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Um des Lebens willen.

Ich bin ein Arbeiter. Ich habe meine Sorgen gehabt. Ich habe an Streiks teilgenommen. Ich bin ohne Arbeit gewesen. Ich habe genug Nahrung und Kleidung gehabt. Ich habe hungern und frieren müssen. Ich habe alles durchgemacht, was andere Arbeiter auch. Ich habe gut und schlecht gehandelt. Ich bin gegen meine Arbeitgeber nicht immer anständig verfahren. Meine Arbeitgeber sind mit mir nicht immer anständig verfahren. Wir haben einander angelogen. Ich habe mich um die Arbeit gedrückt. Sie haben sich um den Lohn gedrückt. Ich habe Streit gehabt, wo Frieden besser gewesen wäre. Ich habe mein Teil getan, um die Zustände besser zu machen. Ja, sie schlechter zu machen. Ja, sie zu lassen, wie sie sind. Ich bin ein Opfer, aber auch ein Verbrecher. Halte mich nicht für gut oder schlecht. Ich bin weder das eine noch das andere. Ich bin beides. Nur der Arbeiter. Wer du auch seist, du hast mich beschäftigt. Ich arbeite unter Millionen Namen, doch in Wahrheit habe ich nur einen. Wen du auch beschäftigt hast, ich bin es. Der Blaumacher? Das bin ich. Der Sklave? Das bin ich. Der allmächtig anständige Arbeiter? Das bin ich. Du kennst mich. Es ist gleichgültig, unter welchem von den Millionen Namen ich zu dir rede. Ich rede zu dir. Ich fordre dich auf, dich zu sammeln. Höre.

Du meinst, ich kämpfe um Lohn. Um Bezahlung. Um ein Glas Bier mehr. Um bessre Zigarren. Um teurere Kleider. Damit ich meine Lumpen los werde. Nun, ja. Doch das nur nebenbei. In Wirklichkeit kämpfe ich um Leben. Solange die Löhne nur Löhne sind, bedeuten hohe oder niedere gleichviel. Wenn aber die Löhne Leben sind, so kleide ich meine Klage in ein anderes Lied. Ich kämpfe ums Leben. Ich habe um Lohn gekämpft. Jetzt nicht mehr. Ich habe erkannt, daß ein Lohnkampf nie ein Kampf um die Freiheit sein kann. So bleibt nur ein Kampf übrig: der Kampf gegen das Lohnsystem. Das ist der Kampf für die Freiheit. Der Kampf für das Leben. Lohn kann nie Leben spenden. Das kann nur das Besitzrecht. Jetzt kämpfe ich für das Leben. Alle anderen Rücksichten müssen davor zurücktreten. Nicht für ein Haus, für Luxus, oder für Ausbeutung. Nicht für ein Leben, das auf der Knechtung eines anderen Lebens aufgebaut wäre. Für das Leben selbst. Für ursprünglichstes Leben. Meinst du, du hättest das Recht, frei sein zu wollen, und ich nicht? Sollte ich dir Freiheit gewähren, während du mir sie versagst? Meinst du, ich wolle für das Recht aufs Dasein leben? Umgekehrt. Ich will ein Recht aufs Dasein, um zu leben. Für das Leben, für das wahre Leben, würde ich alles opfern. Sogar das Leben selbst. Deine volle Tasche fragt meine leere: »Warum sollten wir unser Gespräch auf dem gemeinen Boden des Geldes führen?« In der Tat. Warum? Ich kann nur einen Grund sehen. Weil die volle Tasche alles Geld enthält. Auf die Gemeinheit verzichten wir gerne, sobald wir die Gerechtigkeit haben. Jetzt sind wir auf dem Weg zur Gerechtigkeit. Nicht auf dem Weg zum Geld. Auf dem Weg zur Gerechtigkeit. Wir sprechen beiläufig vom »Geld«. Die Gerechtigkeit ist unser Ziel. Das Geld ist nicht um des Geldes, sondern um der Gerechtigkeit willen da. Zur Arbeit gehört Freiheit. Jetzt ist die Freiheit hier und die Arbeit dort. Oder vielmehr, nirgends ist Freiheit. Denn es wird immer so sein, daß derjenige, der durch Unrechttun gesiegt hat, mit dem Besiegten ewig in Knechtschaft lebt. Ich bin kein Heiliger. Doch ich sehe, daß mein Protest die Sache des Geistes vertritt. Erfolge und Gelegenheiten des Geistes sind es, worauf ich hinziele. Ich will frei sein, um mein Leben nach einem Plan einzurichten, der mir vollkommenste Gleichheit gewährt. Ich will nicht größer sein als andere. Oder mehr Reingewinn erzielen. Ich beneide keinen Menschen um seinen Besitz. Aber um seine Gelegenheiten beneide ich ihn vielleicht. Das Lohnsystem hat mich an einen einzigen Platz gebunden. Mit der Peitsche ist es hinter mir gestanden. Aus Zwang habe ich gearbeitet. Nicht aus Liebe. Aus Zwang. Und keine Arbeit ist gut, an die man mit Widerwillen geht. Ich will meine Arbeit nicht abkürzen, nicht kleiner machen. Aber ich will nicht, daß die Arbeit mich kleiner mache. Ich will nicht, daß das Lohnsystem mich kleiner mache. Ich will zuerst kommen. Immer zuerst. Vor meinem Magen. Vor dem Eigentumsrecht. Ich muß zuerst kommen. Um des Lebens willen. Um der Poesie willen. Um des geistigen Lebens willen, das von dem materiellen zerstört werden könnte. Meinst du, ich sei nur ein Tier? Ich wolle nur gefüttert und gehätschelt sein? Setze mich in einer Wüste aus. Aber setze mich in Freiheit. Für mein leibliches Wohl will ich Aussichten, weil ich sie für mein geistiges brauche. Ich bin kein Fresser. Ich bin eine lebende Seele. Ich bin kein lebloser Staub. Ich bin ein lebendiges Lied. Warum solltest du alle Möglichkeiten des Lebens genießen? Warum sollten die Türen gerade mir verschlossen sein? Ich fordre kein Besitzrecht. Ich fordre das Recht zu leben. Zu leben bis zur Erfüllung des Lebens. Meinst du, ich streite mit dir, weil du meinen Magen aushungerst? Geh. Ich streite, weil du mein Leben aushungerst. Der Magen ist nicht das Leben, aber ein Teil des Lebens.

