Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel

Die Fahne auf dem Buckel des Lysa Góra hatte Doleschal umgestürzt gefunden am Morgen nach seinem Erntefest, die Stange zerbrochen und zertreten, in Atome zersplittert, die deutschen Farben zerfetzt. An den unteren Ästen der Kiefer waren noch ein paar Läppchen hängengeblieben, er nahm sie da herab; alles übrige hatte der Wind verweht, ersäuft im See.

Zu niemandem hatte er darüber gesprochen – Gott sei Dank, daß Helene nicht fragte! Er hatte auch nicht nach den Schuldigen geforscht. Wozu? Das hätte doch an der Tatsache nichts geändert. Eine schmerzvolle Scham hielt ihn ab: nur nicht darüber reden müssen! Der Mund war ihm wie verschlossen.

Jenen Schrei, den einzigen, aber lauten Schrei des aufjohlenden Triumphs am dunklen Abend vom Lysa Góra, hörte er immer noch; der hatte ihn nervös gemacht. –

Nun waren auch die letzten Mandeln längst eingebracht. Schwarz hing das Kartoffelkraut, und sein starker Geruch zog wie Verwesungsdunst über die Felder.

Der Przyborowoer war schon dabei, seine Rüben herauszunehmen. In Chwaliborczyce waren sie noch nicht so weit; in Niemczyce erst recht nicht, da stand die Rübenernte noch am längsten aus, denn der Boden war nasser, kälter als bei den andern.

Überall knallten Schüsse. Die Hasen, die sonst so frech im Acker gesessen und Männchen gemacht hatten, sah man jetzt nur in langgestrecktem Lauf auf der Flucht; die Rebhühner hatten längst den Reiz der Neuheit verloren, bloß die Bauern warfen sie noch mit Steinen tot.

Der herrschaftliche Förster Frelikowski lief herum und warb bereits Treiber, da sich ihrer von selber nicht genug meldeten, zu der ersten großen Hasentreibjagd auf Chwaliborczycer Flur. Nüchterne Leute sollten es sein – Trunkenbolde sind nicht verläßlich –, aber da er selber gern eins trank, nahm er es mit dieser Bedingung nicht so genau.

Beim ersten Novemberschnee würde die Jagd stattfinden, bis dahin waren ja die Äcker sämtlich blank, leer wie eine gekehrte Tenne. Die Einladungen waren schon ergangen: den Landrat hatte man zuerst bedacht und diejenigen Herren von der Kommission, die Jäger waren; und Doleschal.

Auch die Przyborowoer hatten angenommen; der Rittmeister war nach dem Manöver zu Hause eingetroffen, um sich bei vier Wochen Hasenjagd von den Strapazen zu erholen.

Paul Kestner schlenderte viel umher. Die Flinte über der Schulter, die Hände in den Hosentaschen, stieg er über die Felder. Nie ging er an einem Acker vorbei, ohne daß die Weiber, die beim Rübenausziehen so gebückt standen, daß sie mit der Nase den Erdboden berührten und man nichts von ihnen sah, als das in die Luft gereckte Hinterteil und die Waden bis zur Kniekehle, leise kicherten. › Pan Pawel‹, der war ein lustiger Herr!

Es verging fast kein Vormittag, an dem Paul Kestner nicht in Niemczyce erschienen wäre. Dann frühstückte er mit den Doleschals, und wenn Hanns-Martin zu tun hatte, blieb er bei Helene sitzen. Wenn sie nähte oder strickte – die Weihnachtsarbeiten für die Leutekinder fingen jetzt schon an –, guckte er unverwandt auf ihre schönen, schlanken Finger, die den dickwollenen Strickstrumpf hielten. Und beim Rasseln der groben Nadeln kam sein leicht entzündliches, alle paar Wochen neu entflammtes Herz zur Ruhe. Vor diesem Klappern und den friedlichen Augen dieser Frau flüchteten alle Gedanken, die ›nicht schneeweiß waren wie Lämmchen auf der Weide‹, sagte er lachend selber. Hier war er ganz der gute alte Freund – den flotten Husaren hatte er in der Garnison gelassen –, der mit Hanns-Martin einst Habichte in den verkrüppelten Akazien von Przyborowo gejagt und den Sandbuckel des Lysa Góra gegen die anstürmende Meute der Polenjungen verteidigt hatte. Sie hatten miteinander im See getaucht und zu gleicher Zeit die Schulbank in der Kreisstadt gedrückt. Der Ältere, Doleschal, war zuerst fortgekommen in die Welt. Sie hatten nichts Direktes voneinander gehört, Knabenfreundschaften pflegen sich nicht in Briefschreiben zu äußern, aber als spätere Jahre den Gardekürassier und den kleinen Husaren aus der benachbarten Garnison wieder zusammenführten, hatten sie stundenlang oft nichts anderes getan, als von ›damals‹ und von ›zu Hause‹ erzählt.

