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Die Männer, die weinen und weitergehn.

Ein Vater ging mit seinem kleinen Kinde einen dunklen Weg. Der Vater fragte das Kind: »Wenn mir jetzt etwas zustoßen würde – wenn ich getötet würde oder verschwände –, was würdest du tun?« Das Kind erwiderte: »Ich würde weinen, aber gerade weitergehn.« Die großen Männer und Frauen der Welt weinen, aber sie gehn ihren Weg weiter.

Manche Leute haben Mißerfolg in ihrem Gelingen. Manche Leute haben Erfolg in ihrem Mißlingen. Die großen Seelen sprechen nie von Erfolg. Die großen Seelen kümmern sich nicht um Erfolg oder Mißerfolg. Wir schauen die großen Männer an und finden, daß sie alle derselben Wurzel entspringen. Sie scheinen alle aus demselben Stamme zu wachsen; aus demselben Rohstoff. Dem Grad nach und in Einzelheiten sind sie verschieden, nicht aber in ihrem Wesen. Sie sind von gleicher Lauterkeit, von gleicher Einfachheit. Sie haben dieselben Ziele. Man weiß immer, wo der große Mann sein wird, wenn ein gewisses Ereignis eintritt. Der große Mann versagt nicht. Er erscheint nicht irgendwo anders. Er kommt sicher an einen bestimmten Platz. Die großen Männer sind die Starken. Die stärksten sind die Sanftesten. Und weil der Mann sanft ist, wird er weinen. Und weil er stark ist, wird er seinen Weg weitergehn. Und er wird weinen wie nur Sanftmütige weinen können. Und er wird weitergehn, wie nur Starke weitergehn können.

Meint ihr, die Männer sehen es gerne, wenn sie mißverstanden werden? Und doch sehen sie sich lieber mißverstanden, als daß sie treulos wären. Sie verzichten auf euer gegenwärtiges Wohlwollen um eures zukünftigen willen. Oder sie verzichten auf euer Wohlwollen überhaupt im Interesse eures Wohles. Vielleicht seht ihr sie nicht weinen. Aber sie weinen doch. In ihrer Kammer. Fern vom Spott der Menge. Sehen werdet ihr aber, daß sie ihren Weg weitergehn. Bedenkt, wie Lincoln geweint haben muß, bis er die Ringe um seine Augen und die tiefen Furchen in sein Gesicht bekam. Aber Lincoln ging seinen Weg weiter. Man sagt, daß John Brown Der feurige Vorkämpfer für die Abschaffung der Sklaverei in den Vereinigten Staaten. Am 2. Dezember 1859 starb er den Märtyrertod für seine Ueberzeugung. lächelte, als er hingerichtet wurde. Bei seinem Lächeln verschwand das Schafott und wurde nie mehr gesehen. Wir wissen aber auch, daß der Granitmann Washington. L. in seiner Einsamkeit für Amerika weinte. Und doch ging er seinen Weg weiter. Niemand befürchtete, daß er zurückgewichen wäre, hätte es einen Ausweg gegeben. Er sah sich nicht nach Auswegen um. Seine Aufgabe war es, gerade vorwärts zu gehn; und er ging seinen Weg weiter.

Am Ende bewundern wir den Starken immer. Vielleicht ärgert und ängstigt er uns eine Zeitlang. Vielleicht scheint er unsern Ueberschüssen und Gewinnen gefährlich. Vielleicht scheint er von einem bedenklichen Fanatismus beseelt. Er aber wird unser Mißtrauen gelassen ertragen. Er wird unsern Verdacht überwinden. Wir können die Idee des Mannes immer für falsch halten und doch zugeben, daß der Mann selbst untadelhaft ist. Denn der Mann, der gerade vorwärts schreitet, hat die moralische Schwerkraft für sich. Und dies ist ein Gesetz, dem wir alle Rechenschaft schulden. Das Kind sagte, es würde weinen, aber gerade weitergehn. Das Kind sagte mehr, als es wußte.

Du wirst verlacht. Du weichst zurück. Du stößt auf Feinde. Du weichst zurück. Du stellst die Uhr ab und drehst die Zeiger zurück. Du entschuldigst dich beim Gestern fürs Heute. Du fürchtest den Ausgang. Dein Kamerad stirbt neben dir. Die Kugeln fliegen. Du weichst. Warum solltest du gegen solche Uebermacht vordringen? Du weichst. Du bist wieder am Anfang. Ist dies dein Heim? Die Heimstätte ist verschwunden. Du bist verloren. Du bist voll Empörung, bis die Empörung kommt. Dann ist deine Empörung verraucht. Du bist darauf erpicht, deine Rechnungen zu bezahlen. Sie werden dir vorgelegt, und du verweigerst die Zahlung. Du hast deine Ideen in einem Pulte verschlossen. Du hast sie in einem Buche gedruckt. Du hast sie auf einem Bilde gemalt. Aber im Herzen und in den Füßen hast du sie nicht. Bis in die Sehnen hinein muß dich Extrakt und Kraft des Ideals durchdringen. Wenn die Trommel zum Rückzug tönt – wagst du zu hören? Die Schlacht wendet sich gegen dich. Du aber wirst dich nicht gegen dich selbst wenden. Niemals. Das Kind hätte geweint und ausgeharrt. Was ist aus dem Kind in dir geworden, daß du dir selbst zur Schmach davonlaufen wolltest?

