Kerl, dem Polack, immer zu lachen? Is dat en Art? Deinen – deinen Mann – so auszulachen!« Er schluckte.

»Ich weiß nicht, warum du so böse bist?« Sie überlegte sich, daß es wohl das Klügste sei, einzulenken. Und dann – so hatte sie ihn noch nie gesehen, so gefiel er ihr. »Walenty«, schmeichelte sie, »sei doch gut! Pan Szulc ist mein alter Freund, ich kenne ihn länger, als ich dich kenne. Als ich noch ein blutjunges Mädel war in kurzem Rock und zur Herrin kam, nach Chwaliborczyce, zu lernen die Religion und das Sticken, habe ich ihn schon gekannt. Was willst du, was ist unrecht? Darf ich da nicht lachen mit ihm?« Sie machte Miene, sich an ihn zu schmiegen, aber er stieß sie zurück.

»Katz«, schrie er grob, »polnische Hex!«

Nun tat sie beleidigt. Den Kopf zurückwerfend, aber sich dabei wiegend wie eine Bachstelze, die auf ihren zierlichen Beinchen wippt, ging sie zur Tür; krachend warf sie sie hinter sich ins Schloß.

Er blieb allein zurück in der Stube, die erfüllt war vom Zigarettenqualm. Laut stöhnte er auf; zum Tisch taumelnd, sank er auf die Bank nieder, wo das Paar eben gesessen hatte.

Stasia, Stasia – was hatte sie ihm angetan?! War sie die Liebste von dem Kerl, dem Polacken? Oder war sie es nicht? ›Mein Lieber‹ und ›Du‹ – ei, genügte das nicht? Ja, ja, sie war's, kein Zweifel! Nicht nur polnisch, auch noch nichtsnutzig dazu war sie! Nein, er mochte sie nicht mehr sehen, nie mehr wollte er sie wiedersehen. Sie, mit den falschen Augen und dem geschmeidigen Leib, sie hatte ihn betrogen – Jesus, betrogen! Wie konnte sie das nur tun? Er hatte sie doch so lieb, wahrhaftig, so liebgehabt. Jetzt schluchzte er nicht im dumpfen Schmerzgefühl wie draußen im Feld, nicht wie ein Knabe, der unbändig ist, jetzt saß er da wie ein geschlagener Mann, preßte die Fäuste gegen die heißen Augen und stöhnte aus tiefster Seele.

So saß er, bis es vom Turm Feierabend läutete. Da kam die Michalina. Sie war erstaunt: wie, noch nichts zurechtgemacht? He! Und heute abend sollte doch hier Versammlung sein, viele sollten kommen, und der gnädige Herr von Niemczyce würde eine Rede halten. Da hieß es, die Tische beiseiterücken und Platz schaffen und Biergläser bereitstellen und frischen Sand auf die Dielen streuen. Würden nicht viele Füße kommen? Alle von Pociecha-Ansiedlung und die Männer von Pociecha-Dorf auch. Denn Zettel waren geworfen worden in alle Häuser und große Plakate angeklebt worden an alle Mauern. An den Bäumen, sogar an der Holzwand der Kirche von Pociecha-Dorf stand zu lesen:

 

Wählt den
Rittergutsbesitzer
Hanns-Martin von Doleschal!

Wählt!         Wählt!

 

Und hier, am Ansiedlungskrug an der Haustür, hing auch ein 

großes Plakat, hellgelb wie der liebe Mond; weithin sichtbar war es:

 

Heute Wahlversammlung!

Ansprache des einzigen Kandidaten
aller nationalen, staatserhaltenden
Parteien
,
des Rittergutsbesitzers
Baron von Doleschal
auf Deutschau.
Deutsche Männer, Ansiedler von Augenweide,
kommt alle!
Anfang 8 Uhr. Anfang 8 Uhr.

 

Einen Blick des Bedauerns warf Michalina auf ihre so blank geputzten Fenster. Da hatte man auch solch gelbe Wische angekleistert. War's nicht genug, daß einer in der Wirtsstube innen hing, mußten auch noch die klaren Scheiben verschmiert werden? Kein Wunder, daß die von Pociecha-Dorf die Zettel nicht leiden wollten! Michalina erzählte es dem jungen Wirt: im Dorf hatten sie gedroht, die Plakate abzureißen.

