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Neuntes Kapitel

Doktor Wolinski in Miasteczko war nicht zu Hause gewesen, als der Wagen gekommen war, ihn nach Chwaliborczyce zu holen. Da hatte sich der Kutscher, auf den Herrn Doktor wartend, in die Schenke gesetzt, durch deren Ladenritzen noch Licht schimmerte; der Schenkwirt neben Löb Scheftel hatte auch Bäckerei, darum kümmerte ihn die Polizeiverordnung nicht, denn wer konnte wissen, ob er Brot buk oder Schnaps schenkte?

Doktor Wolinski war nach Pociecha-Dorf gefahren. »Spaß, hab ich 'ne Fahrt gehabt«, hatte Löb Scheftel, der ihn rufen gekommen, gejammert und die Hände hoch erhoben. Er hatte es mit der Ciotka sehr gefährlich gemacht. Nebenbei interessierte den Arzt dieser Fall noch ganz besonders – wie, ein polnisches Weib, angeschossen von einem deutschen Herrn?

Die junge Frau Wolinska, die, in Nachtjacke und Nachthaube, sich und den Chwaliborczycer Kutscher mit der Versicherung tröstete, der Herr Doktor käme nun bald, wurde Lügen gestraft.

Als Wolinski in seinem vom Vorgänger übernommenen alten Kutschkasten von der Hütte der Ciotka zurückgerasselt kam, war er an der Propstei aufgehalten worden. Der junge Vikar war unbedeckten Hauptes herausgeeilt und hatte ihn gebeten, doch einmal einzutreten. Und Wolinski war gern gefolgt; die Nacht war rauh, ein Glas Ungar würde erwärmen – und überdies drängte es ihn zu einer Aussprache. Mit der Ciotka stand's zwar weiter nicht gefährlich – bei richtiger Behandlung würde die Ladung Feinschrot im Gesäß keinerlei nachteilige Folgen haben – aber war die ganze Sache nicht doch empörend und tief betrübend? Armes polnisches Volk, fremdherrlicher Ausnutzung, fremdherrlichem Übermut ausgesetzt! Diese Sache mußte in die Zeitungen. Eine genaue Schilderung mußte gegeben werden. Das arme Weib! Nun lag es darnieder, nicht imstande, seiner Arbeit nachzugehen; infolgedessen war die Hütte kalt und kein Labetrunk da für die dürstenden Lippen.

Der Doktor erregte sich sehr; leidenschaftlich bebten seine Lippen: nein, dieser Notschrei durfte nicht ungehört verhallen!

Piotr Stachowiak, der Propst, hörte zu mit rotem Kopfe. Er vergaß dabei nicht, sich einzuschenken. Stöhnend rieb er sich ab und zu die mit Flanellbinden dick umwickelten Beine. Au, wie das bohrte und riß und stach! Jede Aufregung mußte er büßen. Mit Zetern war ihm, noch in seinem besten Nachmittagsschlaf, die Köchin in die Stube gestürmt; und einen Zusammenlauf hatte es auf der Gasse gegeben, daß man hätte meinen können, das Dorf brenne.

Seit er seiner leidenden Beine wegen sich so wenig Bewegung machen konnte, war Piotr Stachowiak cholerisch geworden. Mit einem » psia krew« ließ er jetzt die Faust, die noch immer eine Bauernfaust geblieben, schwer auf den Tisch fallen: wer hieß das dumme Weibsbild denn auch treiben?

»Sie ist arm!« sagte der Vikar, weiter nichts, und schloß dann herb die Lippen.

»Sehr richtig, sehr richtig!« Wolinski nickte ihm zu. »Sie sagen's in drei Worten, Herr Vikar. Das empört ja gerade so, daß die Armut unsre Landsleute zwingt, den fremden Herren aufzuwarten. Empörende Zustände! Armut hat es natürlich immer gegeben, aber noch zu meiner Knabenzeit nicht in dem Maße. Die letzten fünfundzwanzig Jahre haben uns wirtschaftlich grausam zurückgebracht. Deutsches Gesindel, das es daheim zu nichts gebracht hat, macht sich hier breit und bereichert sich. Ist es nicht zu bitter, unser Bauer muß zusehen, wie sein Land, seine Muttererde, die er seit Generationen mit seinem Schweiß gedüngt hat, verschleudert wird zu halbem Preis, halb verschenkt wird, an fremde Ansiedler? Unsre alten polnischen Edelsitze werden umzingelt, belaufen, überkrochen von diesen – diesen –« Heftig suchte er nach einem Ausdruck.

