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Wieder klares Wetter.

Wieder klares Wetter. Die Krise ist überstanden. Der Mensch war ihr gewachsen. Die Menschheit ist unversehrt daraus hervorgegangen. Ja, mit Ruhm bedeckt. Die Menschheit hat bewiesen, daß sie für die Gerechtigkeit reif ist. Viele unter uns sahen nur Tod und Verderben. Sahen nur den Sturm. Nicht über den Sturm hinaus. Doch die Propheten waren stets da. Stets übertönten ihre treuen Stimmen das Heulen des Windes und das Krachen der Zerstörung. Wir wußten, daß die Menschheit alles überstehen könnte, wenn sie diesen Sturm überstünde. Denn dies war kein Sturm hoch in den Lüften droben. Kein kosender Zephyr. Kein harmloses Wetterleuchten. Es war ein Sturm, vor dem die Grundfesten erbebten, der nicht bloß das Laubwerk, sondern die untersten Wurzeln der sozialen Ordnung erprobte. Er ließ alles erhoffen und alles befürchten. Denn er kam auf viele Fragen als die entscheidende Frage. Er kam, nachdem viele Fragen überhört, oder falsch beantwortet waren. Er kam als die Frage, die eine richtige Antwort erzwang. Der Sturm von gestern. Der Sturm, durch den wir zu diesem herrlichen Morgen gelangt sind.

Wieder klares Wetter. Jetzt weiß ich, wie viel der Sturm mit schönem Wetter zu tun hatte. Wie viel das Böse mit dem Guten, wie viel der Millionär mit dem Kommunisten zu tun hatte. Wie viel von meinem Scheinwesen ich in dem Sturm gestern ablegte. Wie viel von meinem wirklichen Sein ich mir bewahrte. Jetzt weiß ich, was der Sturm bedeutete. Warum ich hungern mußte. Warum ich gehaßt und mißverstanden werden mußte. Warum meine Träume sich so langsam erfüllten. Warum mich meine Freunde verließen und die Feinde zu Freunden wurden. Warum das Universum gegen mich zu sein schien. Warum das Universum nicht gegen mich hätte sein können, solange ich selbst für mich eintrat. Warum die Arbeit stets alles und der Lohn nichts sein mußte. Warum das Volk mich nicht anhörte. Warum es genug war, wenn ich selbst mich hörte. Warum die Religion gegen den Sturm war und die Kunst und der Staat gegen den Sturm war. Und warum die Großen und Mächtigen überall gegen den Sturm waren, die Presse, und das Parlament, und die Aerzte des Körpers, und die Aerzte der Seele, und die Banken mit ihren reichen Schätzen. Warum sie alle gegen den Sturm waren. Und warum nur die Schwachen für den Sturm waren. Die Schwachen. Das Volk ohne Geld, ohne Macht, ohne Amt. Das Volk in den Gassen. Das Volk. Die Kinder der ewigen schweren Zeit; schlecht genährt, schlecht gekleidet, schlecht untergebracht. Warum nur die Schwachen für den Sturm waren. Die Schwachen, deren einzige Waffen Ideen sind und Träume und Leiden und Hunger. Warum nur die Schwachen für den Sturm waren. Warum die Mächtigen und Großen gegen den Sturm waren und ihn nicht abhalten konnten. Warum die Schwachen und Kleinen für den Sturm waren und ihn herbeiführten.

