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Was liegt daran?

Was liegt daran? Allerdings. Wozu denn weiterkämpfen? Ist der Kampf nicht hoffnungslos? Sind wir bei unsren Familien nicht jetzt in der Schuld? Was geht uns die Zukunft an? Haben wir ein Recht, die Gegenwart hungern zu lassen auf Kosten der Zukunft? Warum sollten wir nicht Messer und Verstand schärfen und den bestehenden Verhältnissen ein möglichst blutiges Ende bereiten? Die Vergangenheit hat mir Kampf als Erbgut hinterlassen. Warum sollte ich dies Erbe nicht weitervermachen? Warum sollte ich für ungeborene Geschlechter schwitzen und bluten und hungern und frieren? Ich habe lang genug gelitten. Ich habe mich ausbeuten lassen. Ich habe überall um mich her rauben sehen und nicht geraubt. Warum sollte ich nicht rauben? Was sonst kann mich gegen den Räuber schützen, als selbst zu rauben? Mit einem Gewissen behaftet bin ich hungrig durch die Welt gewandert. Doch was nützt mich ein Gewissen, wenn es mich hungern läßt? Der Tisch ist reich gedeckt. Ich verzichtete aufs Essen. Warum? Ich zweifelte an meinem Recht. Doch warum sollte ich daran zweifeln? Warum sollte ich nicht zugreifen? Den Hungernden bewundert die Welt nicht. Sie bewundert den, der bewiesen hat, daß er pfänden lassen kann. Sie bewundert fette Hälse und feiste Bäuche. Vor dem Uebersatten zieht sie den Hut ab. Wer ist der Uebersatte? Es ist der Mensch mit doppeltem Appetit und ohne Gewissen. Es ist der Mensch, der Erörterungen über Recht und Unrecht in der Geschichte nicht liebt. Wer nichts zu essen hat, für den gibt es kein Recht. Wer im Ueberfluß lebt, für den gibt es kein Unrecht. So werde ich aus dem allgemeinen Gut meinen Teil herausschneiden. Die Priester jagten mich weg. Die Polizei, der Staat, die Kirche, die Kasten jagten mich weg. Doch keines von ihnen ließ selbst davon ab. Warum sollte es ich tun?

Warum sollte ich draußen frieren, nur in mein Gewissen gehüllt? Oder darbend umhergehn, nur von meinem Gewissen gespeist? Was ist es mit diesem Quälgeist? Ich will mich in den Streit mischen. Er hält mich zurück. Ich will betrügen. Er hält mich zurück. Ich bin entschlossen, die Rosen von den Wangen der Kinder zu nehmen. Andere machen es auch so. Warum ich nicht? Aber dieses störende Etwas hält mich zurück. Ich dachte, wenn die Nacht recht dunkel wäre, könnte ich mir aus einem Schatten ein Vermögen stehlen. Doch so dunkel es war, mein Quälgeist fand mich und vereitelte meinen Plan. Ich dachte, wenn der Tag sehr hell würde und die Straßen sehr voll, so könnte ich in dem verwirrenden Glanz und Gedränge ein erfolgreiches Börsenmanöver ausführen. Doch ich fühlte, wie der Sonnenschein mich von dem selbstmörderischen Vorhaben ablenkte.

Ich habe Mord in mir und Diebstahl. Warum sollte ich nicht die Kinder verstümmeln und töten? Warum sollte ich nicht die früheste Jugend und das späteste Alter meiner Nebenmenschen mit Steuern belasten? Warum sollte ich aus dem Ertrag der Arbeit nicht Kern und Schale des Verdienstes für mich herausnehmen? Warum sollte ich mir Gewissensbisse machen in einer Welt von Gewissenlosen? Tut der Schmerz des Menschen, den ich ausraube, mir weh? Warum tut er mir weh? Ich bin ein furchtsamer Abenteurer. Warum sollte ich Vorkämpfer der Liebe sein in einer Zeit der Ausbeutung? Schurkerei tut nichts, was ich nicht tun könnte, wenn ich wie ein Schurke zu Werke ginge und mich den Gram übervorteilter Männer, Weiber und Kinder ebensowenig anfechten ließe. Ich bin mit mir stets uneins. Es gelüstet mich, ein Schuft zu sein. Es lockt mich, zu rauben.

Warum sollte mein Glauben mit Buddha und Jesus und Whitman Whitman, amerikanischer Dichter-Prophet, 1813-1892. und Morris Morris, englischer Dichter, Maler, Kunstgewerbler und Sozialist, geboren 1834. L. müßig gehn, wo er genug damit zu tun hätte, aus den Seelen der Armen Coupons zu schneiden? Denn dies ist eine Coupon-Welt. Es ist eine Welt der Ausbeutung. Der Pfad des Ausbeuters ist weich wie Samt. Wenn um sieben Uhr morgens die Fabrikpfeifen tönen, kehren die Geschorenen wieder zum Scherer zurück. Das Land fällt immer wieder an den Grundherrn zurück. Er verkauft dir Tag für Tag dein eigenes Land und nimmt es dir ohne Bezahlung vor Einbruch der Nacht wieder ab. Die Ernte bleibt nicht dem Schnitter, sondern dem Grundherrn. Die Zivilisation rechnet mit Profit, statt mit Seelen. Warum sollte ich mich von der Zivilisation lossagen? Warum sollte ich sie mir zum Feind machen? Warum sollte ich mich ihr nicht fügen? Was kann die Zukunft für mich tun? Ich alles für sie. Sie aber steht jenseits. Hilflos. Sie hat keine Gegenleistungen zu bieten.

