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Der Sturm bricht aus.

Der Sturm ist da. Die Luft war sehr schwül und dumpf. Die Anzeichen häuften sich. Es war schwer, in der Atmopshäre der Kasten Atem zu holen. Die Menschen rangen nach Luft. Die Wahrheit rang nach Luft. Die Gerechtigkeit war schwach und beklommen. Etwas mußte geschehen. Die Tyrannei lastete zu schwer. Die Habgier war zu gierig. Unsere Zivilisation beschaute sich selbst und wußte nicht, was tun. Die Seher warnten uns. Das alte System, sagten sie, sei dem Ende nahe. Einem Ende im Sturm. Wir waren froh. Oder ungläubig. Oder spöttisch. Doch die ganze Zeit über litten wir alle an Atemnot. Die Wolken ballten sich über uns zusammen. Was lag in der Luft? Die Zivilisation schrie um Hilfe. Endlich kam ein Augenblick der Totenstille und des Schreckens. Dann wußten wir, daß die Entscheidung unerbittlich erfolge.

Der Sturm ist da. Die Bäume erbeben in ihren Wurzeln. Die Paläste wanken. Vermögen gehen betteln um Besitzer. Güter suchen sich Herren. Der stolzeste König wird zum demütigsten Untertan. Das Kapital hat sich zum Bettler verwandelt. Das Sicherste ist zum Unsichersten geworden. Gestern wart ihr des Kapitales sicher. Heute aber ist das Kapital seiner selbst nicht sicher. Reichtümer klopfen an die Türe der Armut und bitten vergebens um Einlaß. Baumwolle löst Seide aus. Ich sehe, daß während des Sturmes alle gleich sind. Die Menschen sind alle aus demselben Holz geschnitzt. Gestern eilten wir auseinander. Heute eilen wir zusammen. Nichts bleibt verschont. All eure heiligen Besitztümer sind zerstreut. Eure Papierfetzen, die sogenannten Aktien und Obligationen. Eure Zinsen. Eure Profite. Eure Pachtsummen. Gestern noch stolz erkorene Götter. Heute entthront. Die Schlemmer von gestern heute Büßer. Das Heer im Gemetzel dieser Schlacht verheert. Die Flotte gescheitert an den Felsenklippen ihrer eignen schreckhaften Meere. Priester ihrer Religion verloren. Staatsmänner verdammt in der Verkehrtheit ihres Amtes. Gott, wie der Sturm wütet! Hatten wir damit gerechnet, daß die Ziffern unserer Zivilisation so leicht schwänden? War ihre Grundlage so schwach, daß der erste wirkliche Angriff sie umwirft? Wir hatten so viel auf Geld und Gut gehalten, so wenig auf den Menschen. Was hat Geld und Gut heute für einen Wert? Heute gilt nur der Mensch. Salons und Boudoirs gelten nichts. Habsucht, Gewinn und Verlust gelten nichts. Nur der Mensch gilt. Nur die Liebe. In dem Irrwahn von gestern huldigten wir dem Laubwerk und vergaßen die Wurzeln. Heute, in der Wut dieses Sturmes, sind die Wurzeln bloßgelegt worden, und wir wissen, wo wir Anbetung schulden. Jene Anbetung, die wir so lange in den Kirchen verschwendeten und dem Leben entzogen. Jene Anbetung, die wir so lange an Dinge vergeudeten, die von Menschen gemacht und den Menschen versagt sind. Jene Anbetung, die wir in einer Welt ohne soziale Einheit so maßlos verschleuderten. Der Sturm rast. Er wirft die Werte nach rechts und links auseinander. Was wir für ewig hielten, ist gefallen. Was wir kaum achteten, gab uns Kraft. Die Millionäre fallen zuerst. Und die Herrscher. Und die Gelehrten, die zuviel wissen, um etwas zu wissen. Sie fallen beim ersten Ansturm. Und die Armen bleiben. Die Hochstehenden überstehen diesen Sturm nicht. Sie sind nicht einmal ihrer eigenen Inferiorität überlegen. Die brudermörderischen Institutionen sind in Rauch aufgegangen. Die einfachen Männer und Frauen bleiben erhalten. Die Niemande des Alltags sind der Gefahr gewachsen. Der tüchtige Arbeiter steht noch aufrecht, nicht von seiner Bahn gedrängt. So tobt der Sturm. So wird das Starke vom Schwachen geschieden. So das Vergängliche vom Ewigen.