Wieder klares Wetter. Jetzt weiß ich, was schönes Wetter bedeutet. Und deshalb weiß ich auch, was der Sturm bedeutete. Was die Tage vor dem Sturm bedeuteten. Was es für die Menschen bedeutete, übersättigt und unternährt zu sein. Was die zeitweiligen Siege der Habsucht bedeuteten. Warum die Habsüchtigen zuerst unter der Habsucht litten. Warum ich manchmal zweifelte, ob die Liebe sich nicht selbst aufgegeben hätte. Das heißt, ob das Universum sich nicht selbst aufgegeben hätte. Denn die Leiden des sozialen Elends waren so groß, daß sie einem ins Herz schnitten. Und das Herz begann zu fragen. Und die Fragen des Herzens waren nicht immer heiterer Art. Aber sie fuhren unbeirrt fort, sich selbst nach allen Richtungen hin zu befragen. Und das Elend wuchs. Die Fragen kamen zahlreicher und dichter. Und das machte die Luft so schwül. Und darum ist der Sturm gekommen. Und darum ist dieser herrliche Morgen auf den Sturm gefolgt. Dieser Morgen der Gerechtigkeit. All dies wußte ich damals noch nicht. Aber all dies ist mir jetzt klar. Klar und begeisternd und beglückend, in dem Wunder und Gesetz eines völligen Siegs.

Wieder klares Wetter. Nun, wir sind oft in Gefahr gewesen, bis wir soweit kamen. Aber jetzt sind wir am Ziel. Und wir sind alle gerettet. Tot oder lebendig sind wir gerettet. Wir sind mit Allem und Nichts hierhergelangt. Doch sind wir gerettet. Wir sind wohl und gesund. Aller Besitz ist mit uns gerettet, aber alle Besitzer sind verloren. Der Schutt ist zurückgeblieben. Alles, was Herr war oder Sklave, ist zurückgeblieben. Aber die Menschen sind alle da. Sie melden sich alle. Wir halten einen Appell ab. Nichts, was wir brauchen, fehlt. Nichts. Auch nicht das Geringste fehlt. Die Dinge, auf die wir am stolzesten waren, sind meist zurückgeblieben. Sie vermochten nicht, die Klippen zu umsegeln. Aber alles übrige hat die Probe bestanden. Und hier sind wir, verwundet, aber gesund. Mit den Wunden der Liebe bedeckt. Mit den Wunden des Glaubens. Und doch wohlbehalten.

Wieder klares Wetter. Siehst du? Du, der du noch zweifelst, sagtest immer, wir könnten den Sturm nicht herbeiführen. Als der Sturm kam, sagtest du, wir könnten ihn nicht überstehen. Nun, da wir den Sturm überstanden haben, sagst du, daß wir damit nichts Erstrebenswertes erreichten. Schau dich um. Sieh, was zu sehen ist. Frage dich noch einmal. War das, was du siehst, des Strebens unwert? Du sagst, in einer Welt voller Engel möchtest du nicht leben. Ich ebensowenig. In Gegenwart von Engeln ist es mir nie wohl. Das ist aber keine Welt von Engeln, sondern von Menschen. Es ist eine Welt von Menschen, die noch schwach sind, die noch Opfer der Leidenschaft sind. Aber es ist eine Welt, wo die Schwäche besser versorgt ist, und wo sie besser für sich selbst sorgen kann. Es ist eine Welt, worin alles leichter die angeborne Rechtschaffenheit auslebt und die angeborne Sündhaftigkeit überwindet. Es ist eine Welt, worin die Versuchung stark genug ist zu stärken, doch nie stark genug zu verführen. Hältst du das für eine unmögliche Welt? Schau nochmals. Die großen Dinge der Alten Welt siehst du klein in der Neuen. Du siehst den Besitz sehr klein, den Menschen sehr groß. Du siehst den Besitzer zunehmen, während das Besitzrecht schwindet. Du siehst das Eigentum jetzt zum erstenmal geheiligt. Du meintest immer, das Besitzrecht sei das einzige, was das Eigentum heiligt. Nun siehst du, daß das Privateigentum stets unheilig war. Nun siehst du, daß der Gemeinbesitz, der immer nur einem gehörte, jedem zuteil wird, indem er allen gehört. Ist das eine unmögliche Welt? Ist Gerechtigkeit unmöglich? In den alten Tagen mußtest du alles mit beiden Händen festhalten. Sonst wäre nichts sicher gewesen. Du warst immer am Ertrinken. Nun kannst du sehen, daß du nichts festhalten mußt. Alles ist sicher. An dich selbst mußt du dich halten. Das ist alles. Ist das eine unmögliche Welt? Meintest du, die Menschen könnten immer im Bereich der Gefahr leben? Meintest du, der Mensch hätte stets an einen Schwimmgürtel gebunden sein sollen? Er hätte in steter Furcht weiterleben sollen? Da er abends nicht wußte, ob ein sozialer Umsturz ihn nicht vor dem Morgen vernichten würde? Da böse soziale Gewalten im Dunkeln ihm auflauerten? Da verderbendrohende Träume ihm den Schlaf, da verderbenbringende Ereignisse ihm das Wachen vergällten? Sollte der Mensch diese Höllenherrschaft noch länger erdulden? Schau dich noch einmal um. Sieh, was zu sehen ist. Frage dich selbst, ob dir nicht diese Welt ein besseres Stimmrecht bietet.

