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Elftes Kapitel

Frau von Garczyñska konnte es noch immer nicht verwinden, daß sie ihre Zofe verloren hatte. Das Stubenmädchen war jetzt zu diesem Posten erhoben worden, aber es hielt gar keinen Vergleich aus mit Stasia. Jeden Morgen flossen die Tränen der Dienerin, und die Herrin schalt und stampfte mit Füßen, riß oft die ganze mühselige Frisur wieder auf und warf der Ungeschickten die Haarnadeln an den Kopf. Frau Jadwiga gestand sich oft mit Seufzen: diese Stasia war eine greuliche Person gewesen, leichtsinnig, verdorben, ganz gemein, aber höchst brauchbar.

Die alte Nepomucena hatte viel zu tun, um die Herrin, die der verlorenen Dienerin nachtrauerte, zur Ruhe zu bringen.

Auch Garczyñski vermißte seinen Szulc. Der Inspektor hatte zu gleicher Zeit mit der Zofe den Laufpaß bekommen, darauf hatte Jadwiga bestanden: war er denn nicht der viel Schuldigere? Er hatte das Mädchen verführt.

Vergebens suchte ihr Gatte ihr verständlich zu machen, daß man einem Manne mehr nachsehen könne, mehr nachsehen müsse als einer Frauensperson; es half nichts, sie bekam ihre Zufälle.

Ein treffliches Zeugnis konnte Garczyñski seinem Inspektor aber nicht versagen, zumal der so anständig gewesen war, nur noch für einen Monat sein Gehalt zu beanspruchen, das er, wäre er böswillig gewesen, für ein ganzes Vierteljahr noch hätte verlangen können. Doppelt fatal war Garczyñski seine Kündigung, als ihm zu Ohren kam, daß Inspektor Szulc sich vom ersten Januar ab bei Kestner in Przyborowo verpflichtet hatte – nun hatte der den tüchtigen Kerl! Er war gereizt gegen seine Frau.

Jadwiga empfand die trübseligen Wintertage trübseliger, nichts unterbrach deren Eintönigkeit. Die neunerlei Gerichte, wie üblich, hatten auf der Weihnachtstafel gestanden, der Gesindemarkt in Posen war abgehalten worden, viel neues Gesinde war in Chwaliborczyce aufgezogen, überall war ein Kommen und Gehen, aber keine Stasia kam wieder. Wenn die noch dagewesen wäre, so hätte die Herrin in der Silvesternacht Blei gegossen; Stasia war immer so behend gewesen in allerlei drolligen Auslegungen. Vergangenes Jahr, war's da nicht ein Ritter geworden, zu Pferd wie der heilige Georg, der den Drachen niedersticht? Stasia hatte den Ritter auf den deutschen Baron gedeutet.

Ach –! Frau Jadwiga konnte jetzt nur seufzen und beten. Der Vikar war ihre einzige Zuflucht. Es war zur Gewohnheit geworden, daß er, wenn der Unterricht von Boleslaw erledigt war, bei ihr eintrat. Dann sprachen sie von Musik und Literatur und von den ewigen Zielen. Górka hatte eine angenehme Art, über alles mögliche zu plaudern; er war belesen und verschloß sich nicht engherzig. Jadwiga, die zwei Jahre ihrer Mädchenzeit in einem Genfer Pensionat verbracht und oft mit ihrem Vater, dem reichen Bankier, Paris und die Modebäder besucht hatte, bevorzugte die französische Literatur. Wenn sie um ein Dichtwerk herumtändelte und mit einer gewissen Naivität und angeborenen Vorliebe bei heiklen Themen verweilte, kam oft ein unruhiges Blicken in seine Augen und eine feine Röte in seine Stirn. Aber er wußte bald – ohne daß sie es merkte, wie er Seite nach Seite umblätterte in ihrer Seele – sie fortzuführen von dem Weg, den zu gehen, gerade mit ihm, dem Geistlichen, ihr einen heimlich aufregenden Reiz gewährte. Wo sie auch geweilt hatten, unterm Kreuz langten sie doch zum Schlusse an. Sie war oft in tiefer Zerknirschung, wenn er sie verließ – ach ja, ein Leben der Heiligen zu führen, ohne irdische Wünsche, welche Seligkeit!

