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Der Winter war vergangen, schon grünten die Saaten frisch im Feld, aber froh war niemand.
Löb Scheftel hatte recht gehabt: das Fleisch war aufgeschlagen. Noch war nicht Ostern herangenaht, und schon kostete das Kälberne zwanzig Pfennige mehr das Pfund, und ebenso das Rindfleisch, wenn es nicht lauter Knochen waren; von dem fetten Schweinernen gar nicht zu reden. In Miasteczko murrten die Leute – lauter kleine Leute, Ackerbürger und Handwerker, die von der Hand in den Mund lebten – wie leicht die Brote waren und wie klein die Semmeln! Die Kinder aus Pociecha-Dorf, die sonst für einen Groschen eine Reihe von fünf Wecken für den Sonntag kaufen durften, mußten jetzt ihre Augen anstrengen: fünf Wecken sollten das sein? Ei, es waren ja eigentlich nur ihrer vier, davon konnten sie nicht satt werden.
Im Religionsunterricht hatte der Herr Vikar von den sieben fetten und den sieben mageren Kühen erzählt – o weh, o weh, jetzt war die Zeit der mageren! Und der Herr Vikar hatte ihnen auch erklärt: warum die jetzt war.
Weinend kamen die Kleinen nach Hause. Und nun wußten die Großen es auch bald: die kam darum, weil Gott der Allmächtige die Menschen strafen wollte. Man war zu lässig im Glauben, man hielt nicht genug auf seinen Glauben. Warum riefen die Kirchenglocken immer so laut? Sie riefen, damit man nichts andres hörte, nichts, was unnütz war fürs zeitliche und ewige Heil.
Vikar Górka hatte jetzt mehr denn je zu tun: da waren unzählige, die zur Beichte gehen wollten vorm heiligen Osterfest. Männer und Frauen, alle schlugen an ihre Brust: ja, sie hatten viel gesündigt, sie hatten ihr Vaterland verleugnet und das Brot der Deutschen gegessen! Sie hatten ihren Glauben verraten und deutsch gesprochen!
So einer jetzt nach der Messe deutsch mit seinen Knechten und Mägden gesprochen hätte, der wäre nicht verstanden worden. Herr Kestner auf Przyborowo versuchte es auch gar nicht erst, er sprach lieber gleich polnisch. Wenn es ihm auch nicht so fließend glückte wie seiner Frau – der Frauen Zunge ist gewandter – so verstand er sich doch mit seinen Leuten. Übrigens half Pan Szulc nach.
Es war, als sei der Inspektor immer in Przyborowo gewesen; dort war jetzt ein Regiment, wie man es sich nur wünschen konnte. Pan Szulc verstand das Volk zu nehmen: ordentlich mit der Ledergeknoteten eins übergezogen – wo's trifft, trifft's – aber hernach auch einen Schnaps.
Alle Tage freute sich Kestner des Tausches. Auch Frau Kestner nannte den neuen Inspektor einen tüchtigen und dazu artigen und wohlerzogenen Menschen. Es war ja geradezu entsetzlich gewesen, dieses stete Knausern des alten Hoppe mit den Pferden – als wenn sie ihm selber gehört hätten! Und hatte man eine Kiste an die Jungen schicken wollen, war's immer der gleiche Ärger wegen eines Boten gewesen. Jetzt waren stets Pferde zu haben und auch Boten vorhanden. Alle Welt in Przyborowo war zufrieden mit dem neuen Inspektor.
Wahrhaftig, der war doch was andres als der ›alte Knopp‹! Die junge Tochter des Hauses hatte das gleich am ersten Sonntag, an dem der Inspektor mit bei Tische aß, konstatiert. Als sie dann nach dem Kaffee einen Spazierritt unternommen – sie hatte an ihrem fünfzehnten Geburtstag mit Unterstützung des Vaters bei der Mutter durchgesetzt, von nun ab in Reitkleid und Herrenhütchen den kleinen Schecken reiten zu dürfen –, hatte ihr der neue Inspektor so elegant in den Sattel geholfen wie ein Kavallerieoffizier. Und was für ein allerliebstes Schnurrbärtchen hatte er!
Wenn Cornelia in der Studierstube des Vaters, in der Fräulein Wollenberg ihr den Unterricht erteilte, verdrossen an der Feder kaute, sah sie, reckte sie den langgeschossenen Hals noch ein wenig länger, über die Scheibengardinchen weg, oft den neuen Inspektor auf den Hof reiten. Wie gewandt er absprang, dem Pferd einen Klaps auf den Bug gab und der kleinen Marynka, die statt des Pferdeknechts dienstbeflissen herbeieilte, die Zügel an den Kopf warf.
Psia krew! Was hatte er für famose Beine in den eng anliegenden gelben Reithosen!
Die junge Cornelia träumte in mancher Nacht von dem neuen Inspektor, und als sie in der deutschen Literaturstunde Goethes ›Torquato Tasso‹ durchnahmen, fragte sie Fräulein Wollenberg, ob es denn unpassend sei, einen Untergebenen zu lieben?
Fräulein Wollenberg war ziemlich verblüfft über diese Frage: natürlich war es unpassend. Aber als die Stunde zu Ende war und sie dem Postboten entgegeneilte, um einen Brief in Empfang zu nehmen, dessen Adresse, wie Cornelia ganz genau wußte, von Bruder Rittmeisters Hand geschrieben war, lachte die Schülerin hinter der Erzieherin drein: haha, unpassend? Was die sagte! Dann wäre es ja auch unpassend, daß Pawel die Wollenberg poussierte.