»Sagen Sie: Wanzen. Wanzen.« Piotr Stachowiak lachte gemütlich. »Brüderchen, man weiß doch, ist erst ihrer eine wo, sind ihrer auch gleich viele da. Nicht weit von Biala hatte ich meine erste Stelle – Hasen und Füchse sagten sich da Gutenacht, aber Wanzen waren da genug. Und hier, na«, – er machte eine kleine Pause und beschmunzelte wohlgefällig seinen Witz – »hier herum haben wir nun schon an die Hunderte!«

Der Doktor lachte nicht mit. Um Górkas ausdrucksvollen Mund zog ein flüchtiges Lächeln, aber etwas Verächtliches war in diesem Lächeln.

Wolinski sagte ernst:

»Kann man es unserm Adel verdenken, daß er sich fortmacht aus dieser Nachbarschaft? Und – was fast noch schlimmer ist – unser Landvolk verläßt uns auch. Unsre Burschen, unsre Mädchen – Polens Zukunft – ziehen zu fremden Ernten, in die Fabriken des Rheinlandes, Gott weiß wohin. Unsern Landsleuten hat man die Söhne verschickt, hundert Meilen weit, zum Militär, nun bleiben die da, wo sie Lohn finden. Was sollen sie auch hier? Unser Wohlstand liegt danieder, wir haben kein Geld. Und ›deutsche Arbeiter, nehmt deutsche Arbeiter!‹ ist die Losung. Der Pole muß nachstehen!«

»Sie würden aber doch wohl keinem Polen zureden, bei einem Deutschen Arbeit zu nehmen?« sprach rasch der Vikar. » Eine Mark Tagelohn bei einem polnischen Besitzer ist besser als zwei Mark bei einem solchen Deutschtumsförderer.« Er schwieg einen Augenblick und setzte dann hinzu im Ton einer überzeugenden Feierlichkeit: »Gott wird ihm diese eine Mark verdoppeln; er wird mit ihr ebenso weit reichen wie mit jenen zweien!«

»Sehr gut, sehr gut«, rief Piotr Stachowiak erfreut, »das werde ich mir merken! Das ist mal ein einleuchtender Trost.«

»Ja«, – der Arzt zuckte die Achseln und seufzte – »dann müssen wir eben zusehen, daß unsre strammen Burschen, unsre frischen Mädel fremdem Land ihre Jugendkraft geben. Daß von polnischen Müttern polnische Kinder geboren werden, die doch deutsch sprechen und deutsch denken!«

»Sie irren!« Górka lächelte fein. »Deutsch sprechen – vielleicht! Aber deutsch denken, niemals!«

»Wieso?!« Wolinski hob den Kopf, den er kummervoll in die Hand gestützt hatte, und sah den Vikar an: dieser junge Mann mit der schmächtigen Gestalt hatte eine Unbeugsamkeit im Ausdruck, eine Zuversichtlichkeit im Ton, die wahrhaft beruhigte.

»Trinkt, Brüderchen, trinkt!« schwatzte Piotr Stachowiak dazwischen und schenkte die Gläser voll. »Prost!« Er stieß gegen das noch unberührte Glas seines Vikars: »Alles kann er, nur das Trinken nicht! Zulpt den ganzen Abend an einem Gläschen. Gelobt sei Jesus Christus und seine Mutter Maria – ja, die Hand unsers Herrn Erzbischofs reicht weit!« Behaglich dehnte er sich: »Sehen Sie, Doktor, mein Seelchen, wenn mir hier so 'n Mädel in die Ernte zieht oder in die Fabrik oder sonstwohin in Dienst, dann rede ich erst mit ihr – ich!« Er stieß sich mit dem plumpen Zeigefinger vor die Brust und nickte bekräftigend. »Und da ist wirklich keine, die meine Mahnung vergäße.«

»Ach, ich bitte Sie, Hochwürden, wie wollen Sie das kontrollieren?« Der Arzt war noch nicht überzeugt, bedenklich schüttelte er den Kopf. »Da müßte man doch der miserabelste Stümper im Beruf sein, ein Esel, wenn man nicht wüßte, daß, wenn das heiße junge Blut wallt, alles andre vergessen wird. Polnisch – deutsch – a bah, da gibt's dann kein Bedenken mehr, alles egal!«

Wieder spielte das feine Lächeln um den Mund des Vikars. Er war aufgestanden; die eine Hand auf den Tisch gestemmt, reckte er sich, als sei ihm die eigne Länge noch nicht lang genug. »Und wenn auch! Haben Sie aber je gehört, daß eine Mutter ihrer Kinder vergäße? Und wären sie noch so weit, unsre Kirche wird immer über sie wachen.« Er setzte sich wieder.