Frau von Garczyñska fuhr jetzt alle Wochen nach Pociecha-Dorf zur Beichte. So stieß sie nach dem Fest der Heiligen drei Könige auf Stasia; diese trat aus der Kirche heraus, gerade als die Gnädige hineintrat. Eine fast eifersüchtige Regung durchschoß das Herz der Dame unterm kostbaren Zobelpelz – gehörte das Ohr im Beichtstuhl ihr nicht allein? Wenigstens das wollte sie doch voraushaben vor diesem Mädchen, das sich so ausleben konnte ganz nach Gefallen! Diese Unverschämte! Nicht einmal zerknirscht hatte sie die Augen niedergeschlagen, nein, zierlich geknickst hatte sie und mit einem raschen Blick die Toilette der Herrin gemustert.

Jadwiga glaubte den Beichtstuhl noch warm zu finden; eine quälende Neugier erfaßte sie: was mochte das Mädchen alles hier durch das mit dunklen Gardinchen verhangene Gitter geflüstert haben? Was Górka sich wohl dabei gedacht haben mochte? Ob in seine Augen da auch das unruhige Flimmern gekommen war und in seine Stirn die Röte?

Sie war erst beruhigt, als statt der schönen Stimme des Vikars das bäurische Organ des alten Propstes an ihr Ohr drang.

Górka war zu Schäfer Dudeks Hütte gegangen. Dort war nun wirklich der Tod in der Stube. Gestern abend noch war die alte Nepomucena ›zu Hofe‹ gegangen, aber heut früh war der Schäfer aufgewacht von einem harten Klopfen. Es klopfte, als schlüge einer mit einem Stein aufs Hüttendach. Da wußte Kuba Dudek: das war der Tod, der saß oben und meldete sich an. Und als er nach seiner Ehefrau guckte, saß die wie immer aufrecht in den Kissen – platt liegen konnte sie schon seit einem Jahr nicht mehr – und rang nach Atem; aber die Augen waren glasiger, die Nase spitzer. Er weckte die Filomena, daß sie auf die Mutter passe, und machte sich selber auf nach Pociecha-Dorf. Der Lehrer sollte ihm nach Posen an die Michalina schreiben, daß sie schnell heimkomme, auf daß ihre Großmutter sie noch segne.

Der Lehrer hatte geschrieben – einen Groschen für die Bemühung, einen Groschen fürs Papier, einen Groschen für die Postmarke – beruhigt hatte sich der Alte wieder heimbegeben wollen, da war er angerufen worden aus der Ciotka Tür.

Wollte er nicht einmal nach ihr sehen? Der Doktor war für nichts gut, nicht einmal Pferde und Schweine verstand der zu kurieren! Die Ciotka hatte wahrlich lange genug gedoktert. Da hatte sie nun ein bißchen zum Tanze aufgespielt am Heiligen Dreikönigstag, hatte beim Nachhausegehen – da sie ein klein wenig betrunken war – nur ein Stündchen vielleicht auf den Steinen gelegen, und nun war sie schon wieder so krank. Kalt war's freilich gewesen; den Leuten, die morgens Bernstein und Kreide zur Kirche getragen hatten, um diese weihen zu lassen zum Schutz gegen böse Geister, waren die Finger erfroren. Oder ob sie vielleicht ›verrufen‹ war?! Man hatte schon die Probe darauf gemacht und brennende Kohle ins Wasser geworfen.

Fast sämtliche Weiber des Dorfes waren um die Ciotka versammelt, die in brennender Fieberhitze lag. Sie beteten und klagten: das Tantchen würde wohl sterben, wenn nicht die heilige Mutter Gnade gab und Dudek, der Alte, sie heilte.

Dudek war ein wenig gekränkt: warum hatte man ihn denn nicht schon längst geholt, gleich damals nach der Ciotka Unfall? Da hätte die in acht Tagen wieder getanzt.

Die Weiber entschuldigten sich: man hatte doch nicht gekonnt, denn der gnädige Herr aus Niemczyce hatte ja den Doktor geschickt, und er wußte doch: Doktor und Schäfer kurieren nicht zusammen.

Der alte Schäfer lächelte geringschätzig: so ein junger Mensch, wenn der auch in Büchern gelernt hatte, was wußte der von den geheimnisvollen Kräften, die da wirkten zwischen Erde, Wasser, Luft.