Ich bete nicht um Ideen. Ich bete um Geist. Ideen können treulos sein. Ideen können durch Ideen widerlegt werden. Ideen können verkauft und gekauft werden. Geist aber ist nie und durch nichts zu widerlegen. Du wirst versucht werden und die Versuchung nicht sehen. Du wirst nur deine eigene Sicherheit sehen. Du kannst ohne Mahlzeiten leben. Ohne Spitzen an deinen Vorhängen und Röcken. Ohne Theater. Ohne Glauben aber kannst du nicht leben. Alles andere kannst du aufgeben und immer noch reich sein. Wenn du aber den Glauben aufgibst, kann dich alles zusammen nicht erlösen. Ich verlange nicht von dir, daß du über dein Maß hinausstrebest. Ich verlange nicht von dir, daß du Wunder vollbringest. Ich verlange nicht von dir, daß du zwei und zwei zusammenzählest und fünf daraus machest. Ich frage dich: wie kannst du wissen, was dein Maß ist, ehe du das Dach gebaut hast? Wie kannst du's wissen? Du hältst dich für klein? Aber der Mann, der sich für klein hält, kann sich für groß halten. Du hältst dich für schwach? Der Mann, der sich für schwach hält, kann sich für stark halten.

Was muß deine Stimme tun, um sich am Alarmtag unserer Zivilisation Gehör zu verschaffen? Wie kann sie sich vom Stimmengewirr lösen? Soll sie sich eine Weile rühren und dann in die tote Ruhe der Verzweiflung versinken? Sie kann dir Sorge bereiten. Sie kann dir Verfolgung bringen. Die Hauptsache ist, daß sie dich selbst bringt. Halte dich an dir selbst fest. Weine, wenn du mußt. Aber gehe vorwärts. Du hast mit den Verfolgern und Hetzern nichts zu tun. Nur für eines darfst du ein Auge haben. Für das Licht vor dir. Dein Glaube ist für den Beifall der Zeit viel zu groß. Er entbehrt der Belohnung. Er findet die Seligkeit. Steh unwiderruflich zu dir selbst. Laß die Hindernisse auf dem Weg den Schwung deines Strebens nicht hemmen. Was immer du sein magst, das sei mit ganzer Kraft. Nicht stark im Groll. Stark im Bejahen. Du wirst falsch gedeutet werden. Man wird dich hart und grausam nennen. Der Ausbeuter wird dich Räuber schelten. Sogar der Ausgebeutete wird dich nicht kennen noch grüßen, obschon du für ihn arbeitest. Deine Kinder werden dich seltsam finden und deine Eltern dich ausstoßen. Du wirst tausend Kreuze tragen, gefoltert und doch gelassen. Du wirst weinen, bitterlich weinen, den Boden mit Blut und Tränen benetzen. Doch du wirst deinen Weg gehn. Du wirst schwach sein, aber deinen Weg gehn; oder stark, aber deinen Weg gehn; oder schlecht, aber vorwärts gehn; oder gut, aber vorwärts gehn. Was schadet Verlust oder Mißlingen? Du wirst deinen Weg gehn. Was nützt Erfolg oder Glück? Du wirst deinen Weg gehn. Ich überraschte dich unvermutet. Da weintest du vor dich hin um deine Sünden. Aber als du mich sahst, da lächeltest du und gingst weiter. Was kann dir mangeln, wenn dein Glaube vorhält? Was kann deine Füße ermüden, wenn deine Seele nicht matt wird? Was kann dich schuldig machen, wenn dein Herz nicht sündigen will? Was kann dich zu Stein verwandeln, wenn deine Liebe die harten Felsen der Berge schmilzt? Dir selbst bist du voll Kummer. Der Welt bist du hart. Im Verborgenen mit dir allein weinst du. Vor der Welt aber sind deine Augen trocken. Doch könnte die Welt sehen mit Augen, die mehr als Augen sind, so würde sie sehen, wie du dich härmst um ihre Schuld. Du, der du dich härmst und doch deinen Weg gehst. Du, der du grausam sein mußt. Du, der du grausam bist und deinen Weg gehst.

Dies ist die Botschaft des Kindes. Du fühlst seine weiche kleine Hand in deiner härteren Rechten. Das Kind, das weint, aber seinen Weg weitergeht. Das Kind in dir, das weint, aber seinen Weg geht.


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