Warum hasse ich das Lohnsystem? Weil es mir im Weg steht. Warum protestiere ich gegen das Privateigentum? Weil auch dies mir im Weg steht. Alles muß dazu dienen, mir alle Wege zu bahnen. Was würde man für das Lohnsystem einsetzen? Liebe? Verehrung? Genuß? Arbeit? Nichts würde man für das Lohnsystem tun. Es gibt nichts, was man nicht um des Lebens willen tun würde. Leben ist das, was ich brauche. Was ich haben muß. Da ich Leben und Löhnung nicht vereinigen kann, so muß ich die Löhnung vom Leben ausscheiden. Nicht um eines Verlangens, um einer Leidenschaft willen. Nicht für gesellschaftliches Ansehen. Nicht für äußere Werte. Sondern für das innere Leben. Für die vollkommene Organisation der Lebenserfahrungen. Für die höchsten Gewinne des Fortschritts. Soll das Leben ewig dir und niemals mir gehören? Soll ich dem Leben ewig um Lohn und niemals um Liebe dienen? Bin ich Sklave um des Lebens willen? Schwinde ich deswegen in die zerstörenden Schatten wirtschaftlicher Verzweiflung? Ist um des Lebens willen das Gesetz gegen mich? Und die Gerichte? Und der Klerus? Ist es um des Lebens willen, daß die Märkte zu meinen Ungunsten notieren? Daß die Opern und Konzerte und Universitäten und die Blumen im Winter und die Seereisen gegen meine Befreiung ins Gewicht fallen? Ich habe es mit allen alten Mitteln versucht. Alle sind fehlgeschlagen. Jetzt erkläre ich mich für das Leben. Ich lasse alles beiseite zugunsten des Lebens. Eigentum. Ehre. Lohn. Alles fürs Leben. Meine Empörung fördert das Leben. Dein Widerstand ist gegen das Leben gerichtet. Deswegen ist dir Niederlage, mir Sieg beschieden. Denn Leben gehört immer dem Leben. Niemals dem Lohn, dem materiellen Verdienst, dem äußeren Besitz. Es gehört immer dem Leben. Alles, was ihm den Weg versperrt, muß weggeräumt werden. Die Heere des befestigten Widerstandes müssen lernen, was Zerstörung bedeutet. Nicht wegen der Magenfrage. Nicht weil mein alter Rock während der Empörung in Fetzen ging. Um des Lebens willen. Um jenes Lebens im Geist willen, das mein und dein ist oder niemandem zukommt. Das Leben gehört dem Leben um des Lebens willen, oder es besteht gar nicht. Der soziale Ausblick ist umwölkt. Myriaden Widersprüche entstellen die Landschaft. Treten zwischen das Leben und seinen vollkommenen Ausdruck. Alle Widersprüche müssen zerstreut werden. Alle Widersprüche von Besitzrecht und Kastengeist, die des Lebens freie Entwicklung hemmen. Um des Lebens willen. Um des Lebens willen.


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