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Das Blut der Märtyrer.

Wir verehren den Zerstörer. Wir verachten oder ignorieren den Erbauer. Wenn ein Trupp Soldaten unter Trommeln und Pfeifen vorbeimarschiert, da klopft dir das Herz, dein Blut kommt in Wallung und du gerätst in gehobene Stimmung. Doch geht ein Trupp Arbeiter vorbei, so wirst du sicherlich über ihre Kleidung spötteln und dich interesselos und gleichgültig abwenden. Ein Trupp Soldaten, die in den Krieg ziehn. Ein Trupp Arbeiter, die in den Streik ziehn. Die einen bedrohen die Freiheit, die andern kämpfen für die Freiheit. Der Soldat mit seinem