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Weil wir lieben.

Weil wir lieben. Meint ihr, daß wir euch aus Bosheit schlagen? Daß wir streiten, weil wir den Streit lieben? Daß uns das Widersprechen Spaß macht, und das Gehaßtwerden? Daß wir euch gerne zum Ekel sind? Daß wir uns nach Gelegenheiten umtun, wo wir grundlos grob und störrisch sein können? Daß wir absichtlich noch lange weitersprechen, nachdem wir fertig sind? Daß wir uns weigern zu sprechen, wenn Schweigen Verbrechen ist? Daß wir aus Bosheit in den Straßen und Gassen der Erfahrung zanken und lärmen? Haben wir unser Leben der Sache geweiht aus leichtfertigen Umsturzgelüsten? Ihr kennt die Wahrheit nicht. Ihr wißt den eigentlichen Grund von all dem nicht: warum wir hart sind gegen euch; und daß wir zu Hause weinen, wenn wir hart gewesen sind. Daß wir lange Nächte hindurch mit euch ringen. Daß wir noch längere Nächte hindurch mit uns selbst ringen. Seht ihr denn nicht, daß wir lieber das Wort sagen würden, das euch gefällt, als das Wort, das euch weh tut? Wir müssen aber vor allem das Wort der Wahrheit sagen. Das einzige Wort ist das der Wahrheit. Und das Wort der Wahrheit gilt euch so gut wie uns. Vielleicht wißt ihr das nicht. Aber es ist doch so. Ich schwöre euch, es ist so. Weiß Gott, wir gehen nicht mit falschen Worten ans Werk: mit Worten, die unheilbare Wunden schlügen. Wohl müssen wir Worte sprechen, die verwunden. Aber mit heilbaren Wunden schützen wir euch vor Todeswunden. Und dies alles, weil wir lieben.

Ist das Liebe, was unsere Welt beherrscht? Die Welt der Kirchturminteressen? Ist die Liebe eines ParryR D. M. Parry, Hauptorganisator der Arbeitgeber und rücksichtslosester Bekämpfer der Gewerkschaften. L.Liebe? Ist die Liebe eines Rockefeller Liebe? Besseres weiß die Liebe nicht von sich zu sagen? Ich behaupte nicht, daß jene Liebe keine Liebe sei. Ich sage: wenn jene Liebe Liebe ist, dann ist es nicht die Liebe dessen, der so liebt, wie ich. Jene Liebe will ich mit einer Liebe zerstören, die größer ist als sie selbst. Jene Liebe will ich unter Anklage stellen, wieder aus Liebe. Ich will sie zur Rede stellen. Ich will sie zur Verantwortung ziehen. Sie hat einen Vertrauensposten bekleidet. Wie hat sie ihre Vertrauenspflicht erfüllt? Ich will die Prüfung nicht unter Schmähungen vornehmen. Ich will nur jene ältere Liebe zur Verantwortung ziehen. Ich will sie nicht mit Worten aus meinem Munde der Schuld überführen. Ich will sie zwingen, daß sie sich selbst für schuldig erklärt. Ich will nicht grausam sein. Nur Rechenschaft will ich haben. Rechenschaft vom Zins, von der Pacht und vom Profit. Ja, und von jedem Vorrecht, das die einen übervorteilt zugunsten der andern. Von jedem gesellschaftlichen Vertrag, der die Rechte der Armen verkürzt und die der Reichen vermehrt. Ihr werdet es nicht wagen, Nein zu sagen. Denn ihr werdet euch nicht zu sagen getrauen, daß ihr nicht an Gerechtigkeit glaubt. Ihr könnt nur sagen: dies ist nicht Gerechtigkeit. Und hier ist der Punkt, wo wir zur Entscheidung kommen müssen. Was ist Gerechtigkeit? Ihr habt über die Gerechtigkeit Bericht zu erstatten. Bringt die Lohnfrage zur Sprache und erstattet darüber Bericht. Werden hohe Löhne Gerechtigkeit bringen? Oder ist Gerechtigkeit bei jeder Art von Lohn unmöglich? Würde ein besserer Parry Gerechtigkeit bringen, oder ist Gerechtigkeit bei jeder Art von Parry unmöglich? Wenn alle Arbeitgeber und alle Arbeitnehmer über Nacht zu Heiligen würden: die Gerechtigkeit wäre doch nicht erfüllt. Die Gerechtigkeit liegt in Banden. Was wird sie erlösen? Haß? Liebe? Ich sage: Die Hand der Liebe wird sie erlösen. Eine Hand, die vielleicht streng sein muß. Aber die Hand eines, der liebt.