Eine schläfrige Eintönigkeit lag winters über dem verschneiten Gut, eine große Langeweile, deren sich selbst der junge Backfisch, der doch zeitlebens nichts andres gewohnt war, nicht erwehren konnte. An den Vormittagen ging es noch an, da hatte man die Stunden und Klavier zu üben, aber dann – hu, die Abende waren gräßlich! Schon die Nachmittage waren wie die Abende. Fräulein Wollenberg korrespondierte, Papa und Mama schliefen im Winter nach Tisch ausgiebig, Besuch konnte man nicht erwarten, denn die Wege waren zu Wagen ganz unpassierbar – junge Mädchen, mit denen man hätte befreundet sein können, gab's überdies nicht in der Nachbarschaft – mit was sollte man sich nun unterhalten?
Es blieb nur das einzige Amüsement, durch den langen dunklen Gang nach der Küche zu schleichen und die Mägde und Knechte zu überraschen. Die junge Cornelia hatte Ohren wie ein Luchs; was auch in der Gesindestube gesprochen wurde, hörte sie.
Und wenn sie das Gesinde also belauschte, mit angehaltenem Atem, den Rock dicht an den schlanken Körper ziehend, im Winkel des Flurs hinter der Küchentür stand, hörte sie oben Pan Szulc hin und her trappeln; er wohnte gerade über der Küche. Ob der sich wohl auch so langweilte?
Seine meiste freie Zeit, deren der tüchtige Inspektor, trotz der allmählich beginnenden Frühjahrsbestellung, doch noch übrig hatte, verbrachte er im neuen Ansiedlungskrug. Es war angenehm, während der Ehemann draußen herumwirtschaftete, gemütlich drinnen bei der jungen Frau zu sitzen.
Valentin zog sich jedesmal zurück, sobald Pan Szulc erschien. Wenn er auch schon manche Redensart gelernt hatte – Stasia hatte sich alle Mühe mit ihm gegeben, und er auch aufgepaßt, als gelte es sein Leben –, das Polnisch war doch so schwer, zu schwer, er würde es nie ganz begreifen. Er würde es nicht sprechen können, weil seine Zunge zu ungelenk war, nicht verstehen können, weil er nicht polnisch dachte. Und wenn gar die zwei Landsleute sich mitsammen unterhielten, so rasch, so fließend, so alert, dann summten ihm Kopf und Ohren. Er verstand nichts, gar nichts, und er fühlte sich wie beleidigt.
Pan Szulc lachte über den nichts verstehenden Ehemann. Stasia lächelte: ja, der gute Walek war wirklich dumm, sehr langsam im Begreifen!
Und ungeniert rückten sie näher zueinander: vor wem sollten sie sich denn Zwang auferlegen? –
Am Tage von Mariä Verkündigung plante Stasia, zum Ablaß zu gehen.
Es stand eine kleine Kapelle, keine Meile weit von Pociecha-Dorf, mitten im Ackerfeld, die Schnitter suchten im Sommer Schutz darin vor Ungewittern. Die stand schon da seit vielen hundert Jahren, und viele Hunderte waren dort schon hingewallfahrtet; ein Blitz war einst niedergefahren und hatte die wundertätige Muttergottesfigur überm Altar geschwärzt, aber verbrennen hatte er sie nicht können. Und unter der Kapelle, gerade unter den Füßen der heiligen Mutter, entsprang eine Quelle, und wer kranke Augen hatte oder blind war und wusch mit diesem Wasser die Augen, der ward sehend.
Die junge Frau versprach sich ein besonderes Fest von diesem Gang zum Ablaß. Sie forderte Pan Szulc auf, auch hinzugehen: sie würden sich dann dort treffen, und hernach würden sie tanzen.
Auch Frau Kettchen hegte die Absicht, zum Ablaß zu pilgern. Nun waren sie schon über ein und ein halbes Jahr hier im Land, und sie hatte noch immer ihr Gelöbnis einer Wallfahrt nicht erfüllt.
Aber nun war es an der Zeit. Gefiel es ihr denn nicht schon besser hier? Ja, ja – wenigstens meinte das der Herr Vikar. Hatte sie nicht alle Ursache, zufrieden zu sein? Einen guten Mann, gute Kinder – der Herr Vikar lobte das Settchen, das nun zu ihm in den Vorbereitungsunterricht ging, sehr –, und war die Schwiegertochter nicht auch ganz nach Wunsch?! Ja, ja, das schon, aber … Frau Kettchen sprach vor sich selber den Satz nicht zu Ende. Sie hätte es ja auch eigentlich nicht in Worte fassen können, was ihr nicht gefiel; es war eine Gedankensünde, die durfte sie nur in der Beichte flüsternd ahnen lassen. Aber der Priester stärkte sie durch sein mahnendes und zugleich tröstendes Wort, und sie wurde stark genug, den Argwohn, der sie beschleichen wollte, wenn sie Valentins trüben Blick sah, von sich zu weisen – täte sie denn damit nicht der freundlichen Schwiegertochter bitteres Unrecht? Und unrecht würde es auch sein, darüber zu klagen, daß das Settchen den heiligen Religionsunterricht empfing zusammen mit den polnischen Kindern. Es war ja wirklich ganz gleich, ob man die Gebote Gottes aus dem Katechismus auf polnisch hörte oder auf deutsch – Gottes Gebote bleiben immer dieselben, darin mußte sie dem Herrn Vikar auch wieder recht geben. Und daß das Settchen jetzt gut genug polnisch verstand, war ja auch wahr; man konnte es von dem Herrn Vikar, der ohnehin so unendlich viel zu beschicken hatte, wirklich nicht verlangen, daß er um eines einzigen Kindes willen den ganzen selben Unterricht auch noch einmal auf deutsch wiederholte.