Als Hanns-Martin den Dienst quittierte, das väterliche Erbe übernahm und Helene, die Tochter des Herrn von Reder auf Klein-Höfchen freite, war Paul der erste Brautführer gewesen, der hinter dem schönen Paar zum Altar geschritten. Doleschal trug damals noch den Trauerflor um den Arm für den verstorbenen Vater, sein ›Ja‹ hatte sehr ernst geklungen, und der damals überschlanken Braut waren Tränen tiefster Bewegung auf den Myrtenstrauß geflossen.

Donnerwetter, wenn man doch auch eine solche Frau kriegen könnte! Aber eine zweite solche gab's eben nicht mehr.

Die Mutter, die gern Heiratspläne für ihren Paul schmiedete und nicht verfehlte, sämtliche erreichbare Töchter des Landes – vorausgesetzt, daß sie vornehm oder reich genug waren – ihm vorzuführen, hatte bis jetzt kein Glück gehabt. Wozu heiraten?! Der Rittmeister fühlte sich ja äußerst wohl in seiner Haut: »Laß doch Papa mit Kornelia erst mal den Anfang machen! Ich habe noch Zeit!«

Die Vierzehnjährige war in dem letzten halben Jahr gehörig in die Höhe geschossen. Ein allerliebster Racker! Der Bruder zog sie schäkernd am langen Zopf, der ihr nach Kinderart über den Rücken hing.

Ein allerliebster Racker war aber auch die Gouvernante, das Fräulein Wollenberg, trotz der etwas verdächtig geformten Nase und der zu gescheiten Augen. Der Rittmeister verschmähte es nicht, mit dem Fräulein oft und lange im Garten auf und ab zu promenieren und angelegentlich Konversation zu machen.

Kornelia hatte infolgedessen gute Zeit. Zu den Mahlzeiten brachte sie einen ganz intensiven Stallduft mit herein, immer steckte sie im Pferdestall; und wenn sie sich vor der Mutter Augen ganz sicher wußte, ritt sie sogar, ein Bein hüben, ein Bein drüben, die Pferde zur Schwemme in den Hofpfuhl.

Das gab mal eine tüchtige Landwirtin! Kestner bedauerte es aufrichtig, daß die Tochter nicht ein Sohn, und zwar nicht gleich der älteste, war; dann würde er doch vielleicht nicht an Verkaufen denken. Aber so –?! Er animierte den Sohn zu Besuchen in Chwaliborczyce.

»Ich mag nicht«, sagte der Rittmeister. »Die Garczyñska erwartet immer, daß man ihr die Cour schneidet. Und der Vikar, der immer da herumsitzt, ist mir unheimlich. Potz Kuckuck, so 'n junger Kerl muß doch auch noch Wünsche haben! Und er – Garczyñski selber – na, weißt du, Papa, dem traue ich erst recht nicht. Die einzig Nette ist die kleine Stasia, die Zofe – wirklich ein allerliebstes Mädel!«

Der Vater überhörte das letzte. »Ein sehr intelligenter Mensch, der Garczyñski – und so zuvorkommend! Kein Wunder, daß er diverse Orden hat. Ich muß gestehen, mir sind die Polen noch immer lieber als diese – nun, diese Leute, die sich jetzt auf einmal berufen fühlen, hier die Vorsehung zu spielen. Alle Welt stoßen sie vor den Kopf, ihr Deutschtum tragen sie in geradezu herausfordernder Weise zur Schau!«

Das ging auf Doleschal! Paul klapperte ungeduldig mit seinen langen, spitzen Nägeln auf den Tisch.

Sie saßen im Studierzimmer des Vaters. Draußen auf dem Hof kommandierte Kornelia, man hörte ihre spitze Jungmädchenstimme; sie ließ die kleinen Schecken anspannen, um zur Post nach Miasteczko zu fahren.