»Ja, ja, ich weiß wohl, man tut sehr viel: eigne Gemeinden, eigne Geistliche, eigne Zeitungen, eigne Kassen – aber –«

»Na, siehst du wohl, Doktorchen«, – der Propst hub sein dröhnendes Lachen wieder an – »warum denn bange sein?«

»Sie werden ausziehen und Seelen gewinnen, weit eher, als daß sie die eigne verlieren«, sprach Górka.

»Sehr richtig!« Der Propst sah fast zärtlich-bewundernd seinen Vikar an. »Du verstehst's! Doktor, da sehen Sie mal«, – er streckte das eine umwickelte Bein steif von sich – »was sollt' ich bloß machen, wenn ich den Górka nicht hätte?!«

»Nicht so viel trinken«, mahnte der Arzt.

»Trinken – trinken, psia krew, was Sie da sagen! Mal ein Gläschen! Was soll man denn machen die ganze Zeit?!«

»Na ja, man weiß schon!« Wolinski lachte. »Aber, eh' ich's vergesse, sagen Sie mal, Hochwürden, säuft das Weib, die Ciotka? Die Nase sieht so aus; der Puls ist auch danach.«

Piotr Stachowiak machte ein Gesicht, wie weiland sein Ahnherr, Pieczor Stachowiak, der Dorfgeiger – der, trunken von einem Tanze heimkehrend, in die Wolfsgrube fiel und dem Wolf, der drunten saß, aufspielen mußte, damit ihn der nicht fresse – so bittersüß, so gegen den Strich. »Mal ein Gläschen, ein Gläschen«, stammelte er, »wer wird nicht! Aber saufen, was denken Sie? Hier säuft kein Mensch.«

»Na, Sie müssen's ja wissen!«

Der Arzt empfahl sich, der Vikar gab ihm höflich das Geleit.

Draußen schnob der Wind, das Dorf lag still und dunkel, die Hütten ruhten wie schwarze Särge, in denen kein Leben mehr atmet. Als die davonrumpelnde Doktorkalesche längst nicht mehr zu hören war, stand der Vikar noch immer unter der Haustür – – – ganz fern, in Chwaliborczyce, saßen sie jetzt noch beim Jagddiner – wie Frau Jadwigas weißer Nacken blendete! Diener in der Garczyñskischen Livree präsentierten. Als die Górkas noch ihre Güter besaßen, hatten sie auch Jagddiners gegeben und schöne Frauen gehabt und – bah, alles vergänglich!

Der junge Geistliche hob sein blasses Gesicht: nur, was zur Ehre Gottes geschieht, das allein bleibt.

 

Als der Niemczycer am andern Vormittag zeitig in Pociecha-Dorf einritt, saßen bei Eljakim Eiweih ihrer etliche im Wirtshaus. Als sie den Hufschlag des Pferdes hörten, stürzten sie alle neugierig vor die Tür. Der Herr hielt an. Der Wirt zerriß sich fast: wollte der gnädige Herr nicht einen trinken, 'nen ganz extrafeinen, eiweih, viel zu fein für die Bauern?!

Nein, trinken wollte der Herr nichts. Er fragte nur den sich immer wieder von neuem tief bückenden Wirt nach der Wohnung der Ciotka.

Ah, der Herr Baron wollten zur Ciotka! Durfte man dem Herrn Baron zeigen? Durfte man dem gnädigen Herrn Baron das Pferdchen halten?

Alle waren dazu erbötig.

Ein zerlumpter Bursche trabte vorauf. Doleschal trabte nach; seine Augen waren nicht hell, der Kopf war ihm schwer. Die Weine beim gestrigen Diner konnten das nicht gemacht haben, die waren gut gewesen, aber doch war ihm, als hätte er einen Katzenjammer.