Aber Valentin zuckte nur die Achseln ohne ein Wort. Das war ihm ganz gleichgültig; seine Gedanken waren bei Stasia. Ob sie jetzt wohl hinten in der Küche saß und trotzte, oder ob sie sich in der Schlafkammer eingeschlossen hatte, wie sie schon manches Mal getan hatte, um ihm erst nach vielem Pochen und Rufen und Bitten zu öffnen? Nun, heute würde er nicht pochen. Nein, er wollte sie nicht mehr sehen!

Er verließ nicht die Schenkstube. Nur für kurze Minuten hatte ihn die Magd aufgestört, jetzt saß er wieder hinterm Tisch auf der Bank, die Ellbogen aufgestemmt, die Fäuste gegen die Stirn gedrückt. Für Michalina, die sich um ihn herum zu schaffen machte, hatte er keinen Blick. Er hörte nicht ihren geschäftigen Tritt, auch nicht ihr inniges: »Helfe dir Gott!« – er hörte immer nur:

›Ich schliche zu dir, mein Liebchen,
ganz sacht mich,
Ich höre, ach leider, mein Liebchen
verlacht mich!‹

So saß er auch noch ganz versunken, als zwei Ansiedler kamen: der Schwabe hinten aus der Kolonie und der Amerikaner, der Erbauer der seltsamen Scheune, die rund war wie ein Zirkus.

Diese beiden hatten sich pünktlich eingefunden, aber die andern zögerten. Verwundert gingen die Pünktlichen vor die Tür: kamen denn die andern noch nicht, hatten sie's denn nicht auch gelesen, wie sie es gelesen hatten: ›Deutsche Männer, kommt alle‹?!

Langsam kamen endlich welche an, einer nach dem andern, vereinzelt wie Tropfen, die schwer sickern.

Aber der junge Wirt schlich jetzt aus der Schenkstube, denn Michalina hatte ihm ›Pst‹ gemacht und ihn herausgewinkt in den Flur. Dort stand sie ganz verstört.

»Is sich Frauchen nich mehr da«, stieß sie heraus und zitterte. »Is sich Stasia fortgemacht. Türe von Schlafkammer steht sich auf, seh ich hinein, stehn sich Schrank und Kommode auch auf. Liegt sich vieles an Erde, und Kleider, Hemden, Strümpfe von Frauchen zusammengepackt in Lade, wo sie mitgebracht. Und wie ich noch stehe, kommt sich Stasia von Küche her, sagt, soll ich ihr schicken Sachen seinige morgen. Geht sie zu ihre Eltern, kommt nich mehr zurück. Is sie zu weh geschehen von ihrem Mann. O weh, o weh!« Jammernd rang das Mädchen die Hände.

Stasia fort – zu ihren Eltern – kommt nicht mehr wieder – zu schwer gekränkt?! »Stasia, Stasia!« Valentin schrie laut auf und taumelte zurück wie einer, der einen Hieb bekommen; die Magd stützte ihn.

Tränen liefen Michalina übers Gesicht, aber unter den Tränen lächelte sie ihn tröstend an: »Wird sich schon wiederkommen, wird sich schon wiederkommen Frauchen, bin ich gewiß, kommt sich morgen. Man muß nicht ängstigen sich, er muß nicht ängstigen sich. Wer könnte verlassen ihn, den Walenty?«

Valentin sagte kein Wort darauf, stumm ging er in die Kammer und riegelte hinter sich zu. Michalina aber mußte in die Wirtsstube laufen, dort verlangten die Leute Bier. –

Allzu viele waren nicht gekommen, mancher fehlte. Auch Peter Bräuer war nicht da. Doleschal, dessen Blick die Versammlung überflog, vermißte ihn gleich. Warum blieb der Mann fern? Wie gern hätte er dessen breite Schultern die andern überragen gesehen. War es möglich, sollte Bräuer so kleinlich sein, weil er sich einmal über ihn persönlich geärgert hatte, darum auch sein Deutschtum zu vergessen, darum nicht die Versammlung zu besuchen?!