Weil wir lieben, sage ich wieder. Nicht einige wenige. Oder eine Klasse. Oder eine Kirche. Oder ein kleinliches soziales oder nationales Interesse. Weil wir alle lieben. Denn keine Lösung, die nicht allen gälte, wäre eine Lösung für den einzelnen. Solange wir die Schwierigkeit nicht für alle lösen, lösen wir sie für keinen. Sie wird immer wiederkehren, bis auch die letzte Einzelheit an der Lösung teil hat. Das Liebesgesetz ist kein Gesetz für eine Gemeinde, für einen Tag. Es ist ein Gesetz für die ganze Welt, für die Ewigkeit. Das Liebesgesetz könnte nicht eine Einzelheit aus dem sozialen Uebel verdammen oder billigen. Als ob Mißstände von einander isoliert wären. Als ob das Gesetz des einen nicht für alle gälte. Glaubt ihr, daß der Profit allein in der Welt steht? Daß der Großgrundbesitz allein steht? Daß Wall Die Straße, an der die meisten großen Banken New Yorks gelegen sind. Straße allein steht? Daß ihr mit einem Volkshaufen zur Lombard Die entsprechende Straße in London. L. Straße ziehen und an dem einen Platz das Rätsel lösen könntet? Daß ihr aufs Geratewohl losschlagen und die Krankheit in Gestalt eines einzigen Feindes überwinden könntet? Kann man einen Bau von seinen Teilen, den Körper von seinem Fleisch trennen? So viele Dinge müssen getan werden, damit eines geschehe. Aber sie müssen alle zu demselben Zwecke getan werden. Die vielen Dinge, die derselben Wurzel entsprießen; Dinge, die gestört zu sehen euch weh tun wird. Doch sie müssen getan werden. Sie können auf Umwegen getan werden oder geradezu. (Ich glaube, ich sage gern alles geradeheraus.) Es muß alles mit Liebe gesagt werden. Aber gesagt werden muß es. Immer wieder, und verständlich gesagt werden. Ich weiß, ihr erklärt das für unnütz. Das, was wir angreifen, sei so groß; das, womit wir den Angriff machen, sei so klein. Das Große. Ich gebe es zu. Und auch das Kleine. Ich gebe es zu. Aber die Gerechtigkeit ist größer als groß. Und die Ungerechtigkeit ist kleiner als klein. Und wenn unser unscheinbares Wörtchen das Wort der Gerechtigkeit ist, so wird es nicht eingeschüchtert durch das Große, das es angreifen soll. Die Gerechtigkeit wird nicht auf der Wagschale gewogen, oder vom Geometer gemessen. Sie erschrickt nicht, wenn die Kanonen donnern; wenn der Millionär den Rechnungsabschluß macht; wenn von der Börse ein Preissturz berichtet wird. Auch die Gerechtigkeit hat einen Bericht zu erstatten. Aber nicht in Zahlen und Größen. Sie berichtet in Unermeßlichkeiten von Ideen, in hochflutenden Strömen, im Aufschwung zu unendlichen Räumen. Darum ist die Gerechtigkeit niemals verschüchtert. Darum werden ihre Ansprüche durch kein Gepränge von Größe erschüttert. Darum wird sie nicht kriechen noch weichen, wenn alles gegen sie geht. Darum kann sie großmütig sein, unsere Beleidigungen vergessen, alle Zahlen gegen sich haben, Standard Oil Der Petroleum-Trust unter Rockefellers Leitung. L. gegen sich haben und die letzte Emission von Obligationen und alles. Und kann doch ihre Fassung, und kann doch ihren Glauben behalten. Die Gerechtigkeit kann warten. Und wir können auf die Gerechtigkeit warten. Weil wir lieben.


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