Wieder klares Wetter. Das klare Wetter hat einen neuen Menschen geschaffen. Oder den alten Menschen so verändert, daß er ein neues Leben führt. Ich weiß nicht genau, was es ist. Noch wie es ist. Doch daß es ist, weiß ich. Jeder Mensch lenkt sein Schiff nun selbst. Kein Fremder sitzt mehr an meinem Steuer. Jeder Mensch lebt sein eigenes Leben, nicht das eines andern. Jetzt, da der Sturm vorbei ist, entdecken wir, daß jedermann Platz genug hat und weiß, daß es Platz genug gibt für alle. Wir sehen, daß fernerhin kein Mensch mehr Platz für sich beansprucht als er braucht. Soviel als er braucht. Aber nicht mehr. Wir sehen, das beste Mittel, die Menschen zum Zusammenleben zu bringen, ist, ihnen die Möglichkeit zu schaffen, getrennt zu leben. In der neuen geräumigen Welt lernt der Menschengeist leben. Wir haben die Besitzrechte aus dem Weg geräumt. Den Besitz haben wir behalten, aber die Rechte beseitigt. Der Sturm hat das Unrecht umgestoßen, um das Recht einzusetzen. Er kam aus dunklen Tagen hervor. Er reizte die ganze Natur zu unerbittlicher Wut. Die Elemente rasten. Die Zerstörung schien vollkommen. Es war kein Weg zur Rettung zu sehen. Doch die Propheten beharrten bei ihren Verheißungen. Und als das beschlossene Werk getan war, kam auch die Sonne wieder. In der Offenbarung dieses Morgens erkennen wir, daß kein Fehler gemacht wurde. Alles wahrhaft Wertvolle ist uns geblieben. Nichts ist verloren gegangen, was wir nicht entbehren könnten. Was wir gewonnen haben, ist der eine Schatz, mit dem sich alle anderen Schätze vereinigen müssen, wenn sie nicht wertlos sein sollen. Wir hatten uns an den Besitz verraten. Und der Besitz verriet uns an die Verzweiflung. Jetzt erkennen wir, daß der Mensch mit Millionen und ohne Gelegenheit zu leben, arm war; daß der Mensch ohne Pfennig und mit der Gelegenheit zu leben, reich ist. Und jetzt, da der Sturm vorbei ist, erkennen wir, daß die soziale Ordnung immer nur eine Aufgabe gehabt hat: die Aufgabe, den Menschen die Gelegenheit zu leben zu schaffen; daß sie das ganze Leben verriet, als sie dieser Aufgabe untreu wurde; daß die soziale Ordnung nicht Ordnung war, sondern Chaos. Und darum wurde die Luft über dem Chaos so schwül. Und darum kam der Sturm, als die Luft zu schwül wurde zum Atmen. Und darum sehen wir nun, da das Wetter wieder klar ist, daß an Stelle des Chaos die Ordnung trat. Die Ordnung, die in der allgemeinen Gelegenheit zu leben besteht. Wieder klares Wetter.


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