Helene hatte schon geschlafen, als er nach Hause gekommen war, und es hatte ihm leid getan, sie zu wecken. Er hatte nur an ihrem Bett gestanden, die Kerze hochhaltend, daß ihr Schein voll auf das helle Gesicht fiel, und ihren Schlaf betrachtet. Die Lider waren so sanft geschlossen, die Stirn glatt – sollte er diesen Frieden stören? Es dünkte ihn grausam, wußte er doch, beim ersten Wort würden sich diese geraden Brauen gespannt ängstlich hochziehen – nein, nicht sie erschrecken! Warum hatte er sich auch zu einem Benehmen fortreißen lassen, das ihn jetzt reute?! Er hatte das Gefühl, etwas Dummes gemacht zu haben, und wußte doch nicht recht, was – nein, zu erzählen war da eigentlich gar nichts. Und das mit der Ciotka erfuhr sie morgen noch zeitig genug.

Am andern Morgen aber fühlte Helene sich nicht ganz wohl, und so konnte er ihr dann auch nichts erzählen, würde sie doch sicher darauf bestanden haben, ihn trotz ihrer Erkältung nach Pociecha-Dorf zu begleiten. Also später, später einmal! –

Der Niemczycer mußte sich bücken, als er unter der Ciotka Tür trat. Er fand sie nicht allein, ein halbes Dutzend Weiber waren bei ihr; die Stube war voll von Geschwätz und Gestank. Es verneigten sich alle tief.

Die Ciotka, die bäuchlings zwar, aber sonst ganz vergnügt auf der Ofenbank lag, erhaschte seinen Mantelzipfel: »Der gute gnädige Herr, der beste gnädige Herr im ganzen Königreich! Jesus Christus und seine Mutter Maria sollen es ihm gesegnen, millionenmal, ihm und seinen Kindern und seinen Kindeskindern!« Nein, es war gar nicht schlimm, es hatte ihr gar nichts getan, nur der Schreck hatte sie zu Boden geworfen, nur der Schreck! Wenn der gnädige Herr nur ein paar Groschen würde geben, um Feuerung zu kaufen, und ein paar Groschen für Brot, würden alle Heiligen es ihm gesegnen hundertmillionenmal.

Wie? Hatte sie denn noch kein Geld bekommen?! Er hatte doch Frelikowski etwas für sie eingehändigt.

Nein, so wahr ihr Gott helfe! Gleich auf der Stelle wollte sie sterben, fahren in die unterste Hölle, wenn sie schon hatte einen Pfennig gesehen. »Daß der Wolf ihn fresse, der Donnerstein ihn erschlage, den Dieb, den Schinder, den Räuber, den Zagac!« Sie schrie Zeter.

Mit glänzenden Augen lugten die Weiber: nun würde der Herr Baron gleich seine Börse ziehen! Ach, sie waren auch alle sehr arm, sehr bedürftig. Kalte Zeit und keine Feuerung, hungrige Zeit, kein Mehl im Kasten, die Kartoffeln schlecht geraten – bitte, bitte!

Sie drängten sich alle um ihn und küßten seinen Rock. Die Ciotka ließ den Zipfel seines Mantels nicht fahren.

Er teilte noch einiges aus, vertröstete auf Frelikowski – der mußte das Geld ja bald bringen – und entkam so aus der Hütte, von den Segnungen der Weiber umrauscht.

Draußen bei dem Burschen, der das Pferd hielt, hatten sich einige Männer eingefunden. Demütig zogen sie die Hüte tief: sie waren auch Treiber gewesen gestern bei der Jagd, wenig gefehlt, und der Herr Baron hätte auch ihnen eine Ladung Schrot zu kosten gegeben – sollten sie denn gar nichts haben? Ein Gröschchen für ein Bier, ein halbes Gröschchen nur für einen Wódka!

Aber Doleschal schwang sich aufs Pferd: »Aus dem Weg!« Das fehlte noch, das Schnapstrinken unterstützen! Rasch ritt er davon.

Eine große Erleichterung fühlte er, als er zum Dorf hinaus war: Gott sei Dank, mit der Ciotka stand es gar nicht schlimm! Der Kopf ward ihm auf einmal viel leichter, der Nebel, der ihm vor dem Blick gelegen, verschwand. Der schwarze Kirchturm blieb hinter ihm zurück, vor sich sah er die saubern Häuschen der Ansiedler und drei kleine Mädchen, die auf Pociecha-Kolonie zuwanderten. Alle drei waren in wollenen Kapüzchen, darunter hingen die blonden Zöpfchen ordentlich geflochten. Alle drei trugen Tafel und Griffelbüchse und ein Büchlein unterm Arm.

