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Was die Menschen sein könnten.

Was die Menschen sein könnten, wenn man sie Mensch sein ließe, könnte kein Mathematiker ausrechnen und kein Ethiker erraten. Die Aussicht würde alles Prophezeien zu Schanden machen, alle Zahlen übertrumpfen. Wir fördern das Menschsein im Menschen nicht. Die ganze Zivilisation stellen wir dem in den Weg. Wo der Mensch auch hinschaut, überall ist der Pfad versperrt. Die Menschen sind geduldet. Der Mensch ist verboten. Du sprichst von schwachen Menschen. Was weißt du von starken und schwachen? Das ist noch nicht ausgeprobt worden. Wir haben halbe und falsche Proben gehabt. Scheinproben. Fromme Proben von Kirchenleuten, politische von Mitläufern, wirtschaftliche von Tarifkrämern. Proben von der Plutokratie, vom Geschäftsleben, vom Ausbeutungssystem. Alle möglichen Proben im Dunkeln. Aber die Erprobung des ehrlichen Menschen steht noch aus. Die Probe im Freien, im Sonnenlicht. Schwache Menschen. Woher kommen die? Auf unsre schwachen Menschen sind wir stolz. Wir tun alles, um sie hervorzubringen. Die starken werden entweder verführt oder vernichtet. Der starke Mensch hat nur eine Wahl: Er kann sich dazu entschließen, schwach zu werden. Dann darf er vielleicht ehrlich bleiben. Entschließt er sich, stark zu sein, dann muß er sich zur Klasse der Ausbeuter bekehren. Unsere Zivilisation läßt den Schwachen nur die Ehrlichkeit, den Starken nur die Ausbeutungssucht. Ist das eine Grundlage, auf der man eine dauernde Bruderschaft aufbauen kann? Auf der man Literatur und Wissenschaft und Kunst und Staat und Persönlichkeit aufbauen kann? Ist dies die Probe, die immer wiederholt werden soll? Kann das Menschengeschlecht die Herrschaft raffinierter Ausbeutung lange aushalten? Die Zivilisation sorgt für die Menschen. Für den Menschen hat sie keinen Sinn. Was wird aus dem Menschen, während für die Menschen gesorgt wird? Die Zivilisation sorgt für das Ausbeutungssystem. Für die Dienstbereitschaft hat sie keinen Sinn. Was wird aus der Dienstbereitschaft, während für das Ausbeutungssystem gesorgt wird? Und doch ist alles Leben, das Leben genannt werden darf, reich oder arm gemäß der Beschaffenheit gegenseitiger Hilfsbereitschaft unter den Menschen. Indem jeder Mensch, so gut er kann, jedem anderen dient, und dieser wieder jedem anderen, so gut er kann. Keine Dienstbereitschaft nach der Höhe des Lohnes, sondern nach der Höhe der Kraft. Indem ich nach meinen Kräften dir gebe, der du nach deinen Kräften gibst. Scheust du dich, dem Menschen die Gelegenheit zu schenken, ein solches Leben zu leben? Fürchtest du dich vor dem Resultat dieser Probe? Fürchtest du dich, diesen Samen in den Boden zu pflanzen? Den Samen dieser Probe? Und ihm so gut als möglich zum Gedeihen zu helfen? Und die gemeinsame Frucht im Geiste menschlicher Hilfsbereitschaft zu essen? Scheust du dich? Schreckst du vor dem Versuch zurück?