Das war eine Enttäuschung. Es war auch ferner eine Enttäuschung, daß nicht alle andern gekommen waren. Doleschal hatte erwartet, daß kein einziger Ansiedler fehlen würde. Und auch auf mehrere vom Dorf hatte er gerechnet. Und wenn sie nur gekommen wären, um von dem Bier zu trinken, das er auf seine Kosten verabreichen ließ. Wenn er sie nur erst hier hatte, wollte er schon auf sie wirken. War's nicht so gewesen in den andern Orten auch? Gleichgültig waren sie erschienen, enthusiasmiert hatten sie das Lokal verlassen. In der Kreisstadt und besonders gestern in Miasteczko war ihm geradezu ein Triumph zuteil geworden. Das Herz schwoll ihm, wenn er des gestrigen Abends gedachte. In der Wirtsstube des Prochownik hatte er eine schöne Stunde verlebt. Sie hatten ›Bravo‹ gerufen und in die Hände geklatscht.

Freilich: die Honoratioren hatte er vermissen müssen: den Doktor Wolinski, den Apotheker, den Bürgermeister, den Postverwalter, den Steuerkontrolleur und so manche andre. Und Nasen, ähnelnd der Nase Löb Scheftels, waren reichlich vertreten gewesen. Aber in seinem Eifer hatte er des nicht sonderlich geachtet. Und als am Schluß Löb Scheftel sich zu ihm herangedrückt und devot geflüstert hatte: ›Haben sie mir zwar eingeschmissen 's Ladenfenster und mir genommen heraus das Kälberviertel, die Speckseite und 's pikfeine Geschlinge, hab ich doch keine Angst gekriegt, bin ich doch gekommen, zu reichen dem Herr Baron die Hand. En freisinniger Mann, en aufgeklärter Mann, wer ich ihm geben doch meine Stimme‹ – hatte er keinen Ekel empfunden, wie noch vor nicht allzu langer Zeit, sondern die Hand des jüdischen Schlächters gedrückt. War es doch eine Hand.

Und hier, unter lauter deutschen Männern – fast alle Idiome des Vaterlandes waren vertreten –, sollte es da nicht ein leichtes sein, Hingabe zu erwecken, Liebe, Eifer zur deutschen Sache?

Doleschal vergaß, daß Peter Bräuer ihn durch sein Fehlen enttäuscht hatte, und so noch dieser und jener. Seine erst stockend begonnene Ansprache wurde flüssig. Die Worte strömten ihm zu; Gedanken, an die er vorher nicht gedacht, Vergleiche, Bilder drängten sich ihm förmlich auf. Er bemühte sich, volkstümlich zu sein, sich einem doch immerhin bescheidenen Denkvermögen anzupassen. Das wenigstens mußten sie doch verstehen – erfuhren sie's nicht täglich am eignen Leibe –, wenn er ihnen sagte, daß sie hier ständen, einsam wie der Soldat auf der Wacht, ebenso gefährdet und auch ebenso verantwortlich. Und daß er sie auffordere, ihrem Deutschtum Ehre zu machen, deutsch zu wählen, regierungstreu, allen Machinationen von Polen und Klerus zum Trotz.

Es war ihm eine Wohltat, einmal frei heraus sprechen zu können, ohne die Rücksichtnahme, die doch immerhin an andern Orten, wo die Zuhörerschaft eine gemischte, bedingt gewesen war. Hier waren ja lauter deutsche Männer, eine kleine Zahl zwar nur, aber tüchtige Pioniere. Pioniere des Deutschtums, Pioniere der Kultur. Und sie scharten sich um ihn.

Er bemerkte nicht, daß im Hintergrund einige Gestalten, die sich vorsichtig hinter den breiten Rücken der Vordermänner gedeckt gehalten hatten, sich leise hinausstahlen.

 

Der Abend war schon weit vorgeschritten, als die Versammlung sich auflöste. Doleschal war noch nie so lange geblieben. Aber heute war es ihm eine Freude, unter den Leuten zu sitzen: unter deutschen Männern, in einem deutschen Krug. Wo steckte nur der junge Wirt? Zuerst hatte man dessen Fehlen nicht bemerkt, jetzt aber fiel es auf. Warum war er nicht zur Stelle? Doleschal fragte die braune Magd, die geschäftig hin und her rannte und die Gläser füllte. Da spiegelte es in den blanken Augen der Braunen wie von Tränen, und sie antwortete, betrübt den Kopf schüttelnd: »Is sich krank junge Gospodarz, is sich sehr krank, arme Walenty!«

Der Mond war auf seiner Bahn bereits tief hinabgerutscht, als der Deutschauer Herr aus der Ansiedlung hinausritt. Sein Pferd hatte ihm das braune Mädchen vorgeführt. Da hatte er Valentin Bräuer grüßen lassen und ihm gute Besserung gewünscht.

