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Zweiundzwanzigstes Kapitel

Ein paar Tage nach der Wahlversammlung im deutschen Krug hatte sich der junge Wirt aufgemacht zu einem Gang, aber er sagte nicht, wohin er gehen wollte. Der Michalina, die sich alle Augenblicke eine Ausrede machte, von den Bräuers zu ihm hinüberzulaufen, übergab er den Schlüssel. Sie sollte auf die Wirtschaft aufpassen, lange würde er ja auch nicht ausbleiben.

Aber er blieb doch länger aus. Vergebens schaute Michalina alle Stunden nach ihm aus, er kam noch immer nicht. Wohin war er gegangen? Ach, gewiß nach dem Tupadlo, wo jetzt in der smaragdgrünen Wiese die Rosen des Sumpfes blühten, schneeweiße reine Blumenkelche mit goldnen Staubgefäßen. Aber deren Stengel, die tief unten im Grunde festwurzelten, waren wie Schlangen, lang und dehnbar, und rissen nicht ab, sondern zogen herunter.

Daß ihm nur kein Leides geschah! Am liebsten wäre die Magd ihm nachgelaufen, aber das ging doch nicht an, sie mußte ja auf sein Haus aufpassen. So hockte sie sich auf seine Schwelle nieder, schlang die Arme um die Knie, wiegte sich hin und her und sang sich eins. Eintönig traurig klang es, obgleich es ein Tanzliedchen war, monoton war es wie die Felder, in die ihr Blick starrte. –

Michalina hatte recht vermutet, Valentin war nach dem Tupadlo gegangen, führte doch daran vorbei der Weg ins Forsthaus. Er mußte Stasia sehen, sie sprechen. All die Nächte, seit sie fort war, hatte er keinen Schlaf gefunden; rot waren seine Augen, ganz überwacht. Mit offenen Lidern hatte er gelegen und ins Dunkel gestiert und gedacht und gedacht, so viel, so eindringlich nachgedacht wie noch nie in seinem Leben.

War sie denn wirklich so schuldig? Ja, ja! Er mußte die Fäuste ballen und mit den Füßen stoßen. Aber wenn er's dann so recht bedachte, wußte er eigentlich nicht zu benennen, was sie ihm angetan hatte. Daß sie mit Pan Szulc gut Freund war – zu gut Freund für seinen Geschmack –, das war sicher; aber wenn es ihm nun auch nicht behagte, war es darum schon ein Unrecht? ›Du‹ hatte sie zu dem gesagt – sagen die Polen nicht immer ›du‹? – und ›mein Lieber‹ hatte sie zu dem gesagt – Jesus, sie kannte ihn ja schon so lange, als sie noch ein blutjunges Dingelchen mit kurzem Rock war, schon! Abscheulich war's, ganz unerträglich, daß sie immer miteinander tuschelten und lachten – aber eine Untreue war das doch nicht. Nein, er hatte sich übereilt! Wenigstens anhören hätte er sie müssen, sie nicht von sich stoßen dürfen, als sie so lieb sich anschmiegen wollte. Die arme kleine Frau, wie weh hatte er ihr wohl getan mit seinen groben Fäusten! Ein Bedauern erhob sich in Valentin. Aber dann dachte er an Vater und Mutter: der Vater war auch oft grob, aber die Mutter nahm's weiter nicht übel – wie war das doch so anders bei denen!

Zwischen ihm und Stasia war immer ein Mißverstehen. Und sie hatten sich doch auch so lieb, wie sich die Eltern hatten – o nein, noch viel tausendmal lieber, denn sie waren ja noch so jung! Noch kein Jahr, noch kein einziges Jahr miteinander verheiratet. Er fühlte noch dasselbe Begehren in sich, das in ihm gebrannt, als er sie zum Altar geführt hatte.

»Stasia, Stasia!« Er stöhnte auf in der Nacht und schlug die Fäuste gegen seine Stirn, auf der Schweißtropfen standen. Was hatte er angerichtet?! Nun war sie böse mit ihm – auf immer –?! Sie hatte der Michalina gesagt, man solle ihr anderntags ihre Kleider und Sachen schicken; er hatte die zurückbehalten, denn er hatte gehofft, dann würde sie danach kommen, oder ihr Vater wenigstens würde kommen, oder ein Bote, oder ein Brief. Aber niemand war erschienen. Nein, sie wollte wirklich nichts mehr von ihm wissen, es war nicht nur eine Rederei. Nun saß sie drüben bei ihren Eltern, und er saß hier. Und zwischen ihnen lag das Tupadlo.

Ob sie sich wohl um ihn grämte, wie er um sie? Das hätte er gern gewußt. Aber hatte er denn je gewußt, woran er mit ihr war? Oft hatte er ihr sehnsüchtig in die Augen geschaut, aber sie hatte weggeguckt. Wie ging's nur zu, Vater und Mutter verstanden sich doch mit einem Blick, die Stasia mußte man erst immer fragen und fragen, und dann hatte sie doch noch oft den Kopf geschüttelt: »Ich verstehe nicht.«

Wer wollte ihr einen Vorwurf daraus machen? Sie verstand eben wirklich nicht deutsch, wohl die Sprache – oh, die Sprache ganz gut! –, aber das andre, all das andre, was sich nicht sagen läßt, das nicht!

Sich im Bett aufsetzend und den Kopf zwischen beide Hände nehmend, hatte der arme Junge ganz verwirrt um sich geschaut. Wenn er nur wüßte, woran das lag, daß sie nicht zum Glück kommen konnten, zum friedlichen Glück. Hatte er ihr nicht gern was zuliebe getan – oh, so vieles! Hatte sie ihm nicht was zuliebe getan? Oh, auch! Bekreuzten sie sich nicht vor demselben Gott? Gewiß! Und waren sie nicht verliebt miteinander? Das sicher! Und trotz allem und allem – eins waren sie darum doch nicht.

Und das peinigte. Das hatte Valentin gepeinigt fast vom ersten Ehetag an, das peinigte ihn auch jetzt mehr als die Eifersucht auf Szulc. Diese Eifersucht war ja töricht – begreiflich zwar –, aber zu töricht doch! Die Stasia ihrem Walenty untreu sein?!

Und Stasia tauchte vor ihm auf im Dunkel der Nacht – silbrig und seidig schimmerte die blonde Tolle, darunter blütenzart ihr weißes Gesicht. Mit brennenden Augen starrte er sie an: sei doch gut, komm wieder, wir wollen nun glücklich sein! Sie lächelte und nickte – da sprang er aus dem Bett. Wenn es nicht Nacht gewesen wäre, die Hähne in den Höfen nicht erst zum erstenmal gekräht hätten, er wäre zu ihr gelaufen. Ja, er wollte sie zurückholen! Das Mit-einander-böse-Sein war dummes Zeug. Sie sollte wiederkommen, sie mußte wiederkommen, dann wurde alles gut!

Und so hatte er sich aufgemacht gleich anderntags. Wie ein Liebender war er gegangen, der um die Braut werben will. Beim Tupadlo fing er an, Trab zu laufen. Ihn ärgerte der weite Bogen, den er machen mußte, denn nah, ganz nah winkte hinter den Kusseln die Försterei, und smaragdgrün, mit weißen Rosen besternt, glänzte freundlich die Wiese zwischen ihm und dem Waldrand drüben. Aber nur die Torfgräber, die vergangnes Jahr hier Torf gestochen hatten für Chwaliborczyce, kannten vielleicht die sichere Furt.

Seufzend gab er sich drein, dem Umweg zu folgen.

Schon vor der Tür der Försterei traf er den Schwiegervater. Freundlich war die Begrüßung nicht.

»Wo ist Stasia?« rief Valentin atemlos.

»Nicht da.«

»Sie ist doch da!« Das sollten sie ihm nicht wieder vormachen wie damals! »Ich will mein' Frau holen«, sagte er trotzig. »Sie soll nach Haus kommen!« Er wollte am Schwiegervater vorbei in die Tür eilen.

Aber der Förster stellte sich breit vor: das wäre! Frech sein wollte der Schwabb jetzt noch, nachdem er seine Tochter so gekränkt hatte?! Die blieb vorderhand hier. Später würde sich's finden. Da mußte der Ehemann mal erst ganz andre Saiten aufziehen, bis die versöhnt war. Beleidigt war die – oh! Und Frelikowski hatte die Hände erhoben und sich dann den langen Bart gestrichen mit unnahbarer Miene.

Da hatte sich der Schwiegersohn aufs Bitten gelegt, treuherzig die Hand des Vaters ergreifend: es tat ihm ja so leid, daß er die Stasia gekränkt hatte, bitter leid! Ja, er hatte unrecht, er wollte auch gern alles, alles tun, sie zu versöhnen. Nur versprechen müßte sie ihm, nicht mehr mit dem Inspektor, dem polackischen Szulc, zu tuscheln – nicht, daß er was Böses dabei dächte, nein, er vertrug's nur nicht! Das war doch ein Kleines, daß sie ihm das versprach!

Aber Frelikowski hatte die Achseln gezuckt: vorschreiben ließ sich die Stasia nun einmal nichts. Mit der Zeit vielleicht würde wieder Einigkeit kommen; die Stasia war ja so fromm, die ging fast alle Tage zur Kirche.