Das alles sah Frau Kettchen ein, und daß sie nicht alles und jedes ihrem Mann zutragen durfte, das war ihr nun auch klargeworden. Herzenssachen und Kindererziehung, das sind Angelegenheiten, die die Frau am besten versteht – hatte so nicht der Herr Vikar zu ihr gesprochen, als sie in die Propstei gegangen war, sich Rat zu holen? Es war ihre Pflicht, immer zum Guten zu wirken; darum durfte sie auch beileibe nichts verlauten lassen, daß das Settchen jetzt betete:
» Ojcze nasz któryœ jest w niebiesiech!«
anstatt:
»Unser Vater, der du bist im Himmel!«
Ängstlich wachte sie darüber, daß ihrem Peter nichts hiervon zu Ohren kam. Aber etwas Unruhiges kam dafür in ihre Seele und etwas Scheues in ihr Auge, das, früher so licht und offen, jetzt den Blick des Mannes mied.
Peter Bräuer empfand das veränderte Wesen seiner Frau wohl, aber er hatte nicht Zeit, darüber nachzudenken, er hatte der Sorgen jetzt so viele. Es waren der Sorgen noch immer nicht weniger geworden als im Anfang, im Gegenteil, es wurden ihrer immer mehr und mehr, und wenn er ganz aufrichtig gegen sich sein wollte, mußte er sich's eingestehen, daß es ihn schon längst reute, die rheinische Heimat verlassen zu haben. War's nicht ein Übermut gewesen? Ja, ja. Aber gerade deshalb nun: die Zähne aufeinander und sich durchgebissen! Mit wahrer Wut warf sich der Mann auf die Ackerbestellung. Er kaufte neues Saatgetreide – Herrgott, war das teuer! Das vom Niemczycer bezogene mußte nichts getaugt haben, sonst wäre die vorjährige Ernte besser gewesen – natürlich, was liegt den großen Herren daran, ob der kleine Besitzer zuschanden geht! Wenn die nur Geld in ihren Säckel kriegten und wie die Fürsten auf ihren Gütern sitzen konnten, alles andre war denen ja egal!
Der Ansiedler warf einen rechtschaffenen Haß auf den Großgrundbesitz. Da sind sie erst immer so herablassend, die vornehmen Herren, tun wie auf ›du und du‹, und wenn man's glaubt und wenn man denkt, man kann ›du‹ sagen, dann sind sie auf einmal zugeknöpft bis an den Hals.
Wie das Kettchen nur je hatte glauben können, daß der Valentin durch die Fürsprache des von Doleschal die Wirtschaft gekriegt hätte!
Der von Doleschal – haha, das war gerade der richtige! Bräuer lachte bitter. Selbst der eigne Inspektor mochte den ja nicht leiden – das heißt, gesagt hatte der Hoppe kein Wort gegen seinen Prinzipal, das zu behaupten, wäre eine Lüge gewesen, aber man hatte es ihm doch angemerkt: warm war ihm noch nicht geworden auf Deutschau.
Bräuer und Hoppe hatten sich im Ansiedlungskrug getroffen. Der Ansiedler hatte ein Schnäpschen dort heruntergegossen, gerade als der Inspektor eingetreten war. Gesehen hatten sie sich wohl früher schon, aber nun kamen sie zum erstenmal ins Gespräch. Sie vertieften sich ganz, denn da war vieles, in dem sie gleicher Ansicht waren.
Die junge Wirtin saß derweilen in einem Eckchen und schien über einer Häkelarbeit zu druseln; aber sie schlief nicht, unter ihren halb geschlossenen Lidern flog ab und zu ein schneller, schlau neugieriger Blick zu den beiden deutschen Männern hin.
Die schalten wacker auf die hiesigen Verhältnisse. War's nicht eine Schande, daß der Polack sich so duckte? Wären die Herren nicht von alters her an die Kriecherei von Sklaven gewöhnt, so hätte der freie Mann jetzt eine bessere Existenz.
»Da sollten Sie mal bei uns kommen, am Rhein! Da is et doch ganz wat anders«, prahlte der Rheinländer, »en ander Werk als hier in der lausigen Ostmark!«
Trüb nickte der Posener: nur Herren und Knechte gab's hier, darin hatte der Herr Ansiedler wohl ganz recht. Aber nein, auf die Provinz selber durfte er nichts sagen, das Land war gut – ach, das Land war ja so dankbar! Hatte man je so schöne Felder gesehen wie die von Przyborowo?
Und mit Augen, die von Liebe leuchteten, erzählte der alte Inspektor von dem Weizen, den er dort geerntet, von dem Hafer, der so tief die schweren Fahnen geneigt hatte, von der Roggenstoppel, dicht wie eine Bürste, und von den Rüben. »Solche Stücken!« Er zeigte mit beiden Händen einen Umfang, dick wie ein Kinderkopf.
»Ich hab ihrer auf meinem Land noch kein' solche gesehen!« sagte der Ansiedler trübe.
Das wollte Hoppe wohl glauben. Betriebskapital, ja, das gehörte dazu, und dazu nicht nur ein kleines, und dann Kenntnis der Bodenbedingungen, genaue Kenntnis der hiesigen wirtschaftlichen Verhältnisse. Er freilich war geboren hier in der Provinz und immer hier gewesen, er wußte ganz genau, was der Boden verlangte.
»So, hm!« Der Ansiedler sah ihn zweifelnd an. »Un doch, Herr Inspektor – nix für ungut –, un doch haben Sie et grad nit zu wat Extraem gebracht, wie ich mir hab erzählen lassen!«
Des alten Mannes Gesicht, das eben noch von einem fast zärtlichen Lächeln erhellt gewesen war, wurde schnell finster. Er fuhr sich über die Stirn, die durchfurcht war wie gepflügtes Ackerfeld.