Der Sturm ist da. Er ist ein Abrechnungshaus. Die Reichen zahlen ihre Schulden den Armen. Die Ungerechtigkeit ihre Bilanz der Gerechtigkeit. Jetzt wird nur wirkliches Eigentum anerkannt. In der Strenge dieser Krise erhalten nur berechtigte Ansprüche Gehör. Gute Kleidung zählt nichts. Höflichkeit zählt nichts. Dein Stadthaus und dein Landhaus zählt nichts. Dein Klub zählt nichts. Dies ist kein mildes Berufungsgericht. Dieser Gerichtshof bleibt versammelt, bis der letzte Pfennig bezahlt ist. Ausflüchte helfen nichts. Sprachgewandtheit und feines Benehmen hilft nichts. Deine weiche Haut, dein üppiger Leib, dein zartes Gefühl hilft dir nichts. Der Gerichtshof ist grob. Er spricht wie das Volk auf der Straße. Er bindet sich nicht an die Vorschriften des guten Tones. Er verkündet seinen Rechtsspruch gerade heraus. Er hält die Wage der Unparteilichkeit. Und was er sagt, ist Befehl. Ich sehe dich so tun, als wolltest du seine Beschlüsse zu mildern versuchen. Meinst du, dieser Sturm werde sein Werk nicht vollenden? Meinst du, er werde mit halbgetaner Arbeit sich begnügen? Er ist nicht rasch gekommen. Alle Kräfte der Unterdrückung und der Verheißung bereiteten ihm den Weg. Aber endlich ist er nun da und voller Gefahren. Nicht eine Katastrophe hat ihn herbeigeführt, sondern ein Gesetz. Er wird so lange herrschen, bis der Zweck des Gesetzes erfüllt ist. Auf Grund dieses Gesetzes wird er wegziehn. Aber er wird nicht gehen, bis auch der letzte Feind verjagt ist. Er wird das Feld nicht verlassen mit Feinden im Rücken. Er tut sein Werk mit fester Hand. Ohne Barmherzigkeit und ohne Bosheit. Er ist nicht milde auf Kosten der Unschuld. Er zögert nicht, seine Beschlüsse in die Tat umzusetzen. Er weiß, daß jemand verletzt werden muß. Gestern hattest du kein Gefühl, als so viele verletzt wurden, damit du verschont bliebest. Warum sollten wir heute für dich ein Gefühl haben, weil du verletzt wirst, damit alle, du eingeschlossen, verschont werden? Das ist es, was der Sturm für dich tut, wie für alle. Im Augenblick verstehst du das nicht. Du weißt nicht, wozu das Gepeitschtwerden gut sein soll. Du spürst nur die Peitsche. Der Sturm ist da. Der Sturm ist die Peitsche. Es schaudert, sticht, schmerzt dich; vielleicht mußt du sterben. Doch der Sturm mußte kommen. Vielleicht ist dein Los der Tod. Doch der Sturm war beschlossen. Er ist die Erfüllung. Und du, der du so lange allein für deine eigene Habgier gearbeitet hast, warst, ohne es zu wissen, die ganze Zeit nur für diesen Sturm tätig. Ich mache dir keinen Vorwurf. Aber ich versuche, den Sturm zu erklären. Er ist für dich, der du reich wurdest, so notwendig, wie für die, die du beraubtest. Der Sturm. Die Abrechnung. Seine grimmige Sprache erschreckt dich. Seine unerbittliche Kraft schärft das Schwert des Zornes. Doch wie könnte der Sturm saubere Arbeit tun, wenn wir nicht litten? Wie könnte er das Gleichgewicht zwischen Mensch und Mensch herstellen, wenn Hoch und Nieder, Viel und Nichts, Kaste und Klasse nicht streng nach dem Maßstab und Bilde der ewigen Wahrheit umgewandelt würde? Allzulange sind wir blind, von Blinden geführt, umhergegangen. Der Sturm wird uns die Augen öffnen. In Zukunft müssen wir als Sehende, von Propheten geführt, unsern Weg gehen.

Der Sturm ist da. Der Sturm ist Offenbarung. Er lehrt mich, mich selbst zu erkennen und andere. Zu erkennen, wie sehr ich zu ihnen gehöre und sie zu mir. Der Sturm ist Mitleid. Er treibt mir den Teufel aus. Aber den Gott in mir läßt er unversehrt. Er zeigt mir, wie bettelarm ich bin, wenn ich in einer Welt allein bin und alles besitze. Wie viel mehr als reich ich bin, wenn ich in einer Welt der Liebe nichts besitze. Wie all mein papierenes Vermögen im ersten besten Feuer verbrennt. Wie all meine stolzen Einkünfte sich fürchten. Wie all meine Armut unverzagt bleibt. Wie all die gestohlene Bildung um ihr Leben zittert. Wie ungelehrte Weisheit die wieder und wieder kehrende Wut des Angriffs zurückweist. Er nimmt mir alles, außer mir selbst. Er spricht zu mir: Du bist dir selbst genug. Er zeigt mir, daß nur, wenn ich allein mich selbst und sonst nichts mehr besitze, die andern Menschen allein sich selbst und sonst nichts mehr besitzen können. Und daß nur in einer so geordneten Welt die Freiheit endgültig gesichert ist. Und daß erst, wenn die Freiheit gesichert, auch der Mensch sicher ist. Menschsein heißt Freisein. Und darum wird sich der Sturm erst legen, wenn die Freiheit gesichert ist. Solches lehrt mich der Sturm in der Hartnäckigkeit seines Zornes. Denn jetzt tritt es deutlich zutage, daß der Sturm nicht kommt, um ein Gesetz aufzuheben, sondern um uns daran zu erinnern, daß wir ein Gesetz brachen: Das Gesetz menschlicher Güte. Das Gesetz eines Lebens und einer sozialen Ordnung von innen heraus. Das Gesetz gegenseitiger Hilfsbereitschaft. Wir haben unsere Zeit damit ausgefüllt, Stahl und Stein aufeinander zu türmen und gigantische Städte zu bauen. Jetzt klagt das Gesetz über unser Versäumnis. Nun fragt es: was habt ihr zu der Zeit für mich getan? Wir haben viel für Großartigkeit getan und für Vornehmheit, für die Herrschgier, für die Macht der Hohen. Was haben wir für die Bescheidenheit getan, für die Demokratie, für die Unterordnung, für die, die sich weigern, Macht auszuüben? In diesem Sturm verkündigt das Gesetz die Wiederaufnahme des Gesetzes. Es erhebt keine Anklage. Es rechtet nicht. Es droht nicht. Es kommt im Sturm. Du magst auf der Flucht sterben, oder an Ort und Stelle. Der Sturm geht weiter. Immer und immer weiter. Wir stehen inmitten seiner Prüfungen. Ein Kapitel nach dem andern entrollt sich. Wir suchen nach einem Obdach. Wir sammeln uns zum Kampf ums Leben. Die gesellschaftlichen Formen haben sich zu einigen ursprünglichen Gebärden vereinfacht. All das Blendwerk von Reichtum und Besitz ist von der Wut der Wogen hinweggeschwemmt. Der Sturm wird uns völlig entblößen. Er will, daß wir nackt in die Zukunft schreiten, daß wir uns in die Rechtfertigung eines gerechten Systemes kleiden. Ich bin verzagt und bekümmert. Ich bin stolz und fröhlich. In der wilden Stunde der Jagd bin ich gehetzt. Der Sturm sammelt sich in mir. In dir. Die Windstöße, die Fluten, die Flammen überfluten und ertränken mich, nur mich. Dich, nur dich. Ich stehe mitten darin, wehrlos. In die Leidenschaft dieses Sturmes bin ich schutzlos geworfen. Es ist finstere Nacht. Ich versinke in umdunkelnden Schatten. Ich sehe keinen Ausweg. Doch weiß ich, daß es einen Weg gibt. Und ich weiß, daß ich auf dem Wege hinaus irgendwo meinen treuen Freund treffe, und daß mein treuer Gefährte mich im Jenseits nicht täuscht.


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