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Kein Früh oder Spät.

Es gibt kein Früh oder Spät; nur ein Jetzt; nur Glaube. Sage mir nicht, der Glaube sei recht für übermorgen, aber wertlos für heute. Sage mir nicht, die Wahrheit sei Wahrheit, doch sei sie noch ferne. Sage mir nicht, die Liebe warte auf eine günstige Zeit in der Zukunft; die Liebe sei wissend, aber dürfe nicht handeln. Das Wissen, sagst du, ist für jetzt, das Tun für die Zukunft. Komme nicht zu mir, deinen moralischen Bankrott zu beichten. Ich verlange nicht von dir, daß du dich über dein Ideal erhebest. Aber sobald du ausgebetet hast, sollst du deine Kammer verlassen. Deine Dienstzeit ist nahe. Dein Lebenspfad heißt Leben. Du bist dir selbst Rechenschaft schuldig, sobald du des Glaubens teilhaftig geworden. Es geht rückwärts mit dir, wenn du darauf wartest, daß man dir den schöpferischen Augenblick der Tat weise, wenn du dich an ein Programm bindest, wenn du deine Seele mit Zögern betrügst. Du behauptest, die Welt sei nicht bereit. Für den Glauben ist die Welt immer bereit. Es ist nicht deine Aufgabe, zu warten, bis die Welt bereit ist. Du sollst sie bereit machen helfen. Der Glaube an das gegenwärtige Jetzt ist der beste. Der Glaube kennt keine Bedenken. Er trägt keine Uhr. Er kümmert sich nie um die Stunden des Tages. Für den Glauben gibt es nur eine Stunde: die Stunde zu sprechen, die Stunde zu handeln.

Es gibt kein Früh oder Spät. Während du schwankst, wird die Liebe verraten. Während du dich fragst, ob dein Glaube, heute betätigt, deines Vaters Vermögen zugut käme; während du dich fragst, ob dein Glaube, in der Gesellschaft bekannt, ihrer Eleganz nicht schade; während du dich fragst, ob nicht die Zeit komme, wo Glaube Glaube sein könnte, ohne industrielle Werte zu bedrohen; während du zurückschaust und um dich und vorwärts – wird die Zeit verraten. Und Zeit ist Glaube. Wenn der Glaube auf die Uhr sieht, so weißt du, daß er den Mut verloren hat. Wenn der Glaube den Fahrplan befragt, so weißt du, daß er sich zum Rückzug rüstet. Der Glaube verschiebt keine Reise und überhastet keine. Er verpaßt nie sein Stichwort; weiß immer wohin, denn er ist immer an seinem Platz – in Raum und Zeit. Er ist zur Stelle, wo er gerade sein Lied singt. Er ist zur Stelle, um die Aufgabe des Augenblicks möglichst gut zu erfüllen. Meinst du, der Glaube lege sich mit dem Ohr auf den Boden, um nach etwas Entferntem zu horchen? Der Glaube braucht das Ferne nicht und fürchtet das Jenseits nicht. Er braucht die Arbeit des heutigen Tages. In diesem Geiste geht er jedem Morgen entgegen. Jedes Morgen, das zum Heute wird, findet sich als den auserwählten Tag des Glaubens. Meinst du, der Glaube wende sich an seine Freunde um Wohlwollen und Rat? Meinst du, der Glaube sei Glaube, weil jemand etwas für ihn tun will, oder höre auf, Glaube zu sein, weil seine Freunde zum Aufschub raten? Glaube ist niemals Aufschub. Für Aufschub haben wir einen anderen Namen. Feigheit, wer weiß? Oder Verrat, wer weiß? Glaube ist nicht etwas Totes in der Vorstellung. Er ist etwas Lebendiges im Leben.