Aber was war ihnen denn? Die größte in der Mitte weinte laut, und die kleineren, rechts und links, troddelten still betrübt. Arme Kleinen! Der Wind hatte sich in ihre Röckchen verfangen und trieb sie vor sich her wie vom Stengel gerissene Blumen.

Doleschal hielt sein Pferd an – das waren deutsche Kinder! »He, ihr da, warum weint ihr?«

Zu Tode erschrocken blickten die kleinen Mädchen auf. Er lächelte sie freundlich an, aber scheu sich an den Händen fassend, rannten sie davon, querfeldein, bis sie sich duckten im nächsten Graben. –

Doleschal ritt durch die Ansiedlung. Vom Haus der Rheinländer her wurde ihm ein Gruß. Das stand nun schon seit Ende Oktober recht stattlich unter Dach, aber die Hilfe der Kommission hatte man doch noch in Anspruch nehmen müssen, sonst wäre es nimmer so rasch fertig geworden, der Winter wäre einem über den Hals gekommen.

Peter Bräuer stand unter seiner Tür, breitbeinig die mächtige Gestalt hingestellt. Aber seine Stirn war nicht frei; dem Wind entgegen, der ihm ganze Hände voll winterharten Ackerstaubes ins Gesicht warf, blinzelte er finster in die Weite.

»Kommen Sie von Pociecha-Dorf, Herr? Haben Sie mein' Kinder nit unterwegs gesehen?«

»Ich sah drei kleine blonde Mädchen unterwegs – wenn das die Ihren waren?« Doleschal hatte angehalten.

Bräuer kam dicht zu ihm heran. »Wissen Sie, Herr«, sprach er gedämpft, »mer darf et ja nit laut sagen – hier nebenan die polackschen Weiber tun einem sonst gebrannt Herzeleid an, die Poln'schen hängen ja all zusammen wie die Kletten – aber dem Ruda, dem Kerl, dem Schwein, dem brech' ich noch dat Genick! Dat will 'ne Lehrer sein?! Der verwechselt ja die Artiklen, un mir un mich, wie die ganz gewöhniglichen Leut'! Aber der soll't dat doch besser wissen, der soll doch die Kinder wat lernen!« Er schüttelte ärgerlich den Kopf.

»Ich begreife Sie nicht«, – Doleschal war ungeduldig, immer, wenn er den Mann traf, hatte der was zu klagen – »der Ruda ist doch ein tüchtiger Mensch und auf dem deutschen Lehrerseminar in Fraustadt gebildet.«

»No, da hat de aber sein Deutsch schnell verschwitzt!« Bräuer lachte erbittert. »Un denn hat er mich dat Settchen als schon e paarmal nachsitzen lassen. Dat is doch en klug' Kind un macht sein' Arbeit – dat darf de Kerl nit tun! Dat hat mer nich nötig, sich gefallen zu lassen! Hören Sie, Herr«, – etwas ruhiger werdend lenkte er das Pferd am Zaum seinem Hause zu – »steigen Sie 'ne Momang ab! Dat Kettche möcht' Ihnen doch so gern wat sagen!«

Was war denn nun schon wieder?! Es war wirklich schlimm mit den Bräuers, so umgänglich sie auch schienen, so kribbelig waren sie. Und so breitspurig.

Die klobige Gestalt des starken Mannes füllte fast den ganzen Flur aus. Vor seinem Gast herschreitend, riß er die Tür zur Küche auf: »Kettche, da is de von Doleschal!«

»Oh, nit hier erein«, rief erschrocken die Frau, die beim Abwaschfaß stand, »drüben in die gute Stub'!« Und die nassen Hände an der Schürze trocknend, stürzte sie vor den Männern her und riß das weiße Schutzlaken vom Kanapee. Nun stand es, prangend in seinem geschonten grünen Rips mit seiner Garnitur Häkeldeckchen, unter dem Glaskästchen mit dem Goldrahmen, darin die Frau ihren Brautkranz verwahrt hielt.

Doleschal wollte ihr ein Vergnügen machen und sah sich um. »Wie hübsch haben Sie's hier!« sagte er, obgleich ihm die feuchtkalte Luft im Zimmer unangenehm auffiel. An der Wetterwand drohte die neue Tapete schon wieder abzufallen; das Haus war gar zu schnell bezogen worden.