So tröstete er den Betrübten. Und dann versicherte er dem Schwiegersohn, daß er, der gute Schwiegervater, indes kommen würde, ihm ab und zu Kunde zu bringen von der Stasia.

Damit hatte sich der junge Ehemann vorderhand begnügen müssen.

Peter Bräuer schalt mit dem Sohn, daß der sich so demütigte und dem Weibsbild nachgelaufen war: ›Keine Sorg', die Katz' findet sich schon wieder in't Haus, wo die Milch süß is!‹ hatte er gesagt. Es kränkte Valentin, daß der Vater also sprach – der hatte eben die Stasia doch nie recht leiden gekonnt.

Und auch mit der Mutter, die sonst so mild war, war der Sohn nicht zufrieden. Frau Kettchen hatte es hart getadelt, daß Stasia davongelaufen war. ›Dat is doch kein' Mod', dat sind mir nit gewöhnt – 'wahr, Peter? Un nachlaufen hättste ihr nit sollen, Jung'! Die Frau muß den ersten Schritt tun, nit der Mann – 'wahr, Peter?‹

Was verstanden die, wohin sein Sehnen ging! Konnte er denn dafür, daß es ihn zog, stärker als mit hänfenen Seilen? Einzig mit der Michalina war noch ein Wort zu reden. Die hatte wenigstens Zeit für ihn. Früh morgens, wenn er seine Kammer verließ, hatte sie schon Feuer angezündet und die Stube gefegt und die Gläser gewaschen und den Kaffee gekocht – er sah sie meist nicht mehr, wohl aber, daß sie dagewesen – und dann, wenn die Dämmerung sank und Feierabendruh über den Feldern lag, dann kam sie wieder. Sie wäre nicht spröde gewesen gegen den jungen Mann, aber er merkte das gar nicht; nur um von Stasia zu reden, darum verlangte ihn nach ihr.

Und sie hatte allezeit ein williges Ohr. Und sie tröstete ihn: Geduld, nur Geduld! Wenn das Korn gehauen wurde, war auch der Trotz geknickt, dann würde Stasia kommen. Und sie würde sprechen: ›Walenty, mein Geliebter, meine Seele, meine Taube, du mein Stern, der einzig mir am Himmel strahlet, küsse mich!‹ Mit bebender Stimme, recht aus Herzensgrund, hauchte die braune Michalina diese Worte. Sie wagte es, seinen Ärmel zu streicheln: »Geduld, Walenty, Geduld!«

Aber er hatte keine Geduld. Wenn Michalina von ihm gegangen war und die Lichtlein der Ansiedlung erloschen, machte er sich auf. Er ging durch die dunkle Sommernacht, immer nur den einen Weg – zum Tupadlo. Stimmen waren in der Nacht der reifenden Felder, die ihn riefen, Sterne über dem Geheimnis der wispernden Ebene, die ihn führten. Immer zum Tupadlo. Da kreiste er herum, wie ein Verirrter: »Stasia, Stasia!«

Wie einst als lediger Bursch, dem die junge Verliebtheit im Blut loderte, rief er den geliebten Namen. Beim Dornbusch am Sumpf saß er stundenlang. Der Busch trug jetzt Blüten, flache, zartrosige Flatterblumen, die davonflogen, wenn man sie pflücken wollte. Geheimnisvoll schimmerten die Rosen der Sumpfwiese; am Tage waren sie geschlossen gewesen, aber jetzt öffneten sie sich zu leuchtenden, weißen Sternen. Ein Duft stieg von ihnen auf, berauschend wie Jasmingeruch. Sumpfrosen sollen nicht duften, sie haben keine Seele, er aber fühlte ihren süßen Hauch. Und seine Seele verging vor Sehnsucht. Alles, alles wollte er ihr ja zuliebe tun, wenn sie nur wieder zu ihm kam!

Aber noch war sie böse, so hatte ihm der Vater gesagt, der jetzt alle Tage kam. Aber konnte ihn dessen Kommen trösten? O nein, im Gegenteil! Es ärgerte ihn, wenn der sich in der Wirtsstube breit machte, als sei er der Herr, und Kumpane mitbrachte, die er traktierte, gastfrei, nach gut polnischer alter Sitte. Wo blieb das Geld für das Bier und den Schnaps? Michalina hatte die Hände gerungen, aber ›pst, still‹ hatte Valentin geflüstert und ihr die Hand auf den Mund gelegt. Was sollte er tun? Würde er etwas sagen, so kam der Schwiegervater nicht wieder, und er hörte nichts, gar nichts mehr von Stasia. Aber ein Ekel hatte ihn doch erfaßt vor dem Mann mit dem roten Bart, der auf drei Ehrenzeichen niederwallte. Valentin konnte es im eignen Haus nicht mehr aushalten. Morgens um zehn schon, oft auch schon um neun, saßen der Förster und seine Genossen in der Wirtsstube, sie saßen bis gegen Mittagläuten, und abends, sowie die Sonne sank, waren sie wieder da. Vertrieben war der Wirt so aus dem eignen Heim. Das würde auch nie, nie mehr wohnlich werden – es war ihm verleidet. Was sollte er noch hier, wo nur polnisch gesprochen, polnisch gesungen, polnisch gedacht wurde? Gern wäre er bei seinen Eltern eingekehrt – ach, mit einer stillen Trauer gedachte er jener Tage, da er noch kein Wort Polnisch verstanden hatte, da er hierhergekommen war, voller Begier aufs Neue, sich Wunder vom weiten Acker versprochen und sich lustig geneckt hatte mit den braunen, lachenden Mädchen am Weg, und da er das › daj mi buzi‹ noch nicht gelernt!

Wenn er jetzt zu seinen Eltern kam, fühlte er: er war ihnen fremd geworden. Freundlich waren sie zu ihm, wieder gut wie ehedem, die Mutter sah ihn mitleidig an, der Vater machte ein bekümmertes Gesicht, sie litten mit ihm unter seinem Kummer, aber fremd waren sie sich doch. Etwas hatte sich zwischen sie gedrängt, Vertrauen, Herzlichkeit, Verstehen gestört – das war die Stasia. Er redete nicht von ihr, und sie redeten nicht von ihr. Da trieb es ihn auch endgültig aus dem Elternhaus.

Rastlos, freudlos ging der Einsame umher, her und hin – hin und her – aus und ein – ein und aus. Die Türen klappten in einem fort; es litt ihn nicht in der Stube, nicht in der Kammer, nicht in der Küche, nicht im Stall, nicht im Schuppen, nicht auf dem Hof. Es zerrte ihn immer und zog ihn und stieß ihn voran wie mit Fäusten, er mußte zum Tupadlo. Dort fand er einzig Ruhe. Wußte er doch, drüben wohnte sie. Wenn er sie nun nicht sehen, nicht sprechen sollte, wenn sie noch immer trotzte und nicht zu ihm kam, wenigstens nahe sein wollte er ihr. Ging sie denn nicht aus, würde sie denn nicht einmal hier vorüberkommen?

Oft glaubte er im schwimmenden Abendlicht ihr helles Kleid drüben hinter den Kusseln zu sehen – mit wem ging sie da? Ging sie allein? Oder war wohl gar Pan Szulc drüben, sie zu besuchen? Eine wahnsinnige Eifersucht ergriff ihn jäh. Nun lag er lauernd hinterm Dornbusch: der sollte nur kommen! Aber auch der kam nicht.

Ganz menschenleer war die selten befahrene Straße zum Forst. Wer zu schaffen hatte, schaffte in den fruchttragenden Feldern, hier am Moor knarrte kein Ackerwagen, kein Ochsengespann brüllte. In träger Ruhe lag das Tupadlo, schwermütig bei Sonnenschein, schwermütiger noch beim Mondenlicht.

Die braune Michalina sah mit Schrecken, wie mager der Walenty wurde. Noch waren es keine drei Wochen her, daß Stasia ihm davongelaufen war, und schon schlotterten ihm die Kleider am Leibe. Sie redete ihm herzlich zu, daß er doch essen möchte. Wenn man auch Kummer hat, essen muß man doch, wie soll man denn sonst arbeiten?!

Und sie schlug sich auf die volle Brust und zeigte ihm ihre dicken Arme.

Er aber lächelte trüb: das wollte er wohl glauben, daß es ihr schmeckte. Was wußte sie von Kummer!

Da seufzte sie aus Herzensgrund und sah ihn beweglich an.

Er aber merkte es nicht. Wenn die Stasia wiederkäme, ja, dann würde auch er wieder essen. Dann sollte Barschtsch gekocht werden, die Suppe von roten Rüben, die ihm eigentlich zuwider war, und Schaschlik, und alle die Gerichte, die sie gerne aß. Er würde kein Wort mehr dagegen sagen, alles würde ihm ja schmecken. Nur den Pan Szulc, nein, den Pan Szulc wollte er nicht an seinem Tische haben und auch nicht immer den Förster. Die quälten ihn noch zu Tode.

Er vermied den Schwiegervater jetzt ganz; selbst um den Preis, von Stasia zu hören, konnte er sich nicht entschließen, dem freundlich zu sein. Ein Widerwille erfüllte ihn, dessen er sich nicht erwehren konnte. Der würde ihm ja doch nicht die Wahrheit sagen – der log! Sie logen alle hier. Selbst Stasia, die über alles geliebte Stasia, war die immer ganz wahr gewesen?