So viele von euch sind mit derselben Frage zu mir gekommen. Ihr seid mit mir einverstanden: Die Kommune ist so schön. Sie ist der Endzweck von Industrie und Besitz. Sie ist der fruchtbare Zweig der Verheißung, der am Ziele winkt. Aber – und dieses Aber macht ihr sehr hoch und breit. Ihr nehmt es und haltet es euch vor, daß es den Weg ausfüllt. Ihr kommt nicht daran vorbei. Ihr könnt nicht darüber klettern. Und dann setzt ihr euch verzagt in den Staub und erklärt, die nichtige Welt sei noch nicht vorbereitet auf euch. Doch was habt ihr mit der Nichtigkeit der Welt zu schaffen? Nicht von der Welt verlange ich, daß sie bereit sei, sondern von euch. Und ihr seid es nicht. Bis jetzt habt ihr erst die Sprache der Liebe gelernt. Einst werdet ihr bereit sein: wenn ihr das Leben der Liebe gelernt habt. Seid ihr bereit, so werdet ihr alle Schiffe hinter euch verbrennen. Ihr werdet nicht zufrieden sein, bis ihr das letzte Schiff in Rauch aufgehen seht; bis auch die leiseste Andeutung von Verzug und Ausflucht zerstört ist. Ihr werdet nicht auf den Ruf der Welt warten. Die Welt wird auf euren Ruf warten. Wartet. Wartet ewig. Nie wird die Welt euch berufen. Selbst müßt ihr euch berufen. Ihr müßt euch berufen in Lauten, denen ihr nicht widerstehen könnt. Da seid ihr, zu Zehntausenden überall, und bestärkt einander in der Verzögerungssucht. Ihr wißt, wohin ihr gehen solltet. Aber ihr scheut euch, aufzubrechen. Ihr liebt eure Professuren. Ihr haltet euch fest an euren Redaktionsstühlen. Ihr bindet euch mit Doppelknoten ans Geschäft. Ihr seid Juristen und verankert euch im Gesetz; Aerzte und bindet euch an die Medizin; Maler und hüllt euch in Leinwand. Ihr schreibt Gedichte und verliert euch in Worttechnik. Was ihr auch sein mögt, das, schwört ihr, müßt ihr bleiben. Bleiben, trotz eures Glaubens. Ihr wißt, daß es anders werden muß; daß wir dem Ende des Konkurrenzsystems nahen. Und doch befragt ihr fortwährend eure Uhren und stellt die Zeiger zurück, wie Winkeladvokaten, die vor Gericht um Aufschub feilschen. Um Aufschub. Aber Aufschub ist Tod. Kein Glaube kann den Verrat, den der Aufschub begeht, lang überleben. Die Zeit wird schon kommen, sagt ihr. Die jetzige Stunde ist ein wenig zu früh, sagt ihr. Aber für Menschen von eurem Schlag setzt sich das Leben aus lauter Zufrüh zusammen. Ihr meint, es stehe etwas im Wege. Nichts steht im Wege, als was ihr euch selbst in den Weg gelegt habt. Ihr allein. Sonst nichts. Ihr seid entschlossen? Dann macht die Bahn frei und stürmt vorwärts.

Ihr murrt, als erwartete ich Heldentaten von euch. Nein, nicht Helden – ihr selbst sollt ihr sein. In diesem Trugfrieden werdet ihr niemals ihr selbst sein; erst in den reinen Kämpfen der Gerechtigkeit. Aufschub stagniert, Bewegung reinigt. Ihr werdet nicht ihr selbst sein, solange die Versorgung durch eine Professur, ein Amt, oder was sonst, euch vom Aufbruch abhält. Erst dann werdet ihr ihr selbst sein, wenn ihr einmal euer Bündel geschnürt habt und der Vergangenheit Lebewohl sagt. Erst dann. Warum solltet ihr euch als Höflinge maskieren? Warum solltet ihr noch länger an Höfen schmarotzen? Warum solltet ihr im Glanze verweilen, während eure Seelen, die draußen stehen, euch rufen? Laßt's euch gesagt sein: Es hat keine Gefahr draußen. Im Palast hat es Gefahr. Flieht. Ihr tragt den Kopf so zuversichtlich aufrecht, als wäre nichts geschehen. Ich will euch sagen, daß etwas Furchtbares geschah; etwas, das vom Gewölbe der letzten Tragödie beschattet wird. Ihr habt euch selbst gemordet. Ihr habt jenes schlimmste aller Geschicke zu erdulden: lebendig tot sein; verurteilt sein zum Verrat am Leben. Ihr habt euren eigenen Tod überlebt.

Es gibt kein Früh oder Spät. Du hast die Augen offen. Du siehst. Aber du schweigst. Wirst du das Wort sprechen? Oder wirst du jenes ungesprochene Wort in deinem Herzen begraben und ihm einen Stein setzen? Wirst du ganz du selbst sein? Oder wirst du bekennen müssen, daß du kleiner bist, als dein Selbst? Du sahst. Dann horchtest du auf Stimmen. Du hättest taub sein sollen. Aber du horchtest auf Stimmen. Wer horcht, wird immer auch hören. So hörtest du. Du hättest auf nichts horchen sollen. Dann hättest du eine Stimme vernommen. Eine herrliche, rettende Stimme. Deine eigene Stimme. Aber du horchtest auf Stimmen. Und Stimmen umschwirrten dein Ohr. Die Kirche hatte eine Stimme. Und die Kirche sagte: Warte! Und der Staat hatte eine Stimme. Und die Bank hatte eine Stimme. Und alle Berufsarten hatten Stimmen. Und alle gestohlenen Profite und von der Regierung sanktionierten Privilegien hatten Stimmen. Und all diese Stimmen sagten: Warte! Diese lauten Stimmen des Rückschritts. Auch undeutliche Stimmen, namenlos, zahllos, zischend und stöhnend. Lauter Stimmen. Und alle Stimmen sagten: Warte! In all dem tosenden Tumult war eine feine Stimme, die sagte: Vorwärts! Aber die hörtest du nicht. Und so gewann das »Warte!« den Sieg. Und nun bist du tot und in deinem eigenen Leibe begraben. Und über deinem Grab erhebt sich ein Stein. Und auf dem Stein steht nur ein Wort: Warte! Dies Wort ist alles, was übrig ist zu deinem Gedächtnis. Dies Wort ist alles, was übrig ist, die Geschichte deines nicht allzu tapferen Kampfes zu erzählen; deiner allzu leicht hingenommenen Niederlage. Siehst du nicht durch dein Zaudern hindurch, mein Bruder? Siehst du nicht, daß nur eines zählt? Der Glaube; nichts anderes zählt. Und für den Glauben gibt es kein Früh oder Spät.


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