»Es ist ekelhaft«, grämelte der Vater weiter, »wozu das Geschrei? Wir sollen uns keine Wanderarbeiter aus Russisch-Polen mehr kommen lassen? Das wäre ja noch netter! Da könnten wir ja bald unter Armenlasten und dergleichen ersticken! So, wenn einer seine Arbeit getan hat und seine Bezahlung gekriegt hat, geht er eben wieder. Dem Doleschal werden sie schon noch die Haare vom Kopf fressen – na, mir kann's gleich sein! Nur uns soll er ungeschoren lassen.«

»Aber, Papa!« Der Rittmeister amüsierte sich über seinen alten Herrn. »Hanns-Martin tritt dir doch wirklich nicht zu nah, du siehst ihn ja kaum!«

»So, so – was du weißt! Ich sehe ihn nicht – ganz recht – aber ich höre ihn desto mehr. Er verdirbt alles hier! Rein alles! Ich bin wahrhaftig ein Reichsgetreuer und gut protestantischer Christ – unsre Familie hat seit Generationen den Protestantismus hochgehalten in der Provinz – aber warum denn dieser Trara mit Sedan? Das ist ja schon so lange her. Und was hat das mit hier zu tun? Er soll übrigens an dem Tag gerade eine höchst taktlose Rede gehalten haben; der Propst von Pociecha war tief verletzt. Und mit Recht. Ich sprach ihn kürzlich. Wir spielen manchmal 'nen Skat zusammen – ein ganz gemütlicher Herr. Das geht nicht, hier immer den Deutschen 'rausbeißen. Hier haben Polen und Deutsche mitsammen auf der Schulbank gesessen, hier können wir keine Hetzer brauchen. Und noch dazu sind wir ja auf die Leute angewiesen. Ich habe mich aber amüsiert, die Fahne auf dem Lysa Góra haben sie ihm 'runtergerissen und in tausend Stücke zerfetzt!«

»Lassen wir das, Papa!« Des Sohnes lachendes Gesicht wurde ernst, und er runzelte die Brauen. Was ihm Helene erzählt, ganz im geheimen – sie hatte ihn dringend gebeten, bei Hanns-Martin nichts davon zu erwähnen, durfte der doch gar nicht ahnen, daß sie darum wußte – das, was sie ihm mit bebender Stimme, Tränen des Zorns und der Kümmernis in den schönen Augen, anvertraut hatte, das wurde nun schon öffentlich bespöttelt!

»Ich muß doch sehr bitten!« Er sprang auf, wie die Herren im Offizierskasino aufzuspringen pflegen, und hielt sich sehr gerade. »Freiherr von Doleschal ist mein Freund. Kein Wort mehr auf ihn. Adieu, Papa!«

Er ging steif zur Tür und machte sie unsanft hinter sich zu.

»Na, na!« Ganz verdutzt sah ihm der Vater nach. Aber dann ärgerte er sich: was war denn das für eine Manier? Und das alles wegen Doleschal?!

Er trat ans Fenster und sah Paul auf den kleinen Wagen klettern, den Kornelia eben vom Hof herunter kutschieren wollte. Wahrhaftig, da fuhr der Junge mit, und sie hatten sich doch verabredet, zusammen zu den Fohlen zu gehen! Noch schöner, nun hatte man schon mal endlich den Sohn hier und hatte doch nichts von ihm.

Ein heftiger Zorn gegen Doleschal erhob sich in ihm: wäre der doch, wo der Pfeffer wächst! –

Die Geschwister fuhren gen Miasteczko. Kornelia hatte sich die Zügel nicht nehmen lassen. Der Husar fand rasch seine gute Laune wieder. Die Kleine fuhr ja wie ein Daus, immer auf dem Strich, trotz des miserablen Weges! Er fragte sie aus nach Fräulein Wollenberg: wie alt war die eigentlich, noch unter zweiundzwanzig?

»So sagt sie.« Die Kleine lachte verschmitzt. »Weißt du, die, die ich voriges Jahr hatte, sagte zwar auch so, aber sie war viel älter; so gräßlich alt ist die jetzige nicht. Fräuleinchen ist ganz nett, was, Pawelek?« Die Augen halb schließend, so daß die langen Härchen der Wimpern sich goldig auf die leicht besommersproßte blühende Wange legten, blinzelte sie den großen Bruder an.