Ich will mein Schäfchen ins Trockene bringen. Warum nicht auf eure Kosten? Ich kann euch zwingen, meine Schulden zu bezahlen. Warum sollte ich die Gelegenheit hinauslassen? Ihr, die ihr in meiner Werkstätte arbeitet. Ihr, die ihr an meinem Pulte schreibt. Ihr alle, die ihr ehrliche Arbeit tut. Ihr, die ihr die nötigen Gänge macht und die nötigen Räder treibt. Ich lasse mich euer Elend allzusehr kümmern. Warum sollte ich mir mein gutes Mittagessen verderben, indem ich an euer schlechtes denke? Warum sollte ich bei Nacht wach bleiben und mich besinnen, wie meine Seele die Schulden der Armen bezahlen könnte? Verdammt, meine Seele. Verdammt, die Armen. Was geht die Armen überhaupt ihre Armut an? Warum sollte ich auf der einen Seite meines Hauptbuches ein Debet haben?

Die Welt ist eine Welt des Profits. Warum sollte ich den Maßstab der profitgebenden Welt nicht zum meinigen machen? Ich weiß, daß Profitmachen nicht recht ist. Ich weiß, daß Profitmachen stehlen heißt. Aber Stehlen kann nicht Unrecht sein. Denn es wird im Namen Gottes in den Kirchen gepredigt und im Namen des Staates von den Parlamenten unterstützt. So kann Profitmachen kein Unrecht sein. Habe ich noch Existenzberechtigung, wenn ich mich gegen die Naturgesetze und Menschensatzungen erhebe? Wir reden von Liebe. Die Liebe aber ist nicht für eine Welt der Konkurrenz geschaffen. Was nützt die Liebe einem Menschen, der all seine Nächsten hassen muß, um sich selbst vor wirtschaftlichem Ruin zu bewahren? Was haben Schußwaffen, was hat Angebot und Nachfrage mit Liebe zu tun? Ich frage den Zins, was er für die Liebe tun kann, und der Zins antwortet: »Dasselbe, was die Liebe mir tun kann. Ich kann die Liebe vernichten.« Ich frage die Pacht, was sie für die Liebe tun kann, und auch den Profit, und beide geben zur Antwort: »Für die Liebe können wir dasselbe tun, wie der Zins.« Ich vergieße törichte Tränen über den Leiden des Sklaven. Des Sklaven? Wer ist der Sklave? Ich bin es. Der Schwindel verschwindet.

Ich kann ebensogut beständig schlafen, als ehrlich sein. Jedermann bestiehlt einen andern. Wir leben in einer gesetzlosen Welt, die dem Gesetz huldigt. Wir beten die Gesetzgebung an und lästern gegen das Gravitationsgesetz. Gravitation heißt Gerechtigkeit. Doch was soll Gerechtigkeit in einer Welt des Betrugs? Auch ich will einen betrügen. Ich will einen in einer Predigt betrügen. Bildung ist Betrug. Die Bildung wird vom Diebstahl patronisiert. In einem Gedicht will ich einen betrügen. In einem Bild will ich einen Betrug malen, in einem Liede besingen. Jede Fabrik ist Betrug. Jeder Laden ist Betrug. Nicht Gott ist es, der herrscht; noch Gerechtigkeit, die regiert. Der Betrug herrscht und regiert. Was macht die Gesichter der Kinder so totenblaß? Was macht die Mütter so frühzeitig alt? Was beugt die Rücken der Väter? Der Betrug ist es. Unsere Zivilisation hat die Völker betrogen. Die Völker sind irre geführt. Warum sollte ich den Versuch machen, einer so unheilvoll mächtigen Gewalt zu widerstehen? Werft eure Kinder dem Betrug in den Rachen. Werft ihnen euer Herz nach. Was soll das Herz? Das Herz ist euch nur im Weg. Gebt der Hölle eine Gelegenheit, ihre Feuer zu entfachen und ihr Werk zu beginnen. Betrügt. Die Zivilisation sagt nicht: »Liebet einander.« Sie sagt: »Betrüget einander.« Das ist der sichere Weg. Der erfolgreichste Betrüger gilt als der gebildetste Mensch. Betrügt, damit ihr nicht betrogen werdet. Statt: »Wie ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, also tut ihr ihnen« muß es heißen: »Betrüget die andern, ehe sie euch betrügen.«

Soll ich ein Narr sein und versuchen, diese Flut einzudämmen? Ich habe lange genug widerstanden. Jetzt will ich mich fügen. Meine Träume wird niemand kaufen, noch meine Liebe. Ich will aus meinem Leib Kapital schlagen und in meinem Haß alle Gelegenheiten des Marktes ausnützen. Wenn die Kinder sterben – gut, dann sollen sie sterben. Was gehen mich Kinder an, die nicht in meinem Hause geboren sind? Die Kinder selbst gefährden einander. Es gibt Gründe, weshalb die Eltern eines jeden Kindes die Eltern jedes anderen Kindes hassen sollten. Warum sollten wir den Spott der Bösen auf uns nehmen? Ich liefere mich am ersten besten Verkaufsstande aus. Nehmt mich. Kauft mich. Verkauft mich. Um Bargeld. Um Einfluß. Um Himmel. Um Hölle. Um irgend etwas. Nehmt mich. Ich bin taxiert und ausgezeichnet. Nehmt mich. Was liegt daran?


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