Er hieß die Weiber die Kranke auf den Bauch legen und hieß sie dann alle rundum niederknien. Er selber machte das Zeichen des Kreuzes dreimal über die entzündeten Wunden, wendete sich gegen Osten und sprach leise, dreimal:

»Rose, ich sage dir:
Geh hinaus, geh hinein,
Geh in Gottes Haus hinein.
Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes!«

Und er pustete dreimal: nun war das Übel weggeblasen gen Sonnenaufgang. Nun ging es, woher es gekommen: zurück zu Gott, dem Allmächtigen, der es gesandt hatte. Hier hatte der Tod noch nicht auf dem Dache geklopft.

Aber daheim, bei der Nepomucena, gab's keine Besserung mehr; man soll auch nicht wehren, wo der Tod geklopft hat. Dudek fand sein Weib bedeutend schwächer, als er es verlassen hatte. Er sah's an der Nase, um die hatte der Tod bereits mit dem Finger gewischt.

Die Filomena saß beim Bett und verlas Erbsen; ihr zu Füßen hockte der kleine Jasio, der Michalina Kind, und sah mit verwunderten Augen der sterbenden Großmutter zu. Diese war ganz teilnahmlos, sah nicht Mann noch Tochter noch Enkelkind. Schade, daß der Brief an die Michalina schon fort war, sie hätte ruhig fernbleiben können, einen Segen kriegte sie nun doch nicht mehr!

Der alte Schäfer zupfte ein Flöckchen aus seinem Schafpelz und hielt das seiner Frau an die Lippen – ei, die atmete noch! Aber ihre Hände, ihre Füße waren schon eiskalt.

Eine grimmige Kälte ging draußen über die Flur und schnob durch alle Fugen der Hütte. Durch den großen Riß der Lehmwand hinter dem Bett blies sie und blies dem alten Weibe ins Gesicht. Aber das fühlte den Zugwind nicht mehr.

Der Vikar kam. Da er auf die Fragen der Beichte keine Antwort mehr erwarten konnte – die müden Augen schlossen sich schon –, gab er der Sterbenden rasch die letzte Ölung. Die Wachskerze, zu Lichtmeß geweiht, brannte, der kleine Mesner hinter dem Geistlichen reckte sich auf den Zehen, um ja was vom Sterben zu sehen zu kriegen, die Filomena betete laut, und draußen vor der Tür antwortete das Gemurmel der versammelten Nachbarinnen.

Es war um die Stunde, in der die Nepomucena sonst zu Hofe zu gehen pflegte, daß sie sich noch einmal belebte. Sie streckte die Arme aus, damit man ihr helfe. Wie, wollte die sich erheben, aus dem Bette steigen und wandeln? Fast schien es so. Und sie lallte: »Dalli!« und in einem Röcheln dann noch etwas, das man nicht mehr verstand. Unruhig glitten ihre Blicke zur Tür – einen Fuß noch streckte sie aus dem Bett, dann war's zu Ende.

Nun konnte sie platt liegen. Man deckte ihr ihr Leintuch übers Gesicht.

 

Als sie die Nepomucena begruben, ging der Wind sehr hart. Die Gutshörigen, die den Sarg trugen, froren, denn er war nicht so schwer, daß sie unter der Last geschwitzt hätten. Zwischen das Trauergeleit, das hinter dem Sarg her betete, fuhr ungehindert der Nordost und jagte die Leidtragenden auseinander, daß sie die Ordnung bald aufgaben und durcheinanderliefen wie eine verirrte Herde. Jeder erkämpfte sich einzeln seinen Weg nach Pociecha-Dorf.

Als sie vom Kirchhof zurückkehrten, der hinter dem Dorf, nur durch eine dürftige Fliederhecke vom Acker geschieden, preisgegeben allen Winden lag, tat ihnen ein Schnaps wahrlich not. Sie traten alle in den Krug, nur die Enkelin des Dudek, die Michalina nicht, die wollte nicht mit einkehren. Die andern schalten über sie: ei, warum wollte sie denn nicht? War sie etwa so vornehm geworden in Poznan, daß es ihr nicht mehr paßte bei Eljakim Eiweih?

Nein, das war es nicht! Michalina war nur sehr betrübt. Als sie nun so allein zum Dorf hinausging, weinte sie vor sich hin. Ach, da war sie nun gestern aus Posen gekommen, so schnell als möglich, aber die Großmutter hatte sie doch nicht mehr am Leben gefunden, und die war immer so gut gewesen. Nun würde sie die nie mehr auf Erden sehen. Die würde ihr nicht mehr die Zöpfe flechten, schön zwölfsträhnig, daß sie handbreit standen, eine wahre Pracht. Ach, die gute Großmutter!