Der Rittmeister hatte sich selten so gut amüsiert wie auf dieser Fahrt mit der kleinen Schwester. War die ein gescheites Mädel! Über alles wußte sie Bescheid: was dieser Acker einbrachte und jener, wie der Roggen gelohnt und wie hoch die Weizenpreise, und daß Papa verkaufen wollte – an die Kommission natürlich, wer sollte sonst so hoch bezahlen? Das Verkaufen war Kornelia unangenehm. Sie wollte gern auf dem Lande bleiben, was sollte man in der Stadt? Wie ein Stoßseufzer klang's: wenn doch einer käme und sie heiratete, der ein recht großes Rittergut hätte! Am schönsten wäre schon eine Herrschaft. Schade, daß der Boleslaw von Garczyñski erst fünfzehn war, Papa würde gar nichts gegen den haben.

Angeregt plauderte sie weiter: wußte der Bruder schon, daß der Inspektor ging? Mama konnte ihn nicht mehr sehen. Es hatten sich schon andere gemeldet, aber Papa hatte sich noch zu keinem entschließen können; im Winter war ja sowieso faule Zeit, vielleicht, daß Papa einen dann ganz sparen wollte. Wenn doch ein recht netter genommen würde, ein junger, nicht so ein alter Knopp!

Sie sagte ›Knopp‹, nicht ›Knopf‹, und beide Geschwister lachten herzlich darüber.

Der leichte Wagen flog lustig dahin. Weiße Fäden flogen auch lustig über das Land. Altweibersommer. Aber heute merkte man es der Natur gar nicht an, daß sie traurig war über ihre scheidende Jugend. Die Sonne lachte noch einmal freundlich, nicht wie im Sommer – da tat sie weh –, aber wie in einem guten April. Klar wie reines Glas war die Luft. Man konnte noch weiter sehen als sonst, als sei der Horizont in ewige Fernen gerückt. In den Akazien von Przyborowo flüsterte ein Windchen und schaukelte die reifen Fruchtschoten.

Der See von Miasteczko, an dessen hinterem Sandzipfel sich das kleine Städtchen mit der großen Kirche um den freistehenden Glockenturm scharte, wurde gekräuselt von Wellen und Wellchen. Milchiges Weiß schwamm auf dem heut tiefblauen, himmelfarbenen Becken; der mutwillige Wind hatte darin Schaum geschlagen. Kräftigen Odem hauchten das letzte Grün der Raine und die schon wieder neu eingesäten feingedrillten Äcker aus. Der Abdecker, der sonst, dicht beim Städtchen, die Luft verpestete, hatte nichts in Arbeit.

Ganz oben auf der Himmelsbahn tummelten sich unzählige runde, weißwollige Wölkchen gleich Lämmern, die auf der Weide springen; und wie ein Aufpasser stand schon der blasse, schmalwangige Halbmond bei ihnen.

Es war wirklich schön.

»Hui, het!« Mit dem gellenden Zuruf, den sie vielhundertmal im Felde gehört hatte, feuerte Kornelia ihre russischen Schecken an. Fast wäre Inspektor Hoppe überfahren worden, der vom Städtchen her dem Wagen entgegenkam. Er war auf der Post gewesen und so vertieft in die Briefschaften, die er sich abgeholt hatte, daß er gerade vor die Pferde rannte.

Kornelia riß sie noch eben zurück.

» Psia krew!« und brummte dann ein »Dämelack« bei seinem Gruß.

Er war in den Weggraben gesprungen; mit trübem Ausdruck sah er dem Wagen nach, dann ging er langsam weiter wie einer, der müde ist. Der Briefbogen, den er entfaltet in der Hand hielt, zitterte – oder war es der Wind, der ihn knisternd schwanken machte?

Der letzte Brief – wieder eine Absage! Und auf so viele Annoncen hin hatte er sich gemeldet, selber soundso viel Offerten eingerückt. Einen Inspektor, der den Fünfzigern nicht mehr viel näher ist als den Sechzigern, den nimmt man nicht; warum blieb der nicht auf der Stelle, auf der er elf Jahre lang gewesen?