»Das lag nicht am Boden«, sagte er rauh, »das lag an ganz was andrem. Hören Sie mal« – mit einer hastigen Bewegung legte er Bräuer die Hand schwer auf die Schulter und sah ihn fast beschwörend an – »machen Sie, daß Sie hier wegkommen! Sie bringen es hier auch zu nichts. Sehen Sie zu, daß Sie Ihre Stelle wieder loswerden! Sie sind ja noch jung genug, auch noch kräftig genug, fangen Sie lieber in Ihrer Heimat wieder von vorne an!«
»Den Kuckuck werd' ich tun! Herr, Sie sind wohl geck?« schrie grob der Rheinländer und schlug auf den Tisch, daß die Gläser tanzten und Stasia, in ihrer Ecke auffahrend, die Ohren spitzte. »Darum bin ich ja extra hierhingekommen, um in kürzerer Zeit wat vor mich zu bringen. Wenn ich dat hab, dann werd' ich schon wieder gehn. Meinen Se« – er lachte auf – »ich möcht mein Leben zu End' führen hier in Ihrer Provinz? No, so dumm bin ich doch nit!«
»So denken sie alle.« Traurig nickte der alte Mann. »Das Land ausnutzen und dann in die Städte ziehen – so denken ja die Polen selber!«
»Och, gehen Se mir weg mit Ihren Polacken!« Geringschätzig zuckte Bräuer die Schultern.
»Die Polen sind gut«, sagte der Inspektor rasch. »›Gut‹, damit meine ich das Volk, die Männer und die Weiber, die den Acker bestellen im Schweiß ihres Angesichts. Die kennen Sie ja gar nicht, wie ich sie kenne – kindgut sind sie, sag' ich, fleißig, anhänglich, dankbar, treu wie ein Hund seinem Herrn!«
»Och, hören Sie auf!« Bräuer machte eine ungläubig abwehrende Bewegung. »Spitzbuben sind se, stehlen wie die Raben. Un boshaft sind die Canaillen! Denken Se an« – der Zorn überkam ihn, er sprang auf und schüttelte anklagend die Faust – »haben se nit letzthin in einer Nacht all meinen Obstbäumcher de Kronen abgebrochen! Vierzig Obstbäumcher, all eingeknickt, all kaputt! Un ich dacht schon, dies Jahr wat zu ernten!«
Die Erinnerung überwältigte ihn noch; mit einem Laut des Schmerzes und der Wut ließ der schwere Mann sich auf einen Stuhl fallen und stierte, die geballten Fäuste an die Stirn gedrückt, finster auf den Tisch.
Der Inspektor nickte.
»Ja, ja, so was kommt hier schon vor. Und doch sage ich noch einmal: der Boden ist gut, und das Volk ist auch gut. Man hat nur zuviel an ihm gesündigt. Das ewige Beten macht's nicht, das auf den Knien rutschen, zur Messe laufen und in die Beichte gehen. Und – hören Sie, Herr Ansiedler, wenn dazu noch einer, der großartig auf seinem Herrenhof sitzt, wenn dazu nun so einer sagt: ›Wozu Schulen, wozu Bildung, dumm müssen sie bleiben, je weniger sie wissen, desto bessere Arbeiter sind sie!‹ – Herr Gott, wenn ein großer Herr so was sagt, was kann man da vom armen Volk verlangen?!«
»Hm, ja – no ja.« Bräuer strich sich das Kinn. »Donnerwetter, Sie sind ja 'ne Sozialdemokrat!«
»Bin ich das?« Der alte Mann lächelte verlegen und strich ganz verwirrt über das stopplige Gesicht. »Das weiß ich nicht, das weiß ich wahrhaftig nicht!«
»No un ob!« Der Rheinländer lachte dröhnend. »Aber Sie brauchen sich deswegen nicht zu genieren. Weiß Gott, mer kann hier dazu kommen. Stasia« – er drehte sich nach seiner Schwiegertochter um – »bring noch en Flasch Bier und zwei Gläser, dadrauf müssen wir anstoßen!«
Stasia brachte das Gewünschte. Mit einem » Na zdrowie« stellte sie es vor ihren Schwiegervater hin. Lächelnd ging sie dann hinaus, sie hatte genug gehört. Ei, was würde der Herr Vikar sagen, wenn sie ihm das erzählte?
Die beiden Männer hatten dann auch bald den Krug verlassen. Sie gingen miteinander fort bis hinüber zu Bräuers Haus. Dort trennten sie sich mit einem Händedruck. ›Ein schnurriger alter Kerl‹, dachte der Ansiedler, ›dumm, daß er so wenig auf seinen eigenen Profit Bedacht genommen hat; hätte der das getan, hätte er's wohl auch weitergebracht im Leben als so – no, ganz bieder ist er jedenfalls, man kann sich von ihm schon hie und da mal beraten lassen.‹
Hoppe hatte, als er über die jungen Saatfelder in der Richtung des Lysa Góra hinwanderte, ein seit langer Zeit nicht empfundenes, wahrhaft befriedigendes Gefühl: da hatte er endlich einmal einem Menschen seines Herzens Meinung sagen können. Ach, wie tat das gut! Man war doch sonst gar zu vereinsamt. Der Prinzipal war immer höflich, auch gerecht – aber gemütlich, nein, gemütlich war's nie mit dem. Ein Ehrenmann war er, sicherlich, aber hochmütig, und aus lauter Hochmut verschlossen, so verschlossen, daß es beleidigend war für den, der täglich mit ihm zu arbeiten hatte. Warum sprach er sich denn nie aus? Seine Worte dünkten ihn wohl zu kostbar? Damals, als das Plakat gehangen hatte am Tor der Katarynka – man hatte es ihm angesehen, wie ihn das wurmte –, aber bewahre, kein Wort hatte er gehabt auf den ehrlichen Ausdruck der Entrüstung, nur ein kühl ablehnendes: ›Ich danke.‹ Er war eben trotz aller guten Eigenschaften ein hochmütiger Aristokrat!