Es war ein furchtbarer Zweifel, der ihn anfiel wie ein bissiger Hund. Wenn sie ihn nun belogen, wenn sie nun doch mit Pan Szulc geliebelt hätte? Wenn der nun lachte jenseit mit ihr und er, als der Betrogene, hier diesseit saß?

Er hätte sich am liebsten gar nicht mehr vom Tupadlo fortgetraut. Er mußte jetzt aufpassen, aufpassen, aufpassen. In seinen Augen brannte es, und in seinem Herzen auch. Liebe und Haß, Zärtlichkeit und Strenge, Sehnsucht und Widerwille stritten miteinander. Aber die Sehnsucht war doch die größeste unter ihnen.

»Er ist verhext, er hat die Mora gesehen, weh«, jammerte Michalina und schlich nachts hinter ihm drein zum Tupadlo. Sie sah, daß er ging, gleich einem, der nicht möchte und doch muß, der gezogen wird an einem Seil; sie sah, wie er niedersank beim Busch, auf die Knie fiel und die Arme ausstreckte, verlangend, begehrend. Ein züngelndes Flämmchen rollte über das Moor – huh, fuhr sie da nicht auf dem Rade, die Hexe, die Mora?!

»Helfe dir Gott!« schrie Michalina laut.

Da bemerkte er sie. Und er war zornig: was lief sie hinter ihm her? Er wollte allein sein.

»Mach, daß du nach Haus kömmst!«

Da schlich sie weinend fort.

Das Irrlicht war untergetaucht, aber nun ging der Mond auf hinter dem Nachtgewölk und überschauerte Busch und Gras. Lange, silberne Strahlen warf er über die Wiese, daß sie besponnen schien wie von seidigem Haar. Tauperlen blitzten in den Sternen der weißen Rosen, daß sie glänzten und glitzerten wie Sterne am Firmament. Schimmernd blau ward der beschattete Grund, dem sie entstiegen – der Himmel war niedergesunken in den Sumpf. Eine Brücke von Strahlen wob sich über den tückischen Boden.

So klar konnte man sehen, so sicher konnte man gehen – hier war keine Gefahr. Und nah, ganz nah, nur an die hundert Schritt, und man war drüben beim schlafenden Haus! Nur die Hand ausgestreckt und auf die Klinke gelegt – die wich leisem Druck. Verschlossen war die Tür nicht, das wußte Valentin wohl; zu stehlen hätte sich hier keiner getraut, böse Hunde machten die Runde. Horch, ihr Gebell! Sie heulten den Mond an.

Aber ihn, den Valentin, kannten sie ja, sie würden ihn nicht festpacken und festhalten mit grimmigen Zähnen, leis winselnd würden sie sich an seine Füße schmiegen und die Hand lecken, die sie oft freundlich geklopft hatte. Die Hunde waren kein Hindernis, Schloß und Riegel waren auch nicht, und der Förster schlief.

Darum sacht, schnell hinauf die wacklige Stiege! Die Kammertür steht offen in der schwülen Nacht – Mondschein fällt auf buntes Kissen – Mondschein auf blondes, silbriges Haar – auf ein geliebtes weißes Gesicht – –

»Stasia, Stasia!«

Er schrie laut auf in der Mondnacht, wie der Hirsch schreit nach der Hindin – und dann, wie die Seele schreit in Todesnot. –

 

Als Valentin Bräuer am Morgen nicht zu Hause war, schlug Michalina Lärm.

Sie warteten auf ihn den ganzen Tag, und als er nicht kam, fingen sie an, ihn zu suchen. Am Tupadlo war er zuletzt von der Michalina gesehen worden, da suchten sie nun zuerst. Peter Bräuer setzte dreihundert Mark Belohnung aus; das ging fast über seine Kraft, aber war ihm der Sohn nicht tausendmal mehr wert? Er wollte mit dem Kopf durch die Wand: der Junge sollte, der Junge mußte wiederkommen! Aber als der nicht kam, brach dem starken Mann der Wille. Er schluchzte, ganz gebrochen. Die Mutter hoffte noch immer: konnte es denn nicht sein, daß der Junge davongelaufen war, aus Ärger über das Weibsbild? Vielleicht, daß er heimgelaufen war, nach Hause, an den Rhein, in einer plötzlichen Sehnsucht. Wäre das denn so ganz unmöglich, hatten sie denn nicht alle Sehnsucht nach dorthin? Vielleicht auch, daß ihn die alte Braut gezogen, daß er die doch lieber gehabt hatte als die polnische Hexe!

Frau Kettchen hatte die unmöglichsten Vermutungen, sie suchte mit diesen sich und ihren Peter zu trösten; auch zur Michalina sprach sie so.

Aber die Magd schüttelte den Kopf und rang stumm die Hände. Wußte sie's doch besser, wußte sie's doch ganz genau: ob sie auch stießen mit Stangen und das Moor durchforschten von hüben und drüben, von rechts nach links – ›hier ist untergegangen‹, so war's. –

 

Helene von Doleschal war eine der ersten auf Deutschau, die von des jungen Ansiedlers Verschwinden hörte. Ein lauter, entsetzter Aufschrei der Mamsell, der gellend aus der Küche zu ihr drang, als sie eben durch die Gesinderäume schritt, erschreckte sie. Was war geschehen? Schon wieder etwas? Sie fing an zu zittern.

Noch waren es kaum drei Wochen her, daß der Braune, auf dem ihr Mann zur Ansiedlung geritten, spät in der Nacht ledig zurückgekommen war und mit erregten Hufschlägen so gegen das geschlossene Hoftor gedonnert hatte, daß der Wächter nicht rasch genug hatte herbeieilen können, um dem gnädigen Herrn, der so ungeduldig mit dem Peitschenknauf klopfte, zu öffnen. Aber der gnädige Herr hatte nicht auf dem Gaul gesessen. Und der alte Hoppe, in Todesangst – noch ehe man's ihr, der Frau, gemeldet – hatte sich sofort aufgemacht mit dem Wächter, um den Herrn zu suchen. Unweit des Lysa Góra, dort, wo der Weg vom Luch kommt, war er den ihn Suchenden begegnet. Aber er war gewankt gekommen wie ein Betrunkener; sie hatten ihn führen müssen, kaum, daß sie ihn nach Hause gebracht hatten. Hektor, das sonst sichre Tier, war gescheut vor den Weiden. Die mochten wohl im Nachtwind geflüstert und sich seltsam bewegt haben, aber fast unglaublich war's doch, daß das Pferd, das so oft diesen Weg gemacht hatte, so schreckhaft sein sollte. ›Ein Hase sprang auf, ein Hase‹, hatte Hanns-Martin mit verlöschender Stimme gehaucht.

Barmherziger Gott, wie war er zugerichtet gewesen! – Blaue, fast schwarze, blutunterlaufene Stellen überall, die Kleidung zerrissen, am Kopf eine blutende Wunde. Der Gaul mußte ihn furchtbar getreten haben. Weinend hatte Helene diese Wunde gekühlt; er sagte gar nichts, stumm überließ er sich ihrer Sorgfalt, aber als sie anspannen hieß, Doktor Wolinski zu holen, wurde er unruhig. Seine Hände, die schlaff auf der Decke gelegen hatten, ballten sich. Es zuckte in seinem, fast bis zur Unkenntlichkeit verschwollenen, blutrünstigen Gesicht. Und als sie, unsicher geworden, ob man ihn so beunruhigen dürfe, fragend den alten Hoppe ansah, der, keinen Blick von seinem Herrn verwendend, stumm am Fußende des Bettes stand, stöhnte der mit geschlossenen Augen Daliegende: »Nicht – den – Polacken – nicht!«

Helene hatte später ihrem Manne ihr Befremden darüber ausgesprochen: warum denn nun auf einmal Doktor Wolinski nicht mehr?

»Er würde mich vielleicht vergiften!« War das ein Scherz? Dazu ward es mit einem zu bitteren Auflachen gesagt. War es Ernst? Eine solche Ungeheuerlichkeit – nicht auszudenken!

Helene fand sich nicht zurecht in ihrem Mann, jetzt noch weniger, als schon in der ganzen letzten Zeit. Seufzen hätte sie mögen und weinen. Unwillkürlich rückte sie dem alten Hoppe näher. Der ging auch so, wie sie um den Gatten, um den Herrn herum und schaute besorgt. Sie wachten beide, und oft glitt ein rascher Blick zwischen ihnen hin und her. ›Er muß fort, er muß für eine Weile fort‹, sagte Helene. Der Inspektor versprach es ihr in die Hand: ja, sorgen würde er schon für Deutschau, als sei es ihm eigen. Und dem rauhen Mann war dabei, als er das junge Weib so vor sich in Angst vergehen sah, ein Geständnis über die Lippen gekommen, dessen er sich jetzt nicht mehr schämte: jetzt erinnerte er sich, was er diesem ›hochmütigen Aristokraten‹ zu danken hatte. Wie der einst ein Gefühl für ihn gehabt, so hatte Hoppe jetzt hundert Gefühle für seinen Herrn, schon um der Frau und um der Knaben, ja, um der Knaben willen. Diese suchten ihn oft auf in der Inspektorstube. »Sst, Papa ist krank«, sagte der Älteste, wenn die jüngeren Brüder lärmten, und sein fröhliches Kindergesicht wurde ernst.