Ein unendlich bitteres Lächeln verzog das wetterzergerbte Inspektorengesicht. Ja, wenn er noch jung wäre, frisch und kräftig wie der Herr Rittmeister dort auf dem Wagen, oder wenigstens um zehn Jahre jünger als jetzt, da käme er wohl schon an! Damals, als ihn das Mißgeschick getroffen, als er, kein weiteres Vermögen im Rückhalt, sein Gütchen nicht hatte halten können, als alles unter den Hammer gekommen, ihm nichts zu eigen geblieben war, als der Stock in der Hand und der Rock auf dem Leib, damals war er nicht so unglücklich gewesen wie heute. Er hatte rasch eine Stelle gefunden, trotz seines Bankerotts – vielleicht gerade darum: man denkt, so einer macht wenig Ansprüche. Auch Herr Kestner hatte sich vor elf Jahren nicht daran gestoßen, jetzt aber hieß es immer: ›Schlechte Wirtschaft!‹ Grämlich wurde es ihm zum Anhören gegeben, alle Tage – das eigne Unglück. Und so hatte er selber gekündigt, überwältigt von seinem Gekränktsein, fortgerissen von einer Empfindlichkeit ohne Besinnung, wie ein Jüngling. Er war dem Herrn damit entgegengekommen, das fühlte er wohl. Herr Kestner hatte zwar verwundert getan, geradezu gekränkt, aber dann die Achseln gezuckt: »Wenn Sie denn durchaus wollen, lieber Hoppe! Ich denke, wir haben lange genug zusammen gewirtschaftet, um zu wissen, was wir aneinander haben. Aber ich will Ihnen nicht im Wege sein.«

Wohin – wohin nun?!

Mit einem verdüsterten Blick sah der alte Mann um sich: da war der Acker, den er nun elf Jahre bestellt hatte, als sei er ihm selber zu eigen. Wenn man nichts Teures auf der Welt hat – die Eltern längst im Grab, Frau und Kind nie besessen, nichts, für das man zu sorgen hat und das für einen sorgt –, dann hängt man sein Herz an ein Stückchen Erde. Und es war ein dankbares Land, dieses Land von Przyborowo. Nie hatte es ihn enttäuscht. Wo gab es so schweren Weizen, so zuckerhaltige Rüben? Keines der Güter ringsum konnte konkurrieren, und wenn Herr Kestner ewig klagte, so geschah das mehr aus Angewöhnung.

Der Inspektor bückte sich und raffte eine Handvoll Erde vom nächsten Acker. Das war schwarze, gut gedüngte, schwere Krume. Den Schweiß, der auf sie niedertroff, zahlte sie reichlich wieder. Und hier sollte er nun nicht mehr herumwandern – wenn es auch oft mit müden Füßen geschehen – hier diese Wintersaat sollte er nicht mehr aufgehen, nicht mehr fett grünen sehen unterm Schnee?!

Ein Schmerz ohnegleichen bewegte sein einsames Herz, und zugleich übermannte ihn die Bitterkeit. Er haßte den Besitzenden – wußte der denn eigentlich, was Liebe ist? Ja, wenn hineinstecken, um doppelt herauszupressen, wenn das Liebe ist, dann liebte Herr Kestner in der Tat sein Przyborowo.

Mit einem tiefen Seufzer setzte sich Hoppe auf den nächsten Grenzstein. Er fühlte sich auf einmal so müde; die Füße waren ihm dick geworden in den schweren Schmierstiefeln. Nun merkte er's erst, daß er schon viel zu weit gegangen war; der Gutshof von Przyborowo lag ihm bereits im Rücken. Nur Hahngekräh schrillte noch von dort bis hierher. Hier fing schon Niemczyce an.

Niemczyce – hm, auch ganz nett! Der Niemczycer plagte sich redlich, das mußte man zugeben. Die Brache war auch schon umgebrochen, – da stand eine Drillmaschine – aber – aha, der säte jetzt erst ein. Mit liebendem Stolz vergleichend, blickten des Inspektors Augen hinüber und herüber: mit Przyborowo war's nicht in einem Atem zu nennen.

Dort, mitten im Acker, lag ein Luch. Ja, Niemczyce war etwas naß – schade, trotz allen Drainierens entschieden zu naß – und sieh, wie unvermittelt, gleich neben dem schweren Land wieder ein Sandstreifen! Hm, komplizierte Bestellung.

Kopfschüttelnd war Hoppe aufgestanden und niedergestiegen zum umbuschten Tümpel. Nun stand er an dessen Rand, zwischen dem Weidengestrüpp, und guckte ins Wasser.

Schnitter und Schnitterinnen badeten hier am heißen Tag; es war zwar verboten – das Luch war tückisch, in der Mitte stieg es einem ausgewachsenen Mann bis unters Kinn, eine ungeschickte Bewegung nur, und, schwupp, hatte man den Mund voll Wasser – aber die leichtsinnige Jugend badete doch und lag dann in den Büschen, wo die Störche spazierten. Jetzt waren die Störche auch schon fort, fort wie alle Freuden.