Und der alte Inspektor vergaß ganz, als er, den Kopf schüttelnd, über die schmalen Fußpfädchen quer durch die Saatfelder stapfte, was er diesem Hochmütigen eigentlich zu danken hatte.
Doleschal hatte sich zu einer Reise nach Berlin entschlossen – sein Freund, der Landrat, hatte ihm auch dazu geraten –, hatte er doch noch viele Verbindungen dort von früher her, von jener Zeit, als er, ein schneidiger Kürassier, auf den Hofbällen getanzt und bei allen Festlichkeiten der vornehmen Welt, bei Basaren und Wohltätigkeitsfesten eine gute und beliebte Figur abgegeben hatte. Man würde ihn dort wohl noch nicht ganz vergessen haben. Er würde herumfahren und seine Karte hineinschicken und die Gelegenheit finden, bei maßgebenden Persönlichkeiten sich und seine Kandidatur zu empfehlen.
Er war voll der besten Hoffnungen. Den ganzen Winter hatte er sich in trüben Tagen trübe gequält, nun kam ihm mit der grünenden Saat eine frohere Stimmung. Vom Lysa Góra herunter sah er auf lauter hoffendes Land. Und er tadelte sich: hatte er nicht unrecht gehabt, mitunter so zu verzagen? Schlimme Elemente gab es überall, aber wenn man sie erkannte, war es nicht schwer, ihnen zu begegnen. Das Deutschtum besaß doch eine so große, so überzeugende Kraft, seine Segnungen lagen so auf der Hand, daß es mit der Zeit selbst die verstockteste Gegnerschaft überwinden mußte. Nur Zeit, Zeit, eine Masse Zeit mußte man haben. Man mußte die Zeit haben, zu warten, bis in allen Schulen nur deutsch gelehrt wurde. Bis deutsche Kinder, von deutschen Eltern hier geboren, den Acker bestellten. Zeit, bis die polnische Dirne, die der deutsche Bursche freite, ihr Vaterland da fand, wo ihre Liebe war!
Doleschal, den Valentin Bräuers Hochzeit mit soviel Unwillen erfüllt hatte, hörte jetzt Gutes von dem Paar, und er hatte die jungen Leute auch schon einmal zusammen gesehen. Er war am Kruge vorbeigefahren, da hatten sie miteinander auf der Haustreppe gestanden; sie fütterte die Hühner, die emsig pickten, mit eifrig lockendem ›Put, put‹, und er hatte ihr gefällig den Futterkorb gehalten. Sie schienen so recht einträchtig; die hübsche Frau mit ihrem glänzenden Haar, sauber angetan, gab ein freundliches Bild. Und die Fenster des Hauses waren auch blank gewesen, und weiße Gardinchen hingen daran; selbst die Straße vorm Krug war sauber, eine derbe Magd war eben dabei, mit Schaufel und Besen den Schmutz von Rossen und Kühen beiseite zu schaffen. Es hatte Doleschal mit einer wahren Freude erfüllt, das so zu sehen: hier konnte junge Saat aufgehen, kräftig und verheißungsvoll! Gottlob!
Helene freute sich der heiteren Stimmung ihres Mannes – Gott sei Dank, er konnte doch noch lachen! Oft hatte sie geglaubt, er habe es ganz verlernt. Aber ihn nach Berlin zu begleiten, hatte sie abgelehnt. Was sollte sie da? Seine Interessen konnte sie nicht unterstützen, und – sagen durfte sie's ihm freilich nicht – sie wollte die auch gar nicht unterstützen. Wenn er mit ihr über seine Pläne gesprochen hätte, so würde sie ihm gesagt haben, wie schwer die Befürchtung einer Enttäuschung für ihn auf ihr lastete. Wie konnte er nur denken, hier durchzudringen?! War denn sein Auge so ganz umschleiert, daß er nicht sah, was so deutlich zu sehen war, so zum Greifen nah, wie vom Lysa Góra der schwarze Turm von Pociecha-Dorf?! Er würde hier nicht siegen!
Doleschal war enttäuscht, daß seine Frau ihn nicht nach Berlin begleiten wollte, aber zuletzt sah er's doch ein, daß sie bleiben mußte, wenn er fern war. Er würde nun seine Berliner Besuche so sehr als möglich zusammendrängen, um zu den Osterfeiertagen wieder bei den Seinen zu sein. Die Knaben quälten ihn um Ostereier – ja, ja, er würde ihnen welche mitbringen, viele. Voller Freudigkeit versprach er's ihnen; er hätte noch ganz andres versprochen, er war wie neubelebt.
Helene brachte ihn zur Eisenbahn. Die Kinder empfahl sie derweilen der Obhut der Gouvernante und der alten Pelasia. Es würde ziemlich spät werden, bis sie zurückkam, da sie ihren Mann, der mit dem Nachtzug fuhr, noch bis zum Coupé begleiten wollte.
Doleschal wußte selbst nicht, was ihn plötzlich überfiel gleich einer jähen Traurigkeit, als er, die Hand seiner Frau in der seinen haltend, der Kreisstadt zufuhr.