Sie heulte laut, ihr Herz floß über von Trauer.

Und daß der Jendrek nicht beim Begräbnis sein konnte! Den hatte die Babusia doch auch immer so liebgehabt. Aber der wußte ja nicht einmal, daß sie gestorben war. Wo mochte der Jendrek jetzt sein in der weiten Welt? War er noch bei den Soldaten, oder war er schon frei? Sie hatten von Hause nicht an ihn geschrieben, schon lange nicht, Großvater hatte das Schreiben nicht gelernt, Großmutter auch nicht, und die Mutter hatte es längst vergessen. Ihr selber, der Michalina, wurde es auch schwer, und der Jendrek sparte auch gern die Tinte und das Papier. So hatten sie sehr lange nichts voneinander gehört.

Ach, wer doch als Sternlein am Himmel stehen könnte, heruntergucken auf die weite Welt! Wer sich doch aufschwingen könnte wie ein Täubchen und fliegen mit dem Wind hin, bis wo der Jendrek wäre! Daß sie doch singen könnte über ihm in der Luft: ›Jendrek, kehre wieder, Brüderchen, komm zurück!‹

Als sie noch Kinder waren, nur mit dem Hemdchen angetan, da war er mit ihr über die Felder gegangen und hatte sie sorglich an der Hand geführt; und als sie größer geworden war und die Buben sie narrten, hatte er sich vor sie hingestellt und alle abgewehrt. Und die dicksten Äpfel hatte er für sie geholt aus dem Herrschaftsgarten und einmal sogar einen Salzhering aus der Herrschaftsküche. Er war immer ein sehr guter Bruder gewesen. Beim Raffen und Mandelaufstellen in der schweren Erntezeit war er ihr stets beigesprungen, und als sie dann später Stubenmädel geworden in Przyborowo, da war er freilich schon beim Militär gewesen, aber er hatte geschrieben:

›Liebe Schwester, gräme Dich nicht, wenn ich werde zurück sein, werde ich ihn verwammsen, wenn Du nur wirst sagen können, wer Vater ist.‹

Das konnte sie wohl sagen, aber was nutzte es ihr? Wie dürfte der Jendrek seine Hand erheben gegen einen so vornehmen Herrn? Seine Hand mußte er an die Mütze legen und strammstehen – ja, das mußte er! Ach, wie war das alles so traurig, so traurig!

»Heilige Mutter!« Ein Heiligenbild stand am Wege zwischen Dorf und Ansiedlung, da knickste die Weinende tief und schlug vielmals das Kreuz. Ihre Hände erhob sie flehend: mochte die da oben nun alles machen, wie sie's für gut fand! Die Großmutter saß ja nun neben der auf dem goldenen Thron, und die beiden würden jetzt wohl miteinander sorgen für die Michalina, bis der Jendrek heimkam.

Die traurige Michalina trocknete ihre Augen. Was hilft's, man muß ja getröstet sein! Nach Posen zurückkehren würde sie nun nicht mehr; die Mutter hatte auch gesprochen: ›Spare das Geld, das die Bahn kostet.‹ Amme konnte sie ja nun doch nicht länger sein; das kleine Kind kriegte jetzt ein Fräulein. Sie war nur noch gut, die Windeln zu waschen und die Dielen zu scheuern, und der Lohn war auch danach. ›Soviel‹, sagte die Mutter, ›kannst du auch hier verdienen, bleibe jetzt; vielleicht, daß du wieder einmal Glück hast, eine so feine Stelle annehmen zu können in der Stadt.‹

Michalina wußte nicht, ob sie sich darüber freuen sollte, daß sie nun hierblieb, oder traurig sein. In Posen hatte sie immer schönste Nationaltracht getragen: getollte Häubchen, weiß wie Schnee, schwerseidene Bänder – handbreit, bunt wie alle Farben des Regenbogens – einen Spenzer von Samt, Perlschnüre so viele, daß der Nacken sich bog. Wenn sie doch wenigstens die Tüllschürze behalten dürfte, sich darin zu zeigen am Festtag! Und zu arbeiten hatte sie dort gar nichts gehabt. Aber auf die Dauer hatte es ihr doch nicht behagt; das gute Essen, das bequeme Leben hatten sie dick gemacht, und sie sehnte sich nach ihrer vormaligen Schlankheit. Wie behend hatte sie sich bücken können, wie flink springen! Das Kattunmieder von früher wollte ihr jetzt gar nicht mehr passen, die Brust quoll über den Rand, die Haken platzten ab. Nein, es war nichts mit dem Faulenzen! Sogar der Kopf wurde einem dick davon, man kriegte Gedanken. Wo hätte sie sonst je Gedanken gehabt – gepriesen sei Gott! – wozu auch? Wenn man zu arbeiten hat und zu essen, ist's gut.