In tiefer Niedergeschlagenheit stand der müde Mann. Ach, wäre man doch auch erst fort! Aber nicht wie jene, um nächstes Jahr wiederzukommen – nein, ganz fort!

Wohin – wohin?! Der Winter war vor der Tür! Wie lange noch, und dieser Kopf beugte sich schneeweiß.

Eine plötzliche Verzweiflung packte den Heimatlosen. Schweiß trat ihm auf die Stirn, sein Gesicht verzerrte sich wie im Krampf. ›Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an‹, hatte Herr Kestner gestern als Text der abendlichen Betrachtung gelesen – wer tat ihm, ihm denn auf? Niemand! Er hatte keine Stelle und würde auch keine mehr bekommen, er war ja alt.

Immer heftiger wurde das jähe, schreckliche Gefühl, das ihm so am Herzen riß, daß die Hand zitterte und alle Glieder mitzitterten, ohne Kraft zum Widerstand. Das Maß war voll bis zum Rand, voll wie das tiefe Luch hier, das der Herbstregen geschwellt – nur ein Schritt tat not!

»Hoppe! Pst, Herr Hoppe!«

Eine Stimme rief aus den Büschen, ganz leise, doch für den Zusammenschreckenden überlaut.

Hinter einer Strauchweide richtete sich der Niemczycer auf. Dort hatte er auf den Knien gelegen, das Gewehr im Anschlag.

»Aber, bester Hoppe, pst – gehen Sie weg, weg da!« Er winkte. »Sie verscheuchen mir ja alle Wildenten! Husch – da haben wir's!«

Ein kleines Volk der buntschillernden Vögel war aufgeschwirrt; der Schuß knallte zwar, aber unverletzt fielen die Enten an einer entfernten Stelle des Röhrichts wieder ein.

Mit einem unbefangenen Lachen kam der Niemczycer auf den Erschrockenen zu.

Der stand da wie ein ertappter Knabe.

Doleschals Augen blieben, trotz des Lachens, ernst; sie forschten in dem zerwühlten Gesicht. »Hören Sie mal, Hoppe, meine Frau wird Ihnen sehr böse sein, wenn ich heute, ohne was geschossen zu haben, nach Hause komme; sie rechnet auf ein paar Enten. Gehen Sie mal hier weg, mein bester Inspektor! Zum Kuckuck, was haben Sie denn an meinem Luch zu suchen?«

Das klang alles sehr scherzhaft.

»Herr Baron, Herr Baron«, stotterte der sehr Blaßgewordene. Weiter brachte er nichts heraus. Die Knie knickten ihm ein. Sein Gesicht verzog sich, wie bei einem, der weinen möchte. Es war ein kläglicher Anblick.

»Hören Sie«, sagte Doleschal und drängte den andern leicht vor sich her, die Böschung hinauf aufs Ackerland, »hätten Sie jetzt vielleicht ein wenig Zeit für mich? Ich würde gern über einiges Ihre Meinung hören. Sie sind ein so gewiegter Fachmann.«

»Ich – ich?! Oh, Herr Baron!« In einem harten Lachen rang die Bitterkeit nach Ausdruck. »Ich verstehe nichts, gar nichts. Fragen Sie Herrn Kestner – ich bin entlassen!«

»So, also darum –«, das fuhr Doleschal so wider Willen heraus, er versteckte es unter einem Räuspern. Und dann sagte er, hinter einem harmlos gleichgültigen Ton sein Mitgefühl verbergend: »Wenn ich bitten darf, hier entlang! So – bitte, nach meinem Gerstenschlag zu!«

Er ließ den andern vor sich her durch die Ackerfurche schreiten, blieb ihm aber immer dicht auf den Fersen.

»So – also Sie gehen von Przyborowo fort?«

»Ja, ich gehe!« Der Inspektor sah nicht den ihm dicht Folgenden, er hörte nur eine Stimme im Wind, wie einen freundlichen Klang aus bessrer Zeit. Und er redete, gleichsam zu sich selber, immer vor sich hin, in den Acker hinein: »Ich habe eine schlechte Stellung gehabt – elf Jahre bin ich bei Herrn Kestner gewesen – ich habe auch die verloren. Ich habe Unglück gehabt – unsereiner hat immer Unglück –, wer keinen Geldsack hinter sich hat, der hat keine Berechtigung zum Glück. Krepieren sollte er lieber gleich, der Hund!«

Er schrie das letzte heraus.