›Sst, euer lieber Vater ist krank«, wie oft hatte die Mutter das in letzter Zeit gesagt. Ja, ihr Mann war krank, viel kränker vielleicht, als sie selber wußte. Eine Todesbangigkeit ergriff oft die liebende Frau: nur ihn ruhig halten, nur keine neue Erschütterung! Einem neuen Schrecken glaubte sie sich selber nicht mehr gewachsen, darum zitterte sie auch so, als der Aufschrei des Entsetzens aus der Küche gellte. Was würde sie hören müssen?

Löb Scheftel stand in der Küche. Er neigte sich tief bei ihrem Eintritt: »Gott soll hüten, die gnädige Herrschaft! Gott der Gerechte, was schreit die Mamsell! Nu, was wird sein, gnädige Frau Baronin? Verzeihen die gnädige Frau Baronin gnädigst, daß ich hab gebracht in Ihre Küche 'ne Hiobspost mit der Hammelkeule.«

»Was ist denn geschehen? So sagen Sie's doch schon!«

»Nu, wenn die gnädige Frau Baronin wünschen, nu, wenn die gnädige Frau Baronin es denn durchaus wünschen!« Löb Scheftel erzählte nur zu gern, was ihm als größte Neuigkeit auf der Seele brannte: vom Verschwinden Valentin Bräuers, des Krugwirts in Pociecha-Ansiedlung.

»Also ertrunken – im Tupadlo?« Helene schloß erbleichend die Augen in einem jähen, sie lähmend überkommenden Schreckensgefühl.

»Untergegangen?!« Sie schauderte.

»Sie sagen so.« Der Händler zuckte die Schultern und lächelte dann schlau. Sich umsehend, ob auch keiner horche, als Mamsell Julchen und die gnädige Herrschaft, drängelte er sich dicht an Helene heran und tuschelte ängstlich hinter der vorgehaltenen Hand: »Mer kann's nich beschwören – Gott soll hüten, daß ich tue meinen Mund zum Bösen auf! – aber ich will nich leben und gesund sein – die gnädige Frau Baronin können dem gnädigen Herrn Baron nur sagen, daß es geht nich zu mit richtigen Dingen, daß der Valentin Bräuer is nich gestorben, wie man stirbt 'nes natürlichen Todes. Vielleicht, daß der Herr Baron wird zur Anzeige bringen die Sache – sonst tut's doch keiner hier, wenn er nich hat de Courage. Vielleicht, daß er wird sprechen im Reichstag drüber, wenn er wird kommen nach Berlin. Ich wer nich lassen den Herrn Baron im Stich, kann er mer nur berufen als Zeuge. Sie, sie« – er rückte noch näher heran, tuschelte noch leiser und machte ein zugleich noch pfiffigeres und noch entsetzteres Gesicht – »sie haben ihn beiseitegeschafft – die!«

»Beiseitegeschafft? Wen? Wer?« Helene prallte zurück. »Umgebracht, meinen Sie, hat man ihn? Warum?!«

Aufkreischend klammerte sich Mamsell Julchen, allen schuldigen Respekt beiseite lassend, an die Herrin.

Löb Scheftel hob die Hände: »Gott der Gerechte, was en Geseire! Nu, die, die!« Er zeigte mit dem Daumen über die Schulter. – »Die, bei mein' Gesund'! Haben die mer nich auch eingeschmissen 's Ladenfenster, als meine Seele hatte kein Arg und meine Frau und Röschen, meine Tochter, haben geschnarcht in der Kammer. Haben die mer nich weggeschleppt 's Kälberviertel – 'n Staat war's – und 'ne Speckseite, mindestens fünfunddreißig Pfund schwer, und 's pikfeine Geschlinge. Gott meiner Väter, ich bin en geschlagener Mann, en ruinierter Mann!« Er hob jammernd die Hände.

»Habt Ihr sie denn nicht angezeigt?«

»Ei weih!« Löb Scheftel duckte sich, als fühle er schon Schläge auf dem Buckel. »Werd ich mer doch nich mengen in so was. Fort is nu mal das Kälberviertel, genau wie der deutsche Krugwirt; der kommt auch nich wieder. Aber wenn der nu nich täte liegen an einem geheimen Ort, wo sie ihn haben hinverschleppt bei Nacht, und täte nicht faulen bereits in der Hitze, so täte der sprechen: ›Verflucht soll'n se sein bis ins dritte und vierte Glied!‹«

»Aber Scheftel, Scheftel!« Unglaube, Schrecken, Empörung stritten in Helenes Stimme. »Wie können Sie so etwas sagen, Scheftel? Das sind ja schreckliche Phantasien!«

»Phantasien! Phantasien, wie heißt! Was tu ich mit 'ner Phantasie? Hier is keine Phantasie, hier is, mit Erlaubnis zu sagen, die nackte Wahrheit.« Der Händler wiegte betrübt den Kopf. »'ne traurige Wahrheit, 'ne garstige Wahrheit! Ne, ne, gnädiges Madamchen, mein Sohn Isidor – en gescheiter Mensch, en Mensch mit Chochme – hat gesprochen zu mir: ›Vater‹, hat er gesagt, ›was tu ich in Miasteczko? Bin ich 'n Chammer, 'n Schlemihl, daß ich soll bleiben sitzen hier? Ich zieh nach Berlin!‹ Ei weih, was 'n Chochum!« Des alten Händlers Gesicht strahlte plötzlich vor Stolz, nun er seines Sohnes gedachte. »Hat er doch geschrieben, daß er sitzt nich im Dalles, daß er hat schon zu leben in Berlin. Is er getreten ein in Geschäftsverbindung mit 'nem Agenten, so einem, der schafft die Leute vom Osten nach'm Westen – 'n feines Geschäft, en rentables Geschäft! Wird er sich stehen gut dabei mit der Zeit. Und mir wird er kommen lassen nach, nach Berlin. Und wenn es auch dauert noch mehr als ein Jährchen – Gott soll hüten, was kann da passieren alles noch hier?!« Abwehrend hob der Jude seine beiden Hände, seine Augen waren aufgerissen, wie im grausigen Entsetzen, aber dann lächelte er: »Nu, mer hofft doch!«

Als Helene die Küche verließ, stand es bei ihr fest, sie mußte ihrem Mann von des jungen Ansiedlers Verschwinden erzählen, lieber, als daß er es auf solche Weise erfuhr, wie sie es eben erfahren hatte. Schonend würde sie ihm das Schreckliche beibringen, ohne all die Verdächtigungen und Gräßlichkeiten, in denen Löb Scheftel geschwelgt hatte. Diese Kunde würde ihm sowieso schon erregend genug sein, doppelt erregend in seiner jetzigen Gemütsverfassung und da sein Wohlwollen so ganz besonders dem jungen Bräuer gegolten hatte.

Zögernden Schrittes, zwischen den blonden Brauen eine nachdenkliche Falte, stieg Helene langsam die Treppe vom Erdgeschoß hinauf und ging langsam den Flur entlang, der zum Zimmer ihres Mannes führte.

Dort saß Doleschal am Schreibtisch, genau so, wie er oft gesessen hatte, vor sich ein leeres weißes Blatt. Den rechten Arm auf die Platte gestützt und den Kopf in die Hand gelehnt, sah er hinaus durchs jetzt geöffnete Fenster. Im Sonnenlicht ruhte der See; wie eine glänzende Metallplatte gleißte sein Spiegel. Auch der Lysa Góra gegenüber ruhte flimmernd und strahlenumwoben. Warme, satte, reifende Sommerluft drang in die Stube und Blumenduft von den Terrassen des Gartens.

Alles blühte, Holunder und Jasmin, Rosen und Federnelken, Heliotrop und Geißblatt, die ganze bunte, lustige, düftereiche Frühsommerpracht. Aber er sah sie nicht. Die Stirn zusammengekrampft, einen müden und zugleich doch erregten Zug um den Mund, starrte er. Ach, wie tat ihm der Kopf so weh – eine unerträgliche Schwüle war's heute! Die lastete auf ihm. Hatte schon gestern gelastet – vorgestern auch – hatte schon immer gelastet und würde weiterlasten – immer, immer! Torheit, daß er geglaubt, er würde sich frischer fühlen, wenn er erst wieder bei der Arbeit! Er war auf seine Felder gerannt – kaum acht Tage hatte er sich Ruhe gegönnt nach seinem Unfall – aber dort ging alles ohne ihn, alles war in Ordnung, der Inspektor hatte gut disponiert, pünktlich konnte die Ernte beginnen. Wie ein Atemholen vor einer schweren Kraftanstrengung lag's jetzt über der Flur, noch war Ruhe – aber diese Ruhe war so schwer zu ertragen, diese Ruhe, die doch keine Ruhe war!

Sollte er wieder in die Kreisstadt fahren?

Sollte er wieder mit zugekniffenen Augen, Schweiß auf der Stirn, die Stelle am Luch passieren, jene Stelle – wo –!