Nun würde sie wieder mit den andern Mädchen auf den Acker gehen und am Fest den Krakowiak tanzen und immer singen. Hell lachte sie auf bei dem Gedanken und sah dann hastig, ganz beschämt nieder: ei, das war doch nicht fein von ihr, daß sie lachte, heut am Begräbnis der Großmutter! Und die war doch so gut gewesen! Nun war die nicht mehr da, die dem Jasio den Brei gegeben und ihn auch gewaschen hatte. Der Großvater war zu taub, der hörte nicht, wenn der Kleine weinte, und die Mutter mußte zu Hofe gehen; aber sie würde es jetzt hören, denn er war ein niedlicher Knabe – Gott erhalte ihn, und die heilige Mutter schenke ihm Gnade! Als sie gestern angekommen war und sich über ihn gebeugt, hatte er mit beiden Händchen in ihre Perlenschnur gegriffen und sich so aufgerichtet auf seine Füße. Die Perlenschnur war zerrissen, aber es tat ihr nicht leid darum – so stark war das Bürschchen schon! Der würde einmal tüchtig die Sense schwingen bei der Ernte – und hatte er nicht jetzt schon brav Geld eingebracht?

Michalina fühlte nach jener Stelle ihres Unterrocks, wo sie, in einen Leinwandflecken eingenäht, Goldstücke barg. He, sie war jetzt gar keine schlechte Partie! Wollte Gott, daß sie einen braven Mann kriegte, der sie auch nicht schlug, und mit dem sie alt und grau wurde bei Sommersonne und Winterschnee!

Sie ließ ihre Blicke schweifen: hier war's noch immer geradeso wie vor anderthalb Jahren, als sie nach Posen gefahren war. Nur dort in der Ansiedlung waren der Häuser mehr geworden. Vorzüglich das eine Haus stach ihr in die Augen: Fenster rechts und links von der Tür, auch im Giebel eine blanke Glasscheibe, die Ställe ebenso wie das Haus und die Scheune mit Ziegeln gedeckt – das war einmal ein feiner Hof! Mußten das reiche Schwabby sein, die darin wohnten!

Bewundernd hafteten die Augen Michalinas auf dem Haus der Rheinländer. Sie konnte ihre Neugier nicht zähmen, sie ging rundherum um das Viereck und lugte dann an der Zaunseite in den Hof.

Eine Frau trat jetzt aus der Hintertür und schritt eilig dem Stalle zu. Bescheiden grüßte das Mädchen, verlegen errötend; die Frau nickte freundlich wieder, aber ihr Gesicht war besorgt.

Aus dem Stall drang dumpfes Muhen, es hörte sich gar kläglich an.

Michalina schaute, sich auf den Zehen reckend, neugierig über den Zaun weg in den geordneten Hof: wie fein! Da standen Eimer und Mistgabel in einer Ecke, keine Jauche floß, aller Mist war auf einen Haufen zusammengekehrt, an der Stallwand war hoch das Reisig geschichtet, hübsch in Bündel gebunden. So ordentlich war's hier wie in einer festtäglich geputzten Stube. In Posen hatte sie wohl schöne Zimmer gesehen, auch in Przyborowo war's stattlich gewesen, in Chwaliborczyce sollte sogar Samt an den Wänden hängen und das Sofa von Seide sein, wie die Stasia Frelikowska erzählte, aber einen so schönen Hof gab's gewiß nicht woanders!

Michalina staunte noch, als die Frau wieder aus dem Stall herauskam. Das Muhen wurde immer kläglicher; es klang schier menschlich, wie lautes Stöhnen.

Frau Kettchen war allein zu Haus, die Kinder waren noch nicht aus der Schule zurück, das Kleinste schlief in der Wiege. Die Männer, die mit Löb Scheftel noch nicht handelseinig geworden wegen des Gauls, waren heute mitsammen nach Miasteczko gegangen. Und gerade heute mußte es die junge, rotbunte Kuh überkommen! Die wollte kalben zum erstenmal. Was anfangen? Ratlos sah Frau Bräuer in die meilenweite Ferne: Jesus, Maria, Joseph, welch eine Lage! Wann kamen die Männer zurück? Der Weg war weit, und keine, keine Hilfe in der Nähe.