Sichtlich unangenehm berührt furchte der Niemczycer die Stirn: war das ein gehässiger Mensch, der reine Sozialdemokrat! Aber es war doch ein Unglücklicher. Und so blieb sein Ton freundlich, wenn er auch um eine Nuance kühler wurde. »Seien Sie außer Sorge, Herr Hoppe, für Sie findet sich leicht etwas!«

»Für mich – für mich? Haha! Für mich findet sich nichts. Ich weiß das jetzt besser. Hab's auch gedacht und habe gekündigt – ich selber Herrn Kestner! Und doch, wenn er jetzt sagen würde: wollen Sie bleiben? – ich weiß nicht, ob –!« Er stockte und drehte sich dann plötzlich jäh nach dem hinter ihm Schreitenden um. »Sehen Sie, Herr Baron, solch ein Hund wird man. Aber« – er lachte wieder auf, daß es dem Hörer weh tat – »er sagt's ja gar nicht. Er ist ja froh, mich loszusein. Ich bin ihm zu alt. Und sie, die Gnädige, die mag mich nicht leiden, die –«

»O bitte sehr, Herr Inspektor, lassen wir das!« Der Niemczycer machte eine abwehrende Handbewegung. »Es interessiert mich nur, was Sie jetzt zu tun gedenken. Werden Sie nach Posen ziehen, bis Sie etwas gefunden haben?«

»Sie hören doch, ich finde nichts! Ich bin vierundfünfzig Jahre – noch älter, denn ich bin verbraucht!« Hastig riß der Inspektor seinen Rock auf und suchte mit zitternden Händen nach der Brieftasche. »Hier: eins, zwei – sechs, sieben, acht Briefe! Da – da – da –! Lesen Sie! Immer abschlägig beschieden! Und mehr als fünfzig solcher Wische hab' ich noch zu Hause. Auf jedes ›Inspektor gesucht‹ habe ich mich gemeldet, gleichviel wohin. Und selber inseriert – wie oft! – mehr als ein ganzes Monatsgehalt hat's mich gekostet. Immer umsonst. Immer: zu alt, zu alt, zu alt – ich kann's nicht mehr hören, ich kann's nicht mehr ertragen! Oh, Herr Baron« – ein trockenes Schluchzen erschütterte die Gestalt des Mannes, der zermürbt war wie ein von Gewürm und Wetterunbill ausgehöhlter Akazienstamm an der Straße von Przyborowo – »hätten Sie mich doch ruhig gelassen! Mit mir ist's doch vorbei!«

Eine Klage tönte aus der rauhen Stimme, die Doleschal erschütterte. Wie, hatte er's nun doch wieder nicht recht gemacht? Zurechthelfen hatte er doch gewollt!

»Hätten Sie mich gelassen« – eine Verantwortung für dieses Leben legte sich plötzlich auf seine Seele. Seine Hand hatte diesen vom Tode zurückgehalten, seine Hand mußte ihn nun auch stützen!

Inspektor Hoppe nahm die Mütze ab und fuhr sich durch sein ergrautes Haar. »Ein paar Groschen habe ich mir erspart«, sagte er tonlos, »viel ist's nicht. Ich habe noch lange Zeit Schulden nachgeschleppt. Und wenn man auch freie Station hat, Kleidung und Stiefel müssen doch sein – anständige Kleidung, man kann nicht wie ein Bauer zu Tisch kommen, wenn die Herrschaften befehlen – und ein Pfeifchen und 'ne Zeitung sind doch nicht gerade Luxus, und über landwirtschaftliche Neuerungen soll man doch auch informiert sein. Zum Hinfristen bis zum Sterben – wenn's nicht zu lange währt bis dahin – und dann zum Begrabenwerden würd's nun vielleicht reichen. Aber leben ohne den Acker, ohne das hier« – er breitete beide Arme gegen das Land – »Herr Baron, das kann ich nicht! Gott sei mir gnädig, ich kann's nicht, Herr Baron!«

Der helle Tag hatte sich verdunkelt; über die freundliche Sonne waren Wolken gezogen, und sie zeigte sich auch nicht mehr.