»Gelt ja, dat is ganz nett hier«, seufzte die Frau und strich wie zärtlich mit der Hand über die Häkeldecke der Kommode, auf der Familienphotographien standen und bunte Tassen mit Goldrand. »Se sagen all, dat wär 'ne Unsinn, dat wir soviel hierhin mitgeschleppt hätten, aber mer kann sich doch nit von allen Andenken trennen. Dann fühlt mer sich ja nie zu Haus.«

»Und geht's denn jetzt besser?« Doleschal nickte ihr zu; ihr Wesen und ihr Gesicht, das einst hübsch gewesen sein mochte, als es noch rund war, gefielen ihm wohl.

»Och ja, danke, et is ja soweit ganz gut hier! De Herr Propst is 'ne freundliche Mann, und de Herr Vikar hat uns als en paarmal besucht. In der ersten Zeit, als ich so unglücklich war und mich gar nit schicken konnt', hat der mich immer so schön getröst'. Un et is ja auch schon besser geworden, Gott sei Dank!« Sie faltete die Hände. »Un et wird noch immer besser, sagt der Herr Vikar. Aber traurig is dat doch, dat ich nit verstehen kann, wat se in der Kirch' sagen. Am zweiten Weihnachtsfeiertag kriegen wir en deutsche Predigt, sagt de Herr Vikar, aber wat is dat doch noch so lang hin! Ich soll mir nur Müh' geben, sagt de, dat ich sein' Predigt verstehen lern' – und wenn ich se auch nit verständ', zum Segen tät se mir doch gereichen. Dat soll ja wohl so sein, wenn de Herr Vikar dat sagt – aber, kucken Se, lieber Herr, et hängt doch nu jeder an seinem Glauben, und et is mir doch immer so, als wär da hier wat ganz andres. Ich sagt' als zum Peter, dadrum möcht ich den Herr Baron wohl emal fragen, dat wird de sicher verstehen, wenn er auch nit unsern heiligen Glauben hat!«

Sie sah den Herrn vertrauend an, über und über errötend ob ihrer Kühnheit.

Doleschal errötete auch. Eine Verlegenheit ergriff ihn: was sollte er dieser armen Seele sagen, die, von der alten Heimat losgerissen, in der neuen ängstlich nach ihrem alten Glauben suchte? War es nicht unrecht, ihr zu sagen: hüte dich –!? Es würde ihr den Boden noch fremder machen. Mochte sie sich nur erst einwurzeln, dann war's ja noch immer Zeit, ihr die Augen zu öffnen. Aber es würde sich schon einmal eine Gelegenheit finden, mit dem Mann ein Wort zu reden.

»Sie sagen ja nix, Herr von Doleschal?« fragte die Frau. »Sie haben mir doch mein' Freiheit nit übelgenommen?«

»Nein, nein, Frau Bräuer!« Er reichte ihr die Hand. »Aber es ist gar nicht so leicht, Ihnen zu antworten. Im Grunde ist es ja eigentlich ebenso egal, ob ich deutsch oder polnisch bete, wie evangelisch oder katholisch, wenn ich nur –«

»Och ne«, unterbrach sie ihn rasch, »dat is et doch nit. Evangelisch oder katholisch – ne, dat is nit einerlei, dat dürfen Se nit vergleichen!« Sie war förmlich beleidigt und hatte ihre Schüchternheit ganz hintenangesetzt.

»Sie haben mich ja nicht ausreden lassen, liebe Frau! Aber am Ende ist es auch besser, wir sprechen jetzt nicht darüber« – er sah auf die Uhr – »es ist Zeit, ich muß fort!«

»Och, nu sind Sie doch bös«, jammerte sie.

»Laß die Dummheiten, Kettche«, fuhr ihr Mann auf. »Sie glauben et nit, Herr von Doleschal, wat die mich jetzt als den Kopf warm macht!« Sie wollte etwas entgegnen, da schrie er sie an: »Halt den Mund!« Und sie lief, die Schürze vors Gesicht haltend, rasch hinaus.

In verlegenem Schweigen blieben die Männer zurück.

»Sie hätten Ihre Frau aber auch nicht so anfahren sollen«, sagte Doleschal endlich.