Verzweifelt irrten die Augen der Frau umher; sie weinte fast. Horch, wie jammervoll das Tier klagte! Sollte sie bei dem nächsten Nachbar anklopfen? Der würde doch nicht kommen, ihr Peter war nicht Freund mit ihm. Und mit dem zweitnächsten auch nicht; mit kaum einem hier. Er hatte ja auch recht, 's war ja meist Gesindel; aber nun war man so ganz allein hier, so ganz verlassen. Und allein traute sie sich nicht, Hand anzulegen; sie hatte nicht die Kraft – und wenn sie das Tier verletzte, das kostbare Stück?!

»Jesus Christus, erbarme dich!« seufzte sie in höchster Not.

Da traf ihr hilfesuchender Blick die verschämt lächelnde Dirne am Zaun. Frau Kettchen konnte nicht mehr an sich halten, weinend vor Angst schlug sie die Hände zusammen: »O Jesus Maria!«

Was war denn? He, warum weinte die reiche Ansiedlerfrau? Michalina wagte es, näher ans Gattertürchen zu kommen.

Frau Kettchen winkte ihr, da trat sie in den Hof. Beide sprachen sie zu gleicher Zeit aufeinander los und verstanden sich nicht; Michalina hatte auch bei der deutschen Herrschaft kein Deutsch gelernt, denn die sprach immer polnisch mit ihr. Aber das Brüllen der Kuh verstand sie. Vor der blonden, zitternden Frau her eilte sie zur Stalltür. Sie traten beide miteinander zur Leidenden ein. Ihre Blicke trafen sich; da nickte die stämmige Dirne ermutigend und streifte sich die Ärmel auf. –

Als Peter Bräuer und sein Sohn eine Stunde darauf nach Hause kamen, den gekauften Braunen hinter sich herziehend, fanden sie die Mutter geschäftig in der Küche; sie kochte einen Trank für die Wöchnerin. Was, die Rotbunte hatte gekalbt?

»Donner und Doria!« Ohne weiterzuhören, stürmten die Männer zum Stall.

Dort hatte Michalina unterdessen das nasse Stroh ausgemistet und frisches untergebreitet. Mit offenen Mäulern standen Bräuers Kinder, die eben aus der Schule heimgekehrt waren, an der Stalltür und glotzten, was die fremde Magd schaffte. Grade als die Männer auf die Schwelle traten, kniete das Mädchen, ihr Begräbniskleid hochgeschürzt über dem feuerroten Rock, bei der jungen Mutter und legte ihr den Säugling an. Liebreich stützte Michalina das auf seinen hohen Beinen noch schwache Tierchen beim Trinken mit ihren Armen. Sie gab dabei der Kuh, die, noch Angst im feuchten Blick der schwarzbraunen Augen, den Kopf nach ihrem Kälbchen drehte, Schmeichelnamen.

Des Mädchens braune Wangen waren gerötet; zutraulich in seiner Freude übers niedliche Kalb, nickte es den fremden Männern zu.

Diese standen erst verdutzt; Peter Bräuer runzelte sogar die Stirn: was wollte die Polackin hier? Aber dann vergaß er das Fragen vor Freude über das kräftige Kalb. –

Als Michalina ein wenig später den Bräuerschen Hof verließ, geleitete sie der Sohn bis vor die Haustür. Der Vater hatte ihm einen Taler gegeben – man durfte sich doch nicht lumpen lassen, vor dem Volk erst recht nicht –, und nun versuchte Valentin ihr das Geld in die Hand zu stecken. Aber sie widerstrebte: die Hilfe hatte sie aus freien Stücken und gern geleistet. Einmal der armen Kuh zuliebe und dann auch der Frau zuliebe, die sie so freundlich gegrüßt, nicht fortgejagt hatte vom Zaun, als sie neugierig dort gestanden. So gern Michalina auch sonst Bezahlung nahm, hier beleidigte es sie fast, daß man ihr welche anbot; der dankbare Händedruck der guten Frau hatte ihr wohlgefallen, und wenn ihr nun der schöne Bursche vielleicht auch noch die Hand reichen würde! Den Kopf heftig verneinend schüttelnd, wies sie das Geld zurück: »Nein, nein!«

Verlegen stand Valentin: also sie schien kein Geld annehmen zu wollen? Nun, dann würde er ihr später einmal eine Perlenschnur mitbringen oder einen Rosenkranz aus der Bude am Dom; aber es war doch unangenehm, daß er jetzt nichts für sie hatte – man darf sich nicht lumpen lassen, sagte der Vater.