Heute war ein ungewohntes Treiben, Kommen und Gehen auf den sonst so stillen Feldern. Der Märzwind wehte in Röcken von Weibern, lüftete Rockschöße von Männern und ließ viele rote, blaue, grüne und violette Bänder in der Luft flattern.
Sie waren alle im Sonntagsputz, wie zum Kirchgang gerüstet, im höchsten Staat. Den Rosenkranz trugen sie um die Hände geschlungen; die Frauen hatten am Arm ein Körbchen, das scharlachene Sacktuch trug der Mann wie ein Bündel. Gleich großen bunten Blumen wehten die Gestalten über die schwach begrünte Ebene, einzeln oder auch in Trupps gesellt; aus allen Richtungen kamen sie her, alte und junge Männer, alte und junge Weiber, Knaben und Mädchen. Und vom Pociechaer Dorfturm tönte die Glocke in einem fort.
Wohin strömten die nur alle? Jetzt war doch nicht sonntägliche Kirchgangszeit?
»Mariä Verkündigung, gnädiger Herr – Ablaß!« sagte der Kutscher und drehte sich herum nach den Herrschaften.
»Fahren Sie heute abend auf dem Nachhauseweg so schnell als möglich«, befahl ihm Doleschal, und dann wendete er sich besorgt zu seiner Frau: »Hoffentlich habt ihr keinen Krawall mit Betrunkenen! Fatal!« Seine Stirn zog sich kraus, wie mit einem Schlag war seine ganze gute Laune dahin. Er faßte die Hand seiner Frau noch fester, eine plötzliche Sorge packte ihn: »Es wird dir doch nichts passieren?«
Sie sah ihn dankbar an: »Mein guter Mann, wie du immer sorgst!«
»Ich mag dich gar nicht allein lassen. Ich möchte lieber bei dir bleiben«, murmelte er.
Sie nickte lächelnd, aber Tränen waren ihr jäh in die Augen geschossen. »Es wäre mir auch lieber, du bliebest hier. Ach ja!«
Das Scheiden von ihm wurde ihr auf einmal so unsagbar schwer. Wie töricht, es handelte sich ja nur um kaum eine Woche! Aber ihr war, als sollte die zur Ewigkeit werden. Dichter zu ihm rückend, legte sie ihre zweite Hand auch noch in die seine.
»Bleibe«, flüsterte sie innig, »bleibe bei mir!«
»Aber ich kann ja nicht, ich muß doch fort!«
»Ja, du mußt fort!« Traurig nickte sie. Und dann zog sie ihre Hände aus der seinen, faltete sie im Schoß und sah still darauf nieder. Sie wagte jetzt nicht mehr zu sprechen, denn dann hätte sie weinen müssen, und sie wollte nicht weinen – nein, nicht wehleidig sein! Und sie biß die Zähne aufeinander.
Auch er schwieg. Ohne zu sehen, glitten seine Blicke über die weiten Felder und die geputzten Menschen, die alle zum Ablaß eilten. Er wandte den Kopf noch einmal zurück in der Richtung nach Deutschau – da schwand eben der Lysa Góra.
Es war heut wenig Hoffnungsfreudigkeit in der grauen Luft, am Tag von Mariä Verkündigung. –
Auch die Bräuers hatten sich auf den Weg zum Ablaß gemacht: der Mann, die Frau, das Settchen, der Sohn und die Schwiegertochter. So waren sie ein ganzer Trupp. Valentin hatte erst nicht mitgewollt, aber die Mutter hatte ihm zugeredet: warum wollte er sich ausschließen? Weiß Gott, er kam auf viel bessere Gedanken, wenn er mitging! Und ein forschender Blick hatte sein nachdenkliches Gesicht gestreift: fühlte er sich nicht wohl, warum war er jetzt oft so still? Aber er hatte sie beruhigt: nein, er war ganz gesund, sie brauchte sich nicht zu sorgen. Er war eben nur nicht mehr der ledige Bursche, er war nun ein Ehemann, der was zu bedenken hatte. War es nicht zum Beispiel unrecht, daß er jetzt fortging und den Krug allein ließ?
Darüber war Stasia nun ganz ruhig. Sie lachte: allein –? Der Vater war ja da und führte die Aufsicht.
Valentin erwiderte nichts hierauf, aber sein Gesicht zeigte, daß ihn das durchaus nicht beruhigte.
Stasia sah es, und ihr Ton wurde gereizt: dann hätte er doch zu Hause bleiben sollen, hatte sie ihn etwa dazu gedrängt, mitzugehen, he?
Das war es ja gerade. Daß sie ihm so wenig zugeredet hatte, das hatte Valentin nun doch bestimmt, mitzugehen. Er wollte nicht immer derjenige sein, der beiseitestand, wenn sie mit Pan Szulc schwatzte. Und daß dieser sich einfinden würde, des war er gewiß. Ein dumpfer Groll gegen den Inspektor erfüllte ihn. Der hatte ihm zwar nie etwas zuleide getan, war stets höflich, aber wenn der nur die Wirtsstube betrat, wurde ihm schon heiß und kalt. Er mochte es nicht, wenn der so vertraut mit Stasia sprach, wenn der mit Stasia lachte und er nicht mitlachen konnte. Ha, wie er ihn haßte, den – den – Polacken!
Vormals hatte er sich oft über den Vater verwundert – war's nicht gleich, ob polnisch, ob deutsch? Aber jetzt – ach!
Er seufzte, als er Stasia vor sich hergehen sah, mit der ganzen Zierlichkeit, die ihr eigen war. Wie er dieses Weib liebte, so von ganzer Seele, so über alle Maßen – aber liebte sie ihn?