Sollte er wieder bei seinem Freund, dem Landrat, hören: ›Nicht zu Hause, zu Herrn von Garczyñski gefahren, nach Chwaliborczyce‹ – – –?!

Warum kam der Landrat nicht zu ihm?

Warum kam überhaupt niemand, kein einziger Mensch?

Der Blick des Einsamen, der auf den blanken See hinausgestarrt, flammte plötzlich auf: ja, jetzt wußte er's – sie mieden ihn alle! Seit vorigem Sonntag wußte er's.

Da war er, wie immer, wenn der Hilfsprediger aus der Kreisstadt einen Gottesdienst für die protestantischen Besitzer im angebauten Tanzsaal des Prochownik abhielt, mit Helene nach Miasteczko gefahren. Sie hatten auch ihre ältesten Knaben mitgenommen.

Es hatte fast keiner aus dem bekannten Kreise gefehlt; sie waren als die letzten gekommen – da hatten sich aller Augen auf sie gerichtet.

Noch fühlte Doleschal in der kaum verharschten Wunde seines Schädels das Blut klopfen und dann einen stechenden Schmerz: was waren das für Blicke – neugierige, schadenfrohe, verächtliche Blicke – die ihn und die Seinen trafen?! Die Leute brauchten sich gar nicht solche Mühe zu geben, er hatte Feingefühl genug, diese Blicke zu verstehen. Gott sei Dank, daß Helene sie nicht bemerkt. Sie hatte sich durchaus neben Frau Kestner setzen wollen – sah sie es denn nicht, daß diese Frau nicht rücken wollte? – er hatte sie am Arm zurückziehen müssen, ihr zuraunen: ›nicht dahin, nicht dahin!‹

Auf der letzten Bank hatten sie Platz nehmen müssen. Merkte Helene denn nicht, daß niemand neben ihnen sitzen wollte? Gott sei Dank, sie merkte es nicht! Sie war ganz unbefangen – aber er, er hatte alles bemerkt. Nur zu gut! Drehten nicht alle den Kopf weg, um seinen Gruß zu vermeiden? Zog es ihnen nicht in seiner Nähe plötzlich so scharf, daß sie den Platz wechseln mußten? Pah, das bißchen Zugluft durch die Lücken der undicht gefügten Bretterwände, das war's nicht gewesen, das sie vertrieben. Ihn hatten sie meiden wollen, ihn hatten sie schneiden wollen!

Ein Argwohn hatte in Doleschals Seele Wurzel gefaßt, ein Mißtrauen, das sich nicht mehr herausreißen ließ. Ja, alle wußten es, daß man ihn geschlagen hatte am Weg, ihn getreten und ihm ins Gesicht gespien! Sie erzählten sich's, daß er Prügel bekommen hatte, Prügel, wie ein Schuljunge, dem man die Hosen stramm zieht, weil er noch keine Ehre zu verlieren hat. Er aber hatte seine Ehre verloren.

Er hatte sich jetzt zu scheuen vor jedes Menschen Auge – nein, Gott sei Dank, es war gut, daß keiner zu Besuch kam, er hätte sich sonst verleugnen lassen müssen. Er mochte niemanden sehen, konnte niemanden sehen, durfte niemanden sehen! Selbst Helenes helles und doch so tiefes Auge war ihm eine Qual. Es stieß ihn aus ihrer Nähe fort.

Und doch fühlte er, wie er sie liebte, heißer denn je. Sie liebte, die ihm nur Gutes getan, ebenso heiß wie das Land, das ihm nur Bitteres getan. Sie waren beide für ihn eins – er hatte ihnen beiden Leib und Seele gegeben. Aber war er der Mann, sie beide zu beglücken? Nein, er war es nicht! Wäre es nicht besser, er wäre nicht mehr da? Vielleicht, daß sie dann, ohne ihn, beide glücklich wurden! Wenn die Knaben erst groß waren – Jünglinge, Männer – dann würden die aufstehen und preisen sie selig. Helene, die treue Mutter, würde wieder jung sein mit ihnen und glücklich, und das Land, das weite im Schmuck seiner Ähren, würde auch jung werden und glücklich!

Diese Hoffnung war die einzige, an die er sich hielt – sein einziger Gedanke. Er konnte nichts anderes mehr hoffen. –

»Mein lieber Mann«, sagte Helene, als sie zu ihm ins Zimmer trat, und legte den Kopf des Zusammenschreckenden an ihre Brust. »An was dachtest du eben wieder?«

»An dich, an dich, ich denke immer an dich!«

»Und an unsre Kinder.« Sie lächelte ihn trostreich an.

»Ja, an die auch!« Mit einem tiefen Atemzug kam es aus seiner Brust, wie Befreiung, wie Erlösung; aber er lächelte doch nicht.

Sie sah's mit Angst, wie finster er war. »Wollen wir nicht ein bißchen spazierengehen oder -fahren, Hanns-Martin? Ich habe noch nicht deinen Weizen an der Grenze gesehen.«

»Nein, dorthin nicht, nicht dorthin!« Wie kam sie darauf? Wußte sie etwas? Warum gerade dorthin, an die Przyborowoer Grenze? Er fuhr auf und streckte abwehrend die Hand ins Leere, als sei da etwas Schreckliches: »Am Luch – was willst du da? Nein, dorthin nicht! Ich will auch nicht so in die Nähe von Przyborowo. Hast du nicht gemerkt, wie sie letzten Sonntag grüßten, so steif, zurückhaltend, fast verächtlich? Ja, verächtlich!«

Sie hatte etwas erwidern wollen, er schnitt ihr das Wort ab. Er stampfte mit dem Fuß: »Verächtlich! Es ist so!«

»Ich habe das nicht bemerkt, Hanns-Martin!«

»Wenn du's nicht bemerkt hast, wohl dir!« Seine Stimme nahm jetzt einen weicheren Ton an, statt des herben, klanglosen: »Meine geliebte Frau!«

Zart, fast scheu nahm er ihre Hand und legte sie sich auf den heißen Kopf. »Laß sie da liegen, sie ist so angenehm kühl. Kühl wie die Erde!«

Lange blieben sie so. Er, am Schreibtisch sitzend, die Stirn tief geneigt über das leere, unbeschriebene Blatt – sie wieder über ihn geneigt, ihre Hand auf seinem Scheitel. Sie wagte nicht zu sprechen; sie fühlte es zucken unter ihrer Hand, fühlte alle Pulse vibrieren in seinem armen, geplagten Kopf. Nein, das ging so nicht länger fort! Sie mußte an ihren Vater schreiben, ihn bitten, sofort herzukommen – an Paul schreiben – an den Landrat, an alle die Leute, die Einfluß auf ihn hatten. Er mußte hier fort, er mußte sich schonen. War es wirklich die Wahl, die Wahl nur, die ihn so aufregte?

Zweifel, Befürchtungen, Ahnungen stiegen in Helene auf, die sie nicht mehr zurückdrängen konnte: da mußte etwas mit Przyborowo nicht in Ordnung sein. In der Tat, Hanns-Martin hatte recht, die Przyborowoer waren seltsam. Als sie sich neben Frau Kestner hatte setzen wollen am Sonntag, war diese da nicht zusammengezuckt und rasch abgerückt, viel weiter, als nötig gewesen wäre?!

Was ihr damals nicht gleich aufgefallen war, jetzt fiel es ihr nachträglich auf; das Mißtrauen ihres Mannes steckte sie an. Sie empfand unbestimmt und doch deutlich: da war etwas, was nicht sein sollte. Kestner hatte steif gegrüßt, so steif, als kenne er sie kaum, als seien sie nicht seine Gutsnachbarn, als seien sie vor allem nicht die guten Freunde seines Sohnes. Und andre hatten ebenso steif gegrüßt: Klinkor auf Ustaszewo, Müller auf Wilhelmshöh, die Bismarcksauer, Amtmanns, auch der Laskowoer und aus Michalcza Frau von Libau. Mit Blicken, Blicken, von denen man nicht sagen konnte, was sie enthielten, hatten die sie gestreift.

Da war etwas! Darum war auch ihr armer Mann so verstört, so in sich gekehrt, so elend, so ganz anders als in früheren Tagen.

›Ich werde sie fragen, sie müssen's mir sagen!‹ Der jungen Frau weiches Gesicht wurde straff in Energie. Wenn man erst weiß, was geschehen ist, dann kann man ja auch helfen – und sie würde ihm helfen, ihrem Manne, gewiß und wahrhaft helfen, mit Liebe, mit Treue! Helfen mit ihrem festen Glauben an einen Gott, der über allem ist, über diesen Weizen- und Rübenfeldern, über dem See und dem Lysa Góra, über Deutschau und Przyborowo, über Chwaliborczyce und Pociecha – ach, da fiel ihr auf einmal wieder der arme junge Krugwirt aus der Ansiedlung ein! Wie brachte sie das nur Hanns-Martin bei?

»Ich kann nicht mit dir fahren, ich muß jetzt allein aufs Feld gehen«, sagte er, plötzlich aufspringend. Helene empfand es mit Schmerz: er wollte sie abschütteln. Aber zugleich auch befiel sie ein Schreck: nun würde die Neuigkeit ihm draußen zu Ohren kommen, roh und unvermittelt, diese gräßliche Neuigkeit, die heut in aller Munde war. Besser, sie erzählte ihm selber rasch vom armen Valentin Bräuer.