Schade, er hätte den hübschen Jungen gern einmal wiedergesehen! Der meldete sich nun gar nicht mehr in Deutschau. Aber seine Wirtschaft hatte er gut im Zug, trotz der polnischen Frau, das mußte man anerkennen. Selbst die Magd war gut erzogen; obgleich des Herrn Auge nicht über ihr gewesen war, hatte sie trefflich ihre Pflicht erfüllt.

Hinter dem einsam, unterm fast lichtlosen Himmel Dahinreitenden ragte der Turm von Pociecha-Dorf, und vor ihm ragte der Lysa Góra. Das waren die beiden Pole seines nächtlichen Ritts. Durch das endlose Meer der Felder, wie dahergeblasen vom Nachtwind über die endlose Ebene, trabte der Gaul. Der Hufschlag klang hart auf dem vom Sonnenbrand ausgetrockneten Boden. Man hörte ihn fernhin.

Die Brust des einsamen Reiters weitete sich. Heute empfand er das Alleinsein nicht als Qual, war es doch kein Alleinsein mehr auf einer Insel, umflutet von einem wilden Meer. Heute waren die Wogen glatt, man konnte sie durchschiffen; man war nicht abgeschnitten und verlassen, willige Hände streckten sich aus, schwielige, arbeitstüchtige Fäuste.

Doleschal hatte beim Fortgehen allen der Reihe nach die Hand geschüttelt – das waren biedere, kräftige, urdeutsche Händedrücke! Was ihm bis jetzt nie als recht möglich erschienen war: das Zustandekommen seiner Wahl – heute dünkte es ihn nicht mehr unmöglich. Zutraulich hatten sie ihn gefragt: nach seinen Ernteaussichten, nach seiner Frau, seinen Kindern; und er hatte sich nicht ablehnend verhalten wie früher wohl, er sah jetzt ein, es tat not, daß auch sie von ihm etwas wußten, er nicht nur von ihnen. Das reichlich gespendete Bier hatte ihnen die Zungen gelöst, und bei ihm hatte ein warmes, ein ihn mächtig überkommendes Gefühl der Zusammengehörigkeit – vielleicht zum erstenmal in seinem Leben – das Junkertum über den Haufen geblasen. Deutsch, deutsch, das ging vor allem! Deutsche, hoch das Panier! Schwarzweißrot, in diesem Zeichen wollen wir siegen!

Er gab seinem Pferd den Sporn und galoppierte auf den Lysa Góra zu. Rasch heim! Was würde Helme sagen?! In die Arme wollte er sie pressen: ›Mein liebes, mein treues Weib, vergib! Ich habe dich viel gequält! Aber wer kann für die schwarzen Gedanken, die da kommen, krächzend wie die Raben, und sich frech niederlassen? Wer kann dafür, daß ihn der Unmut übermannt, die ohnmächtige Wut, die zage Furcht – ja, die Verzweiflung –, wenn er sieht, daß all sein Streben vergebens ist, daß fünfzehn Jahre des Schaffens in Sorgen und Mühen nur sind wie ein Tag? Ja, daß das ganze Leben, nicht nur das eigne, auch das des Vaters und des Großvaters, daß all die Zeit, die Deutschau steht, ein Nichts ist? Daß eine Minute die Fahne nieder in den Kot reißt, die stundenlange Arbeit dem Lysa Góra aufs Haupt gepflanzt hat?‹

»Aber jetzt, Helene, ich schwöre es dir, jetzt wird es besser werden!«

Doleschal sagte es laut und lächelte dabei. Er hob sich im Sattel und wiegte sich leicht. Nun dünkte er sich wieder jung. Nur ein bißchen Freude, nur ein bißchen Hoffnung, nur ein bißchen Genugtuung, wie tut das gut! Es war doch kein Traum, der Traum vom deutschen Land. Hier diese Felder würden deutsch sein, deutscher als die am Rhein, deutscher als die längs der Vogesen, denn sie waren noch schwerer errungen. Schwerer, viel schwerer ist der heimliche Kampf als der offene, und soviel länger währt er. Wo das Leben aus offenen Wunden dahinströmt, ist der Kampf bald entschieden, aber wo ein Leben verhaucht aus heimlich blutenden Herzenswunden, dauert er lange, ach so lange!