Die heißen Blicke seiner weit gewordenen Augen hingen sich an sie. Ach, wenn sie doch von Glas wäre, daß er sie durch und durch gucken könnte! Mochte sie ihn wirklich leiden? Oder war er doch immer noch der Deutsche, der Fremde?!
Er wollte ihr ja alles zuliebe tun. Soviel polnisch hatte er schon gelernt, aber immer noch nicht genug, immer noch nicht genug – sie war noch immer nicht sein.
Gehörte sie nicht jemand andrem viel, viel mehr? Aber wer war dieser andre? Wenn er das nur wüßte! Alle Menschen, mit denen sie sprach, ließ er bei sich vorüberpassieren: ihre Eltern, den Vikar, Pan Szulc – alle – er haßte sie alle.
Aber allein schuld waren die nicht.
Mit einer trostlosen Frage irrte sein Blick über das weite Land – was trennte ihn denn noch von ihr?
Ach, nichts, gar nichts, es war ja nur seine eigne Dummheit, die ihn quälte! Konnte man wohl eine bessere, eine schönere Frau finden?
Und war's nicht auch schön hier in Polen? Auch in Polen ließ sich's leben, so gut wie am Rhein. ›Valentin, Valentin Bräuer‹, sagte er zu sich selber und gab sich mit der flachen Hand einen Schlag vor die Stirn, ›sei doch nit so dumm!‹ Und mit einem plötzlichen Entschluß nahte er seinem jungen Weibe leise von hinten und drückte ihr einen Kuß auf die Schulter.
Sie schrie auf. » Psia krew, was für ein Frecher!« Aber dann lachte sie unbändig: ach, der Walek war's! Der küßte ja die Schulter wie einer von hierzuland! »Da – da – auch den Kleiderärmel!« Sie hielt ihm ihren Ellbogen hin. Und: »Da – da auch: › padam do nog‹!«
»Laßt doch die Dummheiten«, sagte Vater Bräuer. Es ärgerte ihn, daß der Junge sich so zum Narren halten ließ. »Gebt dat doch auf«, brummte er.
Aber die Schwiegertochter lachte: »Wenn er doch will!« Und Valentin an der Hand fassend, zog sie ihn mit sich, ein wenig abseits von den andern, und fiel ihm da, gedeckt von einem strauchartigen Holzbirnbaum, der am Grabenrand stand, um den Hals. »Walek, mein Lieber, o du meine Seele, komm, küsse mich!«
So liebeheiß war sie lange nicht gewesen. Es durchrieselte den jungen Mann wie ein Feuer. Ach, wenn er nur erst Vater wäre, wenn sie nur erst einen kleinen Jungen kriegten oder ein kleines Mädchen, gleichviel, nur ein Kind, dann würden sie sich doch ganz anders verstehen! Ein Licht ging ihm plötzlich auf am grauen Horizont, eine Hoffnung, leuchtend wie die Sonne: ein Kind, ein Kind mußten sie nur erst haben. Wenn das in der Wiege lag, dann war alles, alles gut.
Zärtlich seine Frau an der Hand behaltend, ging er mit ihr auf die Kapelle zu. –
Dort war der Ablaß in vollem Gang. Vikar Górka, unterstützt von dem Geistlichen eines Nachbardorfes, versah den Dienst. Er sah blaß und erschöpft aus; die Anstrengung war sehr groß.
Die Bräuers zogen auch um den kleinen Altar, von dem die schwarze Mutter Gottes heruntersah, in der Reihe mit den andern, feierlichen Schrittes. Nun hatten sie auch gebetet und geopfert und dann den Ablaß bekommen wie die andern. Nun wollten sie auch noch aus der als wundertätig geltenden Quelle schöpfen; es waren ihrer viele da, die daran glaubten. Müde und vom Staub des Ackers entzündete Lider hatten sie alle, und ein paar Greise bückten und bückten sich immer wieder und bespülten mit der hohlen Hand lange und unablässig ihre erloschenen Augensterne.
Stasia, die drinnen in der Kapelle ein Gesicht gemacht hatte, fromm wie das Madonnenbild selber, war hier außen übermütig lustig. Auf den sprossenden Rasen hatte sie sich niedergesetzt. Oh, sie hatte es nicht nötig, sich die Augen zu waschen! Sie schöpfte nur zum Trinken und spritzte dann ihrem Mann vom Wasser ins Gesicht: »Auf daß du sehest!«
Er wischte sich lachend mit dem Rockärmel die Tropfen ab, die ihm vom reichlichen Guß über Stirn und Lider rannen. Als er wieder schauen konnte, sah er plötzlich Pan Szulc stehen – zum Donnerwetter, hatte der sich doch eingefunden?!
Der Inspektor schloß sich den Bräuers an; auf dem Nachhauseweg ging er mit Stasia. Vergebens suchte Valentin bei ihnen zu bleiben – bald waren sie weit vor, bald allein zurück – er wußte sich's nicht zu erklären, wie es zugehen konnte, daß sie ihm immer wieder entschlüpften.
Zuletzt gab er's auf und ging allein. Er ließ den Kopf auf die Brust hängen und brütete vor sich hin.
Vor ihm her gingen Vater und Mutter und führten das Settchen in der Mitte; andächtig gingen sie alle drei und sprachen wenig. Frau Kettchen betete jetzt nicht mehr den Rosenkranz wie auf dem Hinweg, aber es war gewiß, daß sie noch in ihrem Innern betete; ihr Blick war fromm.