Und sie gab sich einen Ruck, und mit ihrer von Mitgefühl vibrierenden Stimme sagte sie: »Ich wollte dir auch noch etwas erzählen. Denk mal an, Hanns-Martin – mein lieber Hanns-Martin!«

Mit einem Ruck, der wie ein Aufschluchzen klang, fiel sie ihm plötzlich um den Hals. Er hatte seine düstren Augen ihr zugekehrt, und sie hatte da hineingesehen in eine Welt von Leid. Sie hing ihm am Halse. »Hanns-Martin«, flüsterte sie, und Tränen, wie sie sie kaum je geweint hatte, heiße, schwere, ahnungsbange Tränen flossen über ihn und sie. »Der arme junge Valentin Bräuer ist tot! Im Tupadlo ertrunken – versunken – untergegangen!«

»Untergegangen – so!« Weiter sagte Doleschal nichts. Er faßte sich nur an die Stirn.

Helene war fast erschrocken, wie ruhig er's aufnahm.

»Armer Kerl! Das Land kostet Opfer«, sagte er dann nur noch. Nach den näheren Umständen fragte er nicht, aber er wischte ihr die Tränen ab, die ihr so heiß aus den Augen gelaufen waren, und verhieß ihr mit einer unendlichen Liebe im Ton, es solle alles, alles besser werden.

Was sollte sie tun, was darauf sagen? Nur nach seiner Hand greifen konnte sie und die umschließen mit ihren beiden Händen, als wolle sie die festhalten mit aller Kraft. –

Helene hörte nach einer halben Stunde von Hoppe, ihr Mann sei soeben durch den Park hinausgegangen. Drüben – links vom See –, dort drüben konnte sie ihn jetzt auftauchen sehen, wie er, das Parkgrün verlassend, in seinem weißen Sommerrock, die Hände, die den Stock hielten, auf den Rücken gelegt, den Fahrweg erreichte, und kräftigen, weitausholenden Ganges die von den schweren Ackerwagen durchfurchte Straße dahinschritt. Aber der Anblick der hohen, weithin leuchtenden, so rüstig zuschreitenden Gestalt schaffte ihr doch keine Ruhe, ebensowenig wie die Versicherung des Inspektors, daß der Herr Baron ganz heiter gewesen sei, heitrer als in der letzten Zeit. Und so freundlich!

Das konnte sie jetzt alles nicht mehr täuschen. Da war etwas, und das ließ ihr keine Ruhe. Und so hieß sie schleunigst anspannen und ließ sich hinüberfahren nach Przyborowo – aber rechts vom See, damit sie dem Gatten nicht begegne.

Im leichten Korbwägelchen, in dem sie so manche frohe Fahrt mit Hanns-Martin gemacht hatte, saß Helene allein. Heute war die Fahrt nicht froh, obgleich der Traber trabte, so flott wie nur je, und ein loser Wind lustig mit dem Schleier auf ihrem Hut spielte.

Eine seltene Heiterkeit lag heute, im Frühsommer, auf der im Hochsommer so lechzenden, tagtäglich von neuem ausgebrannten Weite. Jetzt war noch alles frühlingsfrisch und doch schon ernteverheißend. Hoch stand das Korn, fast mannshoch die Ähren; der Weizen war noch grün, aber der Roggen schon gebleicht, sanft gelb wie blondes Haar. Süßer Akazienduft schwebte in der Luft, und ein Schwarm von Bienen summte vom wilden Thymian am Wegrain auf und flog mit dem eilenden Gefährt gen Przyborowo. Es blühten die dornigen Akazien in der Allee. Die Mißform der alten, knorrigen, von Wind und Wetter verkrüppelten Bäume, war jetzt ganz verdeckt vom zartgefiederten Laub; schwere Trauben von weißen Blüten schütteten nieder und mengten ihren berauschenden Duft mit dem Geruch rotblühenden, saftigen Klees. Auch die gelbe Lupine sandte einen Gruß, so süß wie Honig und doch kräftig, von irgendwoher kam noch ein Geruch frischen Heus dazu; in einem Meer von Düften schwamm die Flur, und ein immerwährend traulich heitres Gesumme durchsegelte die Luft.

Blau war der Himmel, zart und licht, von einem freudigen, hellen Blau, das noch nicht den Stahlglanz der Erntezeit hatte. Aber Helene sah nicht hinauf, sah auch nicht umher auf die Heiterkeit, in der die Erde lächelte, wie das Angesicht eines Mädchens, das den Hochzeiter erwartet. Sie sah unverwandt auf ihre Hände, die sie im Schoß gefaltet hatte, und tat sich Gewalt an, Ruhe zu halten, nicht aufzuspringen, nicht in Hast dem hastenden Wagen noch voraufzueilen, zu rufen, zu schreien: was ist geschehen, oh, sagt mir doch, was ist geschehen?!

Keine Erinnerung kam ihr an vergangene Jahre, in denen sie mit Hanns-Martin sich all dieses Blühens und der duftenden Luft so innig gefreut hatte; ihre Gedanken gingen jetzt immer nur vorwärts: was kam nun, was kam nun, was würde sie hören müssen?!

Ah, endlich, da war ja das Gutshaus! Es tauchte auf, aber man war sobald noch nicht da. Kroch denn das Pferd im Schneckenschritt? Barmherziger Gott, nur endlich hören, wissen, was geschehen!

Sie rang die Hände ineinander; in verzehrender Unruhe streifte sie die Handschuhe ab und schleuderte sie in die Wagenecke.

All ihre Ruhe, all ihre Selbstbeherrschung, alles, was man ihr anerzogen hatte von frühester Kindheit an, war plötzlich verschwunden. Ihre Unruhe steigerte sich noch von Minute zu Minute. So erregt war sie noch nicht fortgefahren von Deutschau, aber so kam sie in Przyborowo an; jede Drehung der Räder hatte sie weiter hineingebracht in sinnlose Aufregung. Nur das eine hatte noch Sinn, Wert, Interesse: was war geschehen, was hatte man ihrem Mann angetan? Mit einem Sprung war sie vom Wagen; sie war weiter nichts mehr als ein liebendes, angstverzehrtes, ahnungdurchschütteltes Weib.

»Wo ist Frau Kestner?«

Das junge Mädchen im weißen Kleid, das beim Rollen des Wagens neugierig an die Tür gekommen war, knickste: »Ich werde es Mama sagen«, und lief dann kichernd in die große Schrankstube, wo Frau Kestner mit Erdbeereinmachen beschäftigt war. Von der Mamsell, verschiedenen Mägden und unzähligen Fliegen umgeben, fuhr diese sehr ärgerlich auf, als die Tochter sie störte. »Mein Gott, konntest du denn nicht sagen, ich wäre nicht zu Hause?«

»Sie lief aber doch gleich ins Haus 'rein, sie wartete gar nicht erst ab!«

»Unerhört! Geh du, geh du einstweilen 'rein. Ich käme gleich!«

Frau Kestner fuhr sich mit beiden, vom Fruchtsaft rot betropften Händen über den glatten Scheitel. »Sosia, wirf doch nicht immer die kleinen Erdbeeren zwischen die großen! Habe ich nicht gesagt: die großen apart? Ich muß mich doch wenigstens waschen. So geh doch schon, Kornelia, geh doch schon! In den Salon laß sie, hörst du? Ach, ist das lästig! Kommt einem die hier mitten ins Einmachen! Hanusia, was soll denn das heißen?« Bereits im Fortgehen, das Gesicht schon abgewendet, hatte Frau Kestner doch noch gesehen, wie eins der Mädchen eine Beere in den Mund schob. »Naschkatze, du, ich werde dich lehren!« Ein rascher Schlag brannte auf dem naschhaften Mund, dann eilte die Hausfrau in ihre Schlafstube.

Kornelia, mit linkischer Höflichkeit, hatte den Besuch in den Salon gebeten. Also so sah die für schön geltende Frau von Doleschal, Pauls Angebetete, von nahe besehen aus? Von weitem, in der Kirche und im Hut, entschieden besser! Die Augen der Sechzehnjährigen funkelten neugierig: ›Donnerwetter, höllisch passée!

Da Helene kein Wort sagte, sondern ungeduldig im Zimmer auf und ab schritt, hatte der Backfisch Muße, sie zu mustern. Und er tat es gründlich, vom Schleier des Hutes bis hinab zur Schuhspitze; nichts entging dem neugierigen, unbarmherzigen, spottlustigen jungen Blick: Hu, sah die aus, nicht ein bißchen schick, da war die Garczyñska doch eine ganz andre! Kornelia hatte eine geheime Schwärmerei für die elegante Frau, die sie immer mit schneidigen Pferden fahren sah, und die schon viele Verehrer gehabt haben sollte. Die war interessant! Aber die hier sah riesig simpel aus. Und wie ihr das Haar um den Kopf hing, ganz verweht, und Falten hatte sie auf der Stirn, Falten – na, wie Paul sagen konnte, die wäre …

Kornelia schreckte aus ihren Betrachtungen auf.