Aber nun würde es gewiß nicht lange mehr währen, daß der deutsche Herr reiten konnte über deutsche Felder und sein Haupt getrost legen konnte jedem Untertanen in den Schoß.

Mit einer fast übermütigen Handbewegung grüßte der von Phantasien Erhitzte den Lysa Góra, der näher und näher rückte: deutscher Berg, ich grüße dich, auf deutscher Wacht! Ah – Doleschal empfand es wie eine Erlösung –, kräftiger Zuruf scheucht das Raubgesindel, heute flohen ihn die schwarzen Gedanken. Was sind all die Unannehmlichkeiten und Widrigkeiten, die man durchgemacht hat? Sie schrumpfen zusammen, werden winzig klein vor einem großen Gedanken.

Es kam Doleschal vor, als habe er sich versündigt all die Zeit. An Helene, an den Kindern, an sich selber. Gleich morgen wollte er an Freund Paul schreiben – der gute alte Junge war so besorgt gewesen –, ›alles in Ordnung‹, würde er schreiben, ›alles ruhig am Lysa Góra.‹

»Voran, Hektor, zu Frauchen!« Doleschal trieb das Pferd, dessen Trab unter dem in Träumereien versunkenen Reiter zum Schritt geworden war, von neuem an. Und das Roß, den Stall witternd, wieherte in der Nacht.

Da war schon die Deutschauer Grenze – dort, rechts das Luch! Gespenstisch schimmerten die silbernen Weiden an seinem Rand; in ihrem Versteck flüsterte es leis – tat das der Nachtwind?

Und jetzt – ein Laut, ein Ruf: »He!«

Das Pferd prallte zur Seite und bäumte sich wild, eine Faust hatte ihm ins Zaumzeug gegriffen. Zitternd stand es.

Sechs, sieben Gestalten versperrten den Weg; ein achter kroch aus dem Graben.

Doleschal gab den Sporn. Das Pferd stand wie angefesselt. Da nahm er die Reitgerte verkehrt: Wegelagerer, Strolche, die haut man mit dem silbernen Knopf.

Keine Angst erfaßte ihn, wohl aber ein jähes Stutzen. Wer waren die, was wollten die? Er sah sich umringt. Wild hieb er drein: hier galt's, sich wehren!

Er sah kein Gesicht. Sie waren alle vermummt. Sie hatten die Mützen tief über die Ohren gezogen und die Hüte in die Stirn gedrückt. Und dazu das unsichere Licht des Himmels.

»Platz da!« Der Baron schrie es; in der stillen Nacht hallte der Kommandoton, aber der Lysa Góra fing den Hall auf und verschluckte ihn. Deutschau war weit, kein Beistand da in der Einsamkeit.

Ein unterdrücktes höhnisches Lachen antwortete dem ›Platz da‹. Sie wußten wohl, hier galt nur das Faustrecht.

Doleschal wehrte sich verzweifelt – hier, hier auf eignem Grund und Boden vergewaltigt werden? Wenn nur das Pferd gehorchen wollte! Er preßte es ächzend mit wahnsinnigem Schenkeldruck. Niedertrampeln sollte es die Wegelagerer mit seinen Hufen. Aber es gehorchte nicht Sporn noch Peitsche.

Die Peitsche ward jetzt dem um sich Schlagenden aus der Hand gewunden – knick – da war sie zerbrochen. Ein derber Knüttel fuchtelte bedrohlich, der Reiter fühlte sich an den Beinen gepackt und aus dem Sattel gerissen.

»Ich bin Doleschal, ihr irrt euch! Doleschal auf Deutschau!«

Wieder das Hohngelächter. Dazwischen auch heiseres Husten, bei heiserem Lachen den Atem fast erstickend.

»Hakatist, Schwein, Schächer erster Klasse!«

Jemand spuckte Doleschal ins Gesicht. Er riß die Augen weit auf in jähem Entsetzen: das waren keine Wegelagerer, keine, die die Uhr wollten, die Börse, die Wertsachen! … ›Hakatist, Schwein, Schächer erster Klasse‹ …?!

Da war er überwältigt.