Doleschal fühlte den winterlichen Hauch, der ihn streifte. Eine Sehnsucht überkam ihn nach Helene, nach den Kindern, nach seinem Glück, aber zugleich auch ein Mitleid, das ihm jede weitere Überlegung raubte. Nein, dieser alte Mann sollte nicht von hier gehen!

Er zauderte nicht; wie ein edles Pferd, das dem leisesten Sporndruck gehorcht, gehorchte er einer ritterlichen Regung. »Herr Hoppe, wie wär's, wenn Sie bei mir einträten? Bis jetzt habe ich mich auf dem Vorwerk mit einem einfacheren Inspektor, sagen wir Wirtschafter, und auf Deutschau selber mit Vögten beholfen, aber es wäre doch ganz gut – es wäre wirklich wünschenswert, ja, ich – ich –« er suchte nach einem glaubhaften Vorwand, und plötzlich fiel's ihm ein: »Ich könnte dann so viel mehr für die Allgemeinheit leisten.« Mit einer aufquellenden Freudigkeit sagte er das, der Gedanke war ihm gekommen, wie ein schneller Lohn für eine freundliche Tat. Fast im Ton eines Bittenden wiederholte er noch einmal: »Wie wär's?«

Und als der andere ihn mit großen, ungläubigen Blicken, in denen es aber doch wie von aufsteigender Hoffnung glimmte, anstarrte, nickte er lächelnd: »Helfen Sie mir, damit mir Zeit bleibt, auch noch einer andern Pflicht zu gedenken. Deutsch werden, aber auch deutsch bleiben, das dünkt mich ein Ziel, aus allen Kräften anzustreben. Und sollte es auch Opfer kosten!« –

 

Der alternde Mann und der auf der Höhe des Lebens stehende gingen miteinander über den Acker. Ringsum war die große Ebene. Nichts Ragendes weit und breit als der schwarze Kirchturm von Pociecha-Dorf und der Schäfer Kuba Dudek in seinem schmutzigen, einst weißen, jetzt auch fast schwarzen Schafspelz.

Der Schäfer stand bei seiner Herde, seltsam groß und hager, auf seinen langen Stab gestützt und schaute angestrengt hinüber zu den zweien, die da so ganz vertieft miteinander redeten. Was sie sprachen, verstand er nicht, auch wenn er es hätte hören können – die sprachen ja deutsch, die Hunde!

Er machte eine Faust hinter ihnen: dort, der Niemczycer, der dem Land auf den Nacken tritt, der Teufel, der allerschlimmste! Und neben ihm der andere, mit wirrem Haar und bösem Gesicht, einer wie der Räuber Zagac, der im Korn raubt. Ei, er, Kuba Dudek, der schon ein langes Leben gesehen, wußte gar wohl, was das für Vögel waren, wenn sie auch ein gar feines Lied zwitscherten, Polen zu betören. Aber nein, das würde ihnen nie gelingen!

Der Alte öffnete seine kleinen, sonst immer von den schrumpligen Lidern halb verdeckten Augen mit einem innigen, sehnsüchtig-traurigen Ausdruck weit. Er suchte den Berg dort am Rande des Sees, der alle Tage schaute, was der Böse trieb – jenen Berg der Verheißung, darinnen die Hoffnung schlief.

Hunderttausend Ritter und noch viele mehr, ein ganzes großes Heer, schlafen tief im Lysa Góra. War es noch nicht an der Zeit? Würden sie noch nicht bald erwachen, aufstehen zu Polens Befreiung?

Horch! Ach, noch rührte sich kein Waffengeklirr im Lysa Góra. Noch klang nicht Kommandoruf und Marschieren im Takt. Noch war die Zeit nicht da.

Zitternd vor Inbrunst ließ der Alte seinen Stecken fahren; das Gesicht zum Berge gekehrt, streckte er bittend die Hände aus. Halb singend, halb sagend, ohne Melodie in eintönigem Rhythmus, klagte er in den Wind:

»O, mein Polen, wann wirst du vom Schlaf auferstehen?!
Wann, mein Polen, zerbrichst du das Eis und stehst wieder blühend?!
Ein Jahrhundert schon liegst unter Schnee du und schlummerst.
Wann steht der Sturzbach der Lüge still? Wann straft Gott die Hunde?!
Wann erhellt sich dein Angesicht, Polen, meine Mutter?!
Wann wirst du dich setzen mit deinen Kindern zur Hochzeit?!
O wann?! Gib Antwort! – Werde auch ich dich noch sehen?!«


 << zurück weiter >>