Ihre blanken braunen Augen schauten ihm treuherzig, in offen gezeigtem Wohlwollen, ins Gesicht, ein Erröten nach dem andern jagte über ihre Wangen und machte sie hübsch.

Da wiederholte er lachend, was er gestern gelernt hatte: » Demi Buschi!«, bückte seine schlanke Gestalt hinunter zu ihrer kleinen, untersetzten und drückte einen scherzenden Kuß auf die errötende Wange.

Michalina war sehr vergnügt, als sie ihren Weg fortsetzte; der Tag hatte so traurig begonnen, noch klangen ihr die Sterbegebete in den Ohren, und doch mußte sie jetzt schon singen. Die Erde war gefroren, so hart, daß sie unter ihren Schuhen klapperte; die Krähen schrien hungrig über den toten Äckern, aber sie schaute doch unwillkürlich, ob da nicht irgendwo eine Lerche säße, ganz verborgen in beschneiter Furche. Ihr war, als hörte sie immerfort leises Gezwitscher. Da fing auch sie an zu summen; wehmütig und lustig zugleich klang das Liebeslied:

»O wär' ich ein Sternlein, wie droben
Am Himmel so viele stehen,
Ich blicke von droben herunter
Nur auf dich, mein Bürschchen, zu sehen!«

Immer wieder von neuem das Liedchen beginnend, trabte sie munter gen Chwaliborczyce. Als sie sich den Hütten der Hofleute näherte, hörte sie schon ihren Jasio schreien. Aha, noch niemand zu Hause, das Bübchen war immer noch allein! Unter der ausgehöhlten Schwelle lag der Schlüssel, rasch holte sie ihn hervor und schloß auf.

In Schäfer Dudeks einziger Stube war, trotzdem man mit Wacholderbeeren geräuchert und Essiglappen aufgehängt hatte, doch noch der ganze Leichendunst. Das Kind saß am Boden auf dem nackten Estrich und hatte sich ganz rot und heiß geschrien. Ei, das war ganz gut, so hatte es auch nicht gefroren!

Die junge Mutter legte flink ihr sonntägiges Kleid ab, zog den alten Rock der Großmutter an und schlüpfte in deren Pantoffeln; dann nahm sie ihren Buben auf den Arm. Von neuem summend, tänzelnden Schritts, begann sie ihn durch die Stube zu tragen.

»Ei, was fehlt denn dem Bürschchen, dem kleinen, daß es weint? Hat es nicht Härchen wie Flachs, einen Mund wie 'ne Kirsche, Äugelchen wie schwarze Beeren? Hat es nicht ein rotes Bändchen um sein Ärmchen, daß keine Hexe es behexen kann! Bschi, bschi – still, still! Ist das Gespenst mit dem gelben Bart und den langen Zähnen hinter dem Balken hervorgekrochen und hat dem Kindchen die Zähne gezeigt? Fürchte dich nicht, bschi, bschi! Geh, böser Wil, geh zu unartigen Kindern, mein Bürschchen ist lieb, mein Bürschchen ist brav! Mein Bürschchen bekommt ein Schlittenpferd, ein Kutschierwägelchen mit einem Glöckchen dran, und, wenn es groß ist, ein Schwert. Bschi, bschi, schlafe, mein Täubchen! Daß alle Engel dich hüten – bschi, bschi – Jesus, Maria, Joseph und der Heilige Geist!«

Michalina machte über ihrem Bübchen das Zeichen des Kreuzes und drückte es kosend an die volle Brust.

Jasio lächelte und schmiegte sich an; die Mutter lächelte auch, hell jauchzend schwang sie das Kind in ihren starken Armen hoch in die Höhe und wieder tief zum Boden und wirbelte sich dann mit ihm herum. Unterm Mützchen hatte sich einer der festgeflochtenen Zöpfe gelöst und hing ihr, stark und straff, über den Rücken; ein paar Haken am Mieder waren aufgeplatzt, unterm weißen Hemd quoll die weiße Brust, und in der weißen Brust klopfte das rote Herz.


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