»Kommt Ihre Mutter noch nicht bald?« hatte Helene gefragt und war dann dicht vor dem jungen Ding stehengeblieben, das auf dem Taburett vorm Klavier hockte. Mit krampfigem Griff umfaßte sie den schlanken Mädchenarm in der weißbetupften Mullbluse: »Bitte, sehen Sie doch zu, daß Ihre Mutter bald kommt, ich« – eine plötzlich von neuem auflodernde Angst erstickte ihr fast die Stimme – »ich muß sie sprechen!«

Na, so eilig hatte die's? Kornelia trödelte den Korridor hinunter, der vom Salon nach dem Schlafzimmer am andern Ende des Hauses führte. Im Vorbeigehen naschte sie noch ein paar Erdbeeren in der Schrankstube, trotz des ängstlichen Protestes der Mamsell – »Äh, was, als ob sie das merkte!« – und pfiff sich dann eins.

»Die ist aber höllisch abgetakelt!« Damit platzte sie in die Schlafstube, wo die Mutter nun doch, trotz des Einmachens, ein wenig Toilette gemacht hatte. »Nu, geh doch schon 'rein, Mama, sie ist ganz aus dem Häuschen, wie 'n Hund, den die Flöhe beißen.«

»Aber Kornelia, um Gottes willen, woher hast du solche Ausdrücke?« Frau Kestner konnte nicht umhin, sie mußte der Tochter noch eine Strafpredigt halten – auf die paar Minuten kam's nun wirklich nicht mehr an, mochte die Doleschal nur noch warten!

Wenn sie doch bald käme, wenn sie doch bald käme! Ungeduldig, wie ein eingesperrtes Tier, rannte Helene im Zimmer hin und her, her und hin. So leer, so kalt war's hier! Dort hing der Klingelzug bei der Tür – perlengestickt, eine lange Blätterranke, grün auf blauem Grund – wenn sie da nun anfaßte, daran risse, daß es durchs Haus gellte: Hilfe, zu Hilfe – –?! Wenn sie doch nun endlich käme! Um den Hals fallen wollte sie ihr, die Arme um sie schlingen – war sie doch auch eine Gattin, eine Mutter – sie umklammern: ›Sagen Sie mir, ach, sagen Sie mir, was ist geschehen? Helfen Sie, verschweigen Sie nichts – ja, Sie wissen's, ich sehe es Ihnen an!‹ Ihr zu Füßen fallen: ›Ach, sagen Sie mir doch, sagen Sie mir, was ich tun soll. Sie sehen mich in Angst – in Todesangst – mein Mann, ach, mein Mann – er – ich –‹

Da öffnete sich die Tür. Frau Kestner trat stattlich ein, hinter ihr die aufgeschossene Kornelia.

»Was verschafft mir die Ehre?«

Helene hatte die Arme ausgestreckt gehalten, sie sanken ihr jetzt herab. Blaß werdend bis in die Lippen, schloß sie einen Moment die Augen, und dann öffnete sie sie weit und starr: nein, sie mußte sich zusammennehmen, hier mußte sie sich zusammennehmen! ›Was verschafft mir die Ehre?‹ – das war kalt wie Eis!

Und sie nahm neben Frau Kestner auf dem Sofa Platz.

Drüben auf dem Taburett saß die Tochter und hielt die Füße nicht ruhig.

»Kornelia!« Ein verweisender Blick der Mutter traf die Tochter. Dann war's für ein paar Augenblicke verlegen still.

»Gnädige Frau«, sagte Helene. Sie sah es ein, es war an ihr, sie mußte sprechen, die andre würde nicht aus ihrer reservierten Höflichkeit herausgehen. Aber war sie nicht Freund Pauls Mutter, eine gute Gattin, eine gute Mutter? So sagte sie denn rasch, ohne sich Zeit zum Überlegen zu lassen: »Liebe gnädige Frau, gerade heraus, sagen Sie mir, was haben Sie gegen uns? Darum bin ich gekommen. Es drückt mich. Wollen Sie nicht die Güte haben, mir zu sagen, was Sie und Ihr Gemahl gegen uns haben? Es tut mir so leid! Ich würde es gern wissen – gern ändern!« Das klang wie eine auswendig gelernte Lektion, in einer angelernten Sprache.

»Ich – gegen Sie haben?« Frau Kestner lächelte verbindlich. »Sie irren, Frau Baronin, ich wüßte nicht, was wir gegen Sie haben sollten!«

»O doch, o doch! Ich fühle es, Sie haben etwas gegen uns – alle haben etwas gegen uns!« Es fiel nun doch schon etwas ab von dem angelernten Ton; und nun wurde es ein Schrei des Herzens, ein Schrei aus tiefster Herzensnot: »Was hat man gegen uns, gegen meinen Mann besonders?! Liebe Frau Kestner, sagen, sagen Sie es mir doch!«

Helene hatte die Hand der neben ihr Sitzenden ergriffen. Frau Kestner machte ihre Hand nicht frei, sie ließ sie ruhig wo sie war, aber sie fühlte gar nicht die zuckende Angst, das verzweifelte Pressen der Finger, die die ihren umschlossen. »Meine liebe Baronin«, sagte sie kühl, »es wäre besser, wir Frauen mischten uns nicht in Sachen, die nur unsre Männer angehen. Ich persönlich habe Sie immer sehr hochgehalten, mein Paul hat mir immer viel Schönes und Gutes von Ihnen erzählt. Darf ich fragen, was machen Ihre lieben Kinder? Sind die Knaben alle munter?«

»Nicht so, nicht so!« Helene hatte murmelnd die Hand erhoben. Und dann tat sie doch, was sie nicht hatte tun wollen, was ihr noch eben wie ein Vergessen ihrer selbst, wie eine Herabwürdigung erschienen war vor dem eisigen: ›Was verschafft mir die Ehre?‹ Sie sank in ihrer tödlichen Herzensangst der andern an die Brust und schluchzte fassungslos: »Ich bin so in Angst um meinen Mann! Er ist so seltsam. Da ist etwas geschehen – ich weiß es! Frau Kestner, erbarmen Sie sich – um Gottes willen – um Pauls willen – um dieses jungen Mädchens willen!« Sie streckte die Hand aus, auf Kornelia weisend: »Möge die nie das Leid erfahren, das ich jetzt erfahre! Sagen Sie mir, Frau Kestner, sagen Sie es mir doch, was haben alle gegen uns, was haben wir verbrochen?«

»Aber, meine liebe Baronin!« Frau Kestner war einigermaßen bestürzt, und zugleich schmeichelte es ihr, daß die Baronin zu ihr gekommen war – hätte die nicht ebensogut zur Garczyñska nach Chwaliborczyce fahren können oder zur Landrätin oder zu Frau von Libau oder nach Uchorowo? Die wußten doch auch alle darum. Ob sie es ihr sagte, wie scheußlich ihr Mann sich benommen hatte?

»Kornelia, geh mal 'raus!« herrschte sie die Tochter an. Und als diese sich widerwillig hinausgeschoben hatte – sie hätte jetzt für ihr Leben gern zugehört –, nahm Frau Kestner, einem mütterlichen Instinkt folgend, die junge, zitternde Frau in den Arm: »Beruhigen Sie sich, beruhigen Sie sich, liebste Seele, gegen Sie hat kein Mensch etwas! Wie sollte man wohl – nein, Sie stehen ganz hors de concours!«

»Aber mein Mann, mein armer Mann!« Helene rang die Hände. Und dann machte sie sich los aus dem sie umfassenden Arm und richtete sich auf, während ihr blasses Gesicht von einer tiefen Röte gefärbt ward. »Was meinen Mann trifft, trifft auch mich. Sagen Sie mir, was hat er getan?«

»Oh, sehr vieles, was nicht in der Ordnung ist!« Frau Kestner sprudelte los. »Wenn auch Paul Ihren Gatten seinen Freund nennt, darum der Wahrheit doch die Ehre – also, was Ihr Mann getan hat, wollen Sie wissen, wirklich wissen?«

Helene nickte stumm.

Und Frau Kestner kramte alle Sachen aus, eine ganze Menge. Vom Jagddiner bei Garczyñski erzählte sie, von diesem und jenem – Reibereien, Meinungsverschiedenheiten – aber dann sprach sie im Tone tiefer Kränkung vom Schlimmsten: von der Verleumdung Kornelias. Und dann von dem noch Schlimmeren: von der feigen Umgehung eines eigentlich unabweisbaren Duells.

»Mein Mann wird ihm das nie verzeihen«, schloß sie mit Entrüstung. »Er kann ihm das auch nie verzeihen. Und sogar ich, ich persönlich, muß gestehen, so bitter es mir auch angekommen wäre, meinen Paul der feindlichen Pistole gegenüber zu sehen, so sage ich doch –«

Helene ließ sie nicht ausreden: also das, das war alles?!

Paul und Hanns-Martin sich duellieren? Welch eine Idee! Das war ja hirnverbrannt! Wie konnte sich Hanns-Martin darüber nur einen Augenblick Gedanken machen! O Gott, Gott sei gedankt, das war kein Grund, um zu sterben! Aber dann fiel ihr plötzlich etwas andres ein.