Was die Menschen sein könnten. So vieles hast du ohne Besinnen gegen die Menschen entschieden. Versuche es einmal umgekehrt. Entscheide für die Menschen. Versuche es mit einigen Folgerungen zu ihren Gunsten. Versuche es damit in der Religion. In der Politik. Im Handel. In deinen Salons. Versuche es damit im internationalen Verkehr. Im Krieg. In dem Krieg, der schlimmer ist als Krieg. Im kommerziellen Frieden. Wenn du von den Menschen schlechtes denkst, versuche es damit. Wenn du dich selbst für besser hältst. Wenn du meinst, du müssest fürs Leben besondere Vorrechte haben. Wenn du meinst, die Kunst sei etwas Großes und die Arbeit nicht, so versuche es damit. Versuche es. Versuche es. Mit den Folgerungen, die du so lange ohne Besinnen gegen die Menschen gezogen hast. Schau, ob die Menschen nicht vielleicht deinen Erwartungen entsprechen. Schau, ob die Menschen nicht im Menschen deinen Erwartungen entsprechen. Die Menschen werden dem Menschen entsprechen. Immer, wenn man sie im Geist des Menschseins betrachtet. Halte mich nicht für einen guten Propheten. Versuche es selbst mit den Menschen. Dann wirst du dein eigner Prophet sein. Du brauchst nicht mein Wort, um deines zu stützen. Dein Wort wird genug für dich sein. Denn des Lebens Gesamtheit wird dein Wort stützen. Aber mach den Versuch. Nimm den Fall auf. Schaffe alle Hindernisse beiseite. Gib dem Menschen die Gelegenheit, frei zu sein. Dem Menschen in den Menschen. Dem Menschen in dir.

Was die Menschen sein könnten. Wenn du alle hemmenden Anstalten aus dem Wege räumtest. Wenn du den politischen Staat aus dem Wege, räumtest. Und die Widerchristlichkeit der christlichen. Kirche. Und den Krieg. Und den Trugfrieden. Die Militärkaste. Die Priesterkaste. Die. Schriftstellerkaste. Die Musikerkaste. Die Nur-Maler und die Nur-Redner und die Nur-Schausteller jeder Art. Wenn du die aus dem Weg räumtest. Wenn du das Lohnsystem aus dem Weg räumtest. Wenn du den Grundbesitzer von seinem Land, den Geschäftsinhaber aus seinem Laden, den Fabrikbesitzer aus seiner Fabrik, den Meister aus seiner Werkstätte triebest. Wenn du alle, die bedient werden ohne zu dienen, aus dem Weg räumtest. Wenn du Himmel und Hölle, ja, wenn du Gott selbst aus dem Weg räumtest. (Es wird Gott nichts schaden. Denn Gott steht nie im Wege.) Wenn du all das aus dem Weg räumtest. Ja, all das und noch mehr als das. Wenn du keine Verbote und Fallgruben und Hinterhalte im Weg der Menschheit ließest. Dann hätten die Menschen die Möglichkeit, Menschen zu sein. Dann wäre die Menschheit Mensch.

Was der Mensch sein könnte. Wenn du nicht wärest, wer du auch seist. Wenn du nicht deine Zeit meist dazu verwenden würdest, ihm Hindernisse in den Weg zu legen. Du legst ihm dein Geschäft in den Weg. Und deinen Beruf, deine Fabriken, deine politischen Versammlungen, dein Parlament, deine Regierung, deine Kolonien. Und so weiter, und so weiter. Beinahe alles, was du tust, geschieht, ihm etwas in den Weg zu legen. Wie wäre es, wenn du dein Leben anders gestalten, wenn du deine Prinzipien ändern, wenn du dich der Gerechtigkeit zuwenden würdest? Wie wäre es, wenn du aufhörtest, ihm alles in den Weg zu legen; wenn du anfingest, ihm alles aus dem Weg zu räumen? Wenn du dein ganzes Leben ihm vollends aus dem Weg bliebest? Wenn du aufhörtest, dich immer bedienen zu lassen; wenn du anfingest, immer zu dienen? Würde das der Zivilisation, dem sozialen Verkehr im allgemeinen, deinem eigenen Leben kein verheißungsvolleres Aussehen verleihen? Wäre dann die Zivilisation nicht endlich der Mühe wert? Und alle Menschen endlich der Mühe wert? Ja. Und endlich sogar du der Mühe wert? Denn dann wüßten wir, was die Menschen sein könnten. Was die Menschen sein könnten.


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