Sie hielten ihn nieder mit Übermacht. Was half sein Sichbäumen? Auf je einem Beine kniete ihm einer, seine Handgelenke saßen wie in Schraubstöcken. Tritte von derben genagelten Schuhen trafen ihn, er wurde gewälzt im Staub. Und jetzt – auf die Kehrseite Schläge! Schläge, mit denen man einen dummen Jungen züchtigt.

Auf, zum letztenmal auf! Doleschal raffte sich noch einmal unversehens empor; sie wichen zurück vor dem schon überwältigt Geglaubten.

»Polnische Halunken!« Er ballte die Fäuste, er stürzte auf sie los mit letzter Kraft – da, ein Hieb über den Schädel mit einem Knüttel:

»Hakatist! Schwein! Du deutscher Hund!«

Taumelnd brach Doleschal vornüber zusammen. Die Hände vorgestreckt, das Gesicht im Staub vergraben, lag er regungslos.

Und das Pferd, das bis dahin zitternd gehalten hatte, hob jetzt entsetzt, mit einem fast menschlichen Angstschrei, den Kopf in die Höhe, warf die Hufe und jagte davon, als seien die Wölfe hinter ihm. – –

Und über die Felder zog die Nacht wieder still, hin über das unabsehbare Meer mit den im Nachtwind brandenden Wogen des unreifen Korns. Zwei Pole nur in der Nacht der Ebene für das suchende Auge des irrenden Wanderers: der Lysa Góra und der Turm von Pociecha-Dorf.

Einsam lag der schwarze Lysa Góra – der zerschlagne Mensch an seinem Fuß zählte ja nicht mehr mit.

Aber um den schwarzen Turm von Pociecha-Dorf wimmelte es wie von lauter Glühwürmchen.

Die Pociechaer hatten sich kurz entschlossen, in dieser Nacht, jetzt, da der Gendarm nicht mehr darüber wachte, die Plakate von Mauern und Bäumen abzureißen. ›Reißt sie ab! Vor allem von der Holzwand der Kirche reißt das Schandblatt des Verfluchten ab!‹ Hier galt das nicht! Morgen in aller Frühe schon würden aus der Kreisstadt die andern Zettel eintreffen, die besseren, die wahren, die einzig richtigen, von denen der Herr Vikar ihnen gesagt hatte:

 

Wählt!           Wählt!
Wählt den Polen, den wahren Christ,
den Ritter vieler Orden,
Aleksander Boleslaw, Edlen von
Garczyñski auf der Herrschaft
Chwaliborczyce.

 

Johlende Rufe tönten durchs Dorf. Im Krug quiekte der Dudelsack, im Rausch grölten die Männer. Kein Mensch dachte an Schlaf.

›Im deutschen Krug haben die Deutschen gesessen – auf, laßt uns Polen drum im polnischen sitzen!‹

Jetzt, spät noch nach Mitternacht, war Leben um die Kirche. Laternengeflimmer und Pechfackelschein huschten um den Pfuhl herum. Und nun erhob sich ein Geschrei, anhaltend laut, ein Geheul wie Gebell der Meute, die den Hirsch umstellt hat. Heißa, das Werk war getan! Heißa, in Fetzen zerrissen die verhaßten Wahlaufrufe! Im schlammigen Pfuhl schwammen sie.

»Es lebe Polen!«

Ohrenbetäubendes Schreien. Und nun war mit Gesang rasch ein Zug geordnet. Um den Pfuhl zog's herum und dann im Dorfe hin und her. Wild wogte es auf und ab, wild drangen die Stimmen in die Nacht hinaus, über die niedrigen Hütten weg, in die Nacht der Felder. Nichts hemmte die Töne, sie fanden keinen Widerstand. Weit hörte man sie, in Pociecha-Ansiedlung, und noch viel weiter hinaus, am Lysa Góra. Die Nacht war erfüllt von ihnen. Die Ebene war ein Lied geworden, ein Lied des Triumphs, ein Lied des Jubels:

»Brüder, nehmt die Sensen in die Hände!
Auf, zum Kampfe laßt uns eilen!
Polens Knechtschaft hat ein Ende,
Länger wollen wir nicht weilen.
Sammelt scharenweis' euch alle,
Unser Feind, der Deutsche, falle!
Plündert, raubet, brennet, senget,
Laßt die Feinde qualvoll sterben!
Wer die deutschen Hunde hänget,
Wird sich Gottes Lohn erwerben
Ich, der Propst, verspreche euch
Fest dafür das Himmelreich!«


 << zurück weiter >>