»Anfahren – och wat, anfahren!« maulte der Mann. »Dat Kettche is en brave Frau, und ich bin ihr von Herzen gut. Ich hab se fast noch lieber als ich mein' erste hatt', und dem Valentin seine Mutter war auch kein Pappenstiel, dat kann ich Ihnen sagen. Die war so en richtig resch un lustig rheinisch' Mädchen, der Jung, der Valentin, hat viel von ihr und dat schöne Gesicht auch – aber ›nit anfahren‹, dat sagen Sie so! Wat soll mer denn machen, wann einem die Gall' überläuft? Denken Se an, sagt neulich der Propst zum Kettche – der junge geistliche Herr, de hätt' dat nit getan – et soll en Haub' tragen, wie die polnischen Weiber eine tragen, dat gehörte sich so für en gute christliche Ehefrau! Zum Donnerwetter noch ens, wat geht dat de Propst an! Dat Kettche soll ihr schön' Haar so unter en' Haub' stechen? Jawohl!« Er hub ein herausforderndes Lachen an. »Wenn mir auch katholisch sind, Polacken sind mir deswegen doch nit!«

»Das hat er gesagt – verlangt? Nicht möglich!« Doleschal machte die Augen weit auf. Er war ganz blaß geworden. Ein paarmal setzte er zum Sprechen an und biß sich dann auf die Lippen – nein, lieber nichts weiter sagen, der Mann da wußte schon ganz genau, woran er war!

»Wissen Se« – Peter Bräuer stellte sich breitspurig hin und stemmte die Fäuste in die Seiten – »laß die nur kommen! Denen werd' ich schon zeigen, wer Herr hier ist!« Er spuckte auf die Diele und verscharrte es dann mit dem Fuß: »Soviel kehr' ich mich dran – 'ne Dreck! Aber wissen Se« – seine Stirn runzelte sich – »Ärger hat mer en Mass' dadrum. Die Frau tribuliert einen. Un die andern« – er machte eine umfassende Bewegung nach allen Seiten hin – »die geben ei'm immer so Nadelstich', un die kann ich gar nit gut vertragen, 'ne ordentliche Rippenstoß kann mer doch wiedergeben, aber so en Pisackerei –! Sehn Se, wie mit der Schul' – wat mach' ich da nu? Dat Settche« – er stutzte plötzlich und horchte: »da is dat Settche!«

Draußen hörte man jetzt ein Weinen, und dann ein tröstendes: »Sei still, still« der Mutter.

Bräuer riß die Tür auf: »No, wat is dann?!«

Sein Liebling, das Settchen, flog ihm entgegen und hing sich an seinen Hals. »Pappa, Pappa!«

Sie war gar nicht zu beruhigen, zu aufgeregt, zu unglücklich in ihrem kindischen Weinen. Das Schluchzen stieß sie so, daß man kein Wort aus ihr herausbrachte. War sie gescholten worden, hatte sie nachsitzen, in der Ecke stehen müssen? Auf alles Befragen nur ein stumm-jammervolles Kopfschütteln.

»Zum Donnerwetter, jetzt tuste den Mund auf!« Dem Vater war die Geduld gerissen.

Da streckte sie mit erneut heftigem Weinen beide Hände aus und hielt sie ihm vors Gesicht. Die Handrücken waren rot und aufgelaufen wie von einem Schlag.

»No, wat is dann dat?« Bräuer rollte die Augen.

»Et hat wat auf die Fingern gekriegt«, sagte jetzt das kleinste der drei Mädchen und nickte wichtig mit dem runden, weinerlich verzogenen Apfelgesicht. »Weil et schon so groß is und gibt doch immer noch kein' Antwort!«

Da schrie das Settchen auf: »Ich kann ihn nit verstehn«, und klammerte sich fester an den Vater. »Pappa, och, Pappa, lassen wir doch wieder nach Haus gehn!«

Peter Bräuer hielt sein Kind im Arm, das vor Schluchzen zitterte, und machte ein seltsames Gesicht: bekümmert, wütend, verdutzt zugleich. Was, der Lehrer hatte sein Settchen geschlagen?! Der hatte sich das unterstanden?! Die Wut stieg ihm zu Kopf: »Hingehen tu ich auf der Stell', Red' stehn soll er mir, drei Tag soll de Kerl nit mehr sitzen können, de – de – de Polack!«

»Ich bitte Sie, Bräuer!« Doleschal legte dem Aufgebrachten die Hand auf die Schulter. »Seien Sie nicht so unbesonnen! Sie machen sich nur Ungelegenheiten.«