Warum war Stasia nicht auch so? Der junge Bräuer hörte das Kichern seiner Frau hinter sich. Warum war die nicht auch so? Ach, daß sie doch der andern mehr gliche! Valentin hatte seine Stiefmutter immer herzlich gern gehabt, aber heute, jetzt auf einmal, hatte er noch ein andres Gefühl für sie. Es trieb ihn, die Vorangehenden mit ein paar hastigen Tritten einzuholen und dann neben Frau Kettchen ein Weilchen herzuschreiten. Als kleiner Junge hatte er sich gern der Stiefmutter an den Rock gehängt, nun drängte es ihn wieder, ihr Kleid zu berühren. Wie in Ehrfurcht streifte seine Hand darüber hin. »Mutter«, sagte er leise, »gute Mutter!«
Und dann ging er wieder ganz allein hintennach, bis sie nach Pociecha-Dorf kämm. Hier zupfte ihn Stasia am Rockschoß. Droben beim Ablaß hatte sie eine der sauren Gurken haben müssen, die das schmutzige Weib an der Kapellentür feilbot, und von dem Krüppel auf der andern Seite, der Heringe aushökerte, hatte sie auch gekauft und den Fisch verzehrt, aus der Salzlake heraus, wie alle taten; jetzt wollte sie auch tanzen in Pociecha-Dorf.
Heute, heute wollte sie tanzen, in der Fastenzeit? War sie toll? Valentin faßte nach ihrem Kleid.
Sie machte sich los. Taten das denn nicht alle, und war sie's nicht gewohnt so, immer, an jedem Ablaßtag? So war es Mariä Verkündigung, so Mariä Kräuterweih, so Mariä Geburt. Wer hieß denn diesmal den Ablaß so unglücklich gerade in die großen Fasten fallen?
Ihre Augen blitzten, sie wurde ganz rot, als ihr Mann verneinend den Kopf schüttelte. »So geh du doch nach Hause, geh nur«, drängte sie.
Ein rascher Blick des Einverständnisses war zwischen ihr und Pan Szulc hin und her geflogen, unmerklich fast; sie zwinkerten nicht, sie stießen sich nicht an, sie sagten kein Wort, und sie verstanden sich doch.
Valentin sah den Blick. Und plötzlich fiel ihm etwas von den Augen – hatte das gepriesene Wasser der Quelle so rasch ein Wunder gewirkt? –, er sah, sah, wie man bei einem Blitzstrahl sieht, der durch schwarze Nacht fährt. Sah und fühlte mit einem Schmerz, der ihm gleich einem ohnmächtig machenden Stich durch Leib und Seele ging, die Hoffnungssonne wieder sinken, die er vorhin am Horizont wie eine goldene Kugel hatte emporsteigen sehen. Nichts, nichts, auch ein Kind nicht, konnte ihm helfen! –
Aus dem Krug bei Eiweih summten Tanzmelodien; Bratsche und Geige, Dudelsack und Horn mußten an der Wand hängen bis nach Ostern, aber man durfte wenigstens singen.
Alle Ablaßgänger traten ein in die Schenke.
»Das Mädel ist mein,
Das Mädel ist mein –
Im Kopf schwarze Augen,
So wie ich, so wie ich!
Das Mädel ist mein,
Das Mädel ist mein –
Am Schuh gold'ne Schnallen,
So wie ich, so wie ich!
Das Mädel ist mein,
Das Mädel ist mein,
Im Sack keinen Groschen,
So wie ich, so wie ich!«
sang ein Bursche, der aus dem Krugfenster herauslehnte und winkte die lachenden Mädchen herein.
Pan Szulc summte mit, auch Stasia summte:
So wie ich, so wie ich!«
Unruhig trippelte sie, sie konnte die Füße nicht mehr ruhig halten, ihre Hand fingerte nach des Partners Hand.
Da stieß Valentin heraus, mit einer verzweifelten Anstrengung, seiner brechenden Stimme Trotz zu verleihen:
»So bleib du, bleib du! Ich geh nach Haus.«
Der Ablaßtag, der grau verhangen über die schwach begrünte Ebene gegangen, war zum schwarzen Abend geworden. Schwer lastete sich ballendes Nachtgewölk.
Die Fenster von Eljakim Hirsch, die erst wie helle Sterne gestrahlt hatten, waren jäh dunkel geworden. Man hatte zum guten Glück sich noch der österlichen Zeit erinnert: wie würde der Herr Vikar sonst schelten, wenn er's erfuhr, daß man der Fasten so wenig geachtet! Wie konnte man auch der Leiden Christi so wenig gedenken! Tanzen – das war heut, selbst am Ablaßfest, eine Sünde, die sich nicht gutmachen ließ durch hundert Rosenkränze. Rasch waren die Lichter gelöscht worden; nun saß man fast im Dunklen, bloß ein ganz erbärmliches Lämpchen überm Schenktisch warf ein wenig Schein. Aber die Dunkelheit hinderte nicht, daß man im Krug sitzenblieb und, da man nicht tanzen durfte, desto eifriger trank.
Stasia war erst sehr enttäuscht, daß es zu keinem Tanze kam. Wie lange, ach, wie lange – sollte man es glauben? – seit sie verheiratet war, hatte sie nicht mehr getanzt! Und sie hub an, sich bitterlich zu beklagen: nein, glücklich war sie nicht, der Valentin war ein ganz guter Mensch, aber, ach, hatte der eine Ahnung davon, was sie brauchte? Nein, keine Ahnung.
Und sie warf sich Pan Szulc an die Brust, schlang die Arme um seinen Hals und küßte ihn leidenschaftlich.
Sie waren allein in dem sogenannten kleinen Herrenstübchen, das Eljakim neben dem größeren Wirtszimmer hatte. Mit einem Schmunzeln hatte er sie gleich dahineingewiesen. Nun ging Pan Szulc und drückte leise die Tür zu, die bis jetzt nach der Wirtsstube offengestanden hatte.