»Die andern«, sagte sie ängstlich, »aber die andern?! Sie sahen uns doch alle so seltsam an? So böse?!«

»Nun, kann Sie das vielleicht wundern, Frau Baronin?« sagte Frau Kestner spitz. »Mein Mann hat eben seinem Herzen Luft gemacht. Und diese andern Leute haben ebensolche Ehrbegriffe wie wir. Man ist allgemein auf seiten meines Mannes, um so mehr, da man am – gelinde gesagt – unbesonnenen Vorgehen Ihres Herrn Gemahls viel zu tadeln findet. Sagen Sie mal« – jetzt wurde sie heftig – »ist er denn ganz von Gott verlassen? Hat er denn gar keine Liebe zur Provinz, gar kein Zusammengehörigkeitsgefühl? Wie kann er sich nur zum Reichstag aufstellen lassen? Es ist doch ausgemachte Sache, daß Garczyñski gewählt wird. Und mit Recht! Warum also solche Manipulationen? Ich will ja gern glauben, daß es ihm Freude gemacht hätte, im Reichstag zu sitzen – vielleicht gehörte noch manch andrer hinein – aber in diesen Zeiten – und hier – man lacht ihn ja nur aus. Schlimmer: man ist empört! Sehen Sie, meine Liebe« – sie nahm freundschaftlich der jungen Frau Hand und streichelte diese – »Ihnen kann man's ja ruhig sagen, Sie können ja nichts dafür: Ihr Herr Gemahl hat sämtliche Besitzer der Gegend, große wie kleine, vor den Kopf gestoßen. Daß ein deutscher Kandidat nicht durchkommt, weiß man doch längst, und daß solch ein deutsches Kandidieren die Polen nur reizt, weiß man auch. Die Folge ist bereits, daß Herrn von Klinkor auf Ustaczewo – Sie wissen, dem Nachbarn vom alten Boguszynski, dem früheren Abgeordneten – der Vogt Krach gemacht hat. Und bei Riedemanns und in Wilhelmshöh und Laskowo, in Michalcza und in Zajezierce – überall spukt es. Auch unser Inspektor schimpft, und die Leute sind empört, ganz fanatisch, in ihren alten Rechten gekränkt; sie sind obstinat, sie werfen die Arbeit hin. Nichts als Ärger hat man davon, nichts als Schaden. Meine Liebe« – sie beruhigte sich nach und nach wieder ein wenig – »es mag ja sein – es gibt auch einige wenige, die das zur Entschuldigung anführen – daß Ihr Herr Gemahl geglaubt hat, Gutes stiften zu können. Aber er hat nur gehetzt. Ja, das hat er, meine Liebe!«

Frau Kestner nickte bekräftigend. Nun war sie zufrieden; sie hatte ihrem Herzen Luft gemacht und konnte zugleich stolz darauf sein, sich von persönlicher Antipathie nicht haben fortreißen zu lassen, sondern gerecht geblieben zu sein. »Tragen Sie es mir nicht nach, daß ich Ihnen das gesagt habe, sagen mußte«, bat sie jetzt und küßte die junge Frau. »Mein Mann ist auf dem Felde, er dürfte vielleicht nicht ganz einverstanden mit mir sein. Aber – Sie haben mich offen gefragt, und ich habe Ihnen offen geantwortet. Ich bin immer für Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit. Ich« – sie sah sich suchend um, sie hatte vergessen, daß sie Kornelia hinausgeschickt – »ich habe das auch meinen Kindern mit Erfolg eingeprägt.«

»Ich danke Ihnen, gnädige Frau«, sagte Helene und erhob sich. Sie war wie erlöst – also das war's? Es war hart für Hanns-Martin, sehr hart, so verkannt zu werden – aber das war doch zu verwinden! Wenn es weiter nichts war! Gott sei gepriesen!

Ganz anders, als sie aus dem Wagen gestiegen war, stieg sie nun wieder in ihn ein. »Gottlob«, sagte sie laut, als sie zum Hoftor hinaus war. Sie hieß den Kutscher recht schnell fahren. Es drängte sie jetzt so unbeschreiblich von hier fort, wie es sie vorher hergedrängt hatte.

Und der Kutscher brauchte die Peitsche und schnalzte mit der Zunge. Und der Wagen flog hin unter den blühenden Akazien, deren duftende Trauben jetzt ein Abendwindchen schüttelte, und flog weiter durch die blühenden Klee- und Lupinenfelder, vorbei an mannshohem Roggen. Schnell, recht schnell auf den Lysa Góra zu! Um den Berg wob die Abendsonne einen Strahlenflimmer, und der Stamm der einsamen Kiefer glänzte wie Blut.

Nun würde sie bald zu ihrem Mann kommen! Und so ganz anders, als sie ihn verlassen hatte! Fort war das Zagen, die ahnungsschwere Furcht; jetzt war sie voll Sicherheit und Entschlossenheit, voll festen Mutes, jetzt wußte sie ja, was man gegen ihn hatte. ›Mein lieber Mann‹, würde sie zu ihm sagen, ›was die Leute reden, ist das wohl wert, daß du darum so verdüsterst? Was tut's, wenn keiner dich versteht, keiner dich so sieht, wie du bist, unsre Söhne – jetzt sind sie noch Kinder, aber sie werden aufwachsen – werden dich begreifen und dir danken ihr Leben lang. Denn deine Aussaat wird ihre Ernte sein. Du kannst dich doch freuen. Hanns-Martin, freue dich!‹

Mit einem fast heitren Lächeln auf dem ernsten Gesicht fuhr Helene von Doleschal dem Lysa Góra zu.

 

Oben auf dem Lysa Góra, im Schoß der kleinen Marynka, lag mit zerschmettertem Haupt der Deutschauer Herr. Das rote Blut des Abends, das am Stamm der einsamen Kiefer niedertroff, mischte sich mit dem roten Menschenblut.

Finster stand der alte Schäfer dabei, hochragend, sehnig und hager, auf seinen Stab gestützt. Lang fiel ihm das Haar auf den strickgegürteten Schafpelz; er hatte das Haupt entblößt im Angesicht des Todes, frei spielte der Wind mit seinen weißen, vom Wetter mißfarbigen Strähnen.

Sie hatten ihre Herden geweidet, die Schafe und die Gänse, unten am Lysa Góra, und der schlafende Berg und die Stille rundum waren plötzlich erschüttert worden von einem scharfen Knall. Da waren sie neugierig herzugeeilt, der alte Dudek und die kleine Marynka, und sie hatten den Niemczycer gefunden. Zwischen den Wurzeln der Kiefer lag die Pistole, aus der er sich die Kugel in die Schläfe gejagt; er selber war zusammengesunken am Fuß des einsamen Baumes. Vorsichtig hob Marynka das verwundete Haupt – sie trug keine Scheu – und bettete den Sterbenden auf ihren Lumpenrock.

Der Herr von Deutschau sah nicht mehr, sein Auge war schon gebrochen; er sah nichts mehr von dem weiten Land, über das er so oft geschaut hatte, sehnsüchtig, traurig, verzagend und doch immer der Liebe voll. Unabsehbar breiteten sich die Fluren, golden bis zum fernsten Horizont, verklärt vom Abendlicht und still im Scheiden des Tages. Nur aus dem Turm von Pociecha-Dorf rief laut die eherne Zunge der Glocke.

Schäfer Dudek bekreuzte sich und hob dann feierlich seinen Stab mit der Eisenspitze wie beschwörend:

»Feinde Polens müssen alle verderben. Dieser starb, und andre werden folgen ihm. Jahre sind gekommen und gegangen, wir haben Sommer und Winter gezählet, immer in Trauer, immer in Sehnen, immer in Hoffen – aber jetzt hat Polen genug geschlafen, jetzt steht es auf!«

Wie entrückt breitete der Alte seine Arme weit – den Stock ließ er fallen –, das Gesicht gegen die sinkende Sonne gekehrt, rief er laut: »Sie ist gesunken, aber morgen steigt sie neu. Polen, mein Polen, so stehest auch du auf! Freue dich, Land, mit deinen Wogen des Korns, mit deinen blinkenden Sensen! Freut euch, ihr Männer, freut euch, ihr Weiber! Ihr Kinder des großen Polens, freut euch!«

»Horch!« sagte die kleine Marynka und neigte das Ohr nach der Ebene.

»Was hörtest du? Hörtest du etwas?!« Der Alte lauschte begierig.

Von ferne war ein Rollen gekommen – schon klang es näher und rasch immer näher. War es das Rollen eines heranjagenden Wagens auf hartem Weg? Oder grollte die Tiefe des Berges oder mahnte ein Donner mitten aus heitrer Luft?

»Gott geht durch seinen Himmel«, jauchzte der Alte, »und die in der Tiefe sind, hören seinen Tritt. Er hat eine Kugel herunterfallen lassen, die hat unsern Feind getroffen. Die Stunde ist da!«

»Aber er war kein Feind«, sprach Marynka traurig. »Er war ein guter Herr, er war ein gnädiger Herr. Er war Freund von arme Marynka. Wird ihn vergessen nicht die kleine Marynka!«

Und die kleine Marynka neigte ihr kindliches Haupt auf den Toten und weinte über ihn.


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