»Och wat!« Der beleidigte Vater schüttelte die Hand ab. »Ich laß mir dat nit gefallen, ich laß mir dat nit gefallen!«

»Bräuer, es nützt Ihnen gar nichts. Sie vergreifen sich an dem Lehrer, er zeigt Sie an, Sie werden verurteilt, ich garantiere Ihnen.«

»Jesses, ich sag' ja« – die Miene des Ansiedlers wurde tief niedergeschlagen – »da hat mer et nu! Och, wär' ich doch nach Amerika verzogen, ganz weit weg, wo et noch Wilde gibt. Da kann mer sich doch wenigstens selber sein Recht verschaffen.«

Es war Doleschal nicht heiter zumute, aber er mußte doch über den Mann lächeln – als wäre man hier im wildesten Westen, wo die Justiz nicht hinreicht und jeder auf eigne Faust Richter spielt, den Revolver im Gurt! »Ich rate Ihnen«, sagte er, ernst werdend, »begehen Sie keine Gewaltakte! Die könnten Ihnen hier teuer zu stehen kommen.«

»Och Gott, och Gott, Peter!« Die Frau hing sich an ihren Mann. »Jesus Maria, sei doch nit gleich so rappelig! Och, ich bitt' dich, hör auf mich, Peter! Peterken!« Sie flehte ihn an mit weicher Stimme und strich ihm immerfort die harte Wange. »Et is ja nit so schlimm! Dat Settche weint immer gleich. Du wirst dich doch deswegen nit mit dem Lehrer hauen! Un dat nützt ja auch nix.«

Doleschal winkte der Frau ermutigend zu: so war's recht! Wirklich, die war verständig. Wenn Bräuer glaubte, daß seinem Mädchen unrecht geschehen sei, konnte er sich ja bei der Schulinspektion beklagen. Jedenfalls war der Lehrer verpflichtet, deutsch zu unterrichten. Nur der Religionsunterricht durfte eine Ausnahme machen, mochte der den polnischen Kindern polnisch erteilt werden – schlimm genug! – aber sonst durfte keine Rücksichtnahme walten, und säße die ganze Klasse voll polnischer Kinder. Deutsch mußte gelehrt werden, deutsch mußten sie lernen.

»Ich werde übrigens dem Landrat über die Sache berichten!«

»Och, de Landrat, de Landrat!« Bräuer spuckte wieder aus. Er schien kein rechtes Vertrauen zu dieser Behörde zu haben.

»Sag et dem Herr Vikar«, drängte Frau Kettchen. »Bei dem mußte dich beklagen. Vor dem hat de Lehrer der größte Respekt!«

»Hm« – der Vater kraute sich nachdenklich den Kopf – »bei den Vikar soll ich gehen? Och ne!«

»Wenn der et dem Lehrer sagt, da kannste sicher sein, dann läßt de uns' Kinder zufrieden!«

»Meinste?«

»Sicher un gewiß!« Sie sagte es mit vollster Überzeugung.

»So – no dann!« Peter Bräuer entschloß sich ungern dazu, aber was half's, so konnte das nicht weitergehen, eine Abhilfe mußte geschafft werden, und zwar ganz direkt. Man merkte es ihm an, er konnte es kaum abwarten, daß sein Gast sich verabschiedete. –

Doleschal ritt davon. Er hatte sich fest in seinen Mantel gewickelt, aber ihn fror doch. Vom Dorf her schnob ihm der Wind in den Rücken und trieb ihn vor sich her, als sei er, wenn auch hoch zu Roß mit Peitsche und Sporn, nur ein ohnmächtiges Nichts, ein bißchen Spreu.

Über die toten Äcker flogen ganze Schwärme schwarzer Vögel. Dicht vor dem Reiter flatterten ihrer ein paar und zankten um eine arme Maus. Ein Peitschenhieb – noch einer – aber kaum, daß sie sich stören ließen, die Maus entkam ihnen nicht. Häßlich klang das ›Krah, krah‹. Es war der einzige Laut in der winterlichen Todesstille. Und grau war die unabsehbare Weite, grau der schwere Himmel wie die Ebene unter ihm.

Der einsame Reiter suchte mit sehnendem Blick: fern, ganz fern noch der Lysa Góra! Aber er gab seinem Pferde die Sporen und jagte dem Berge zu, als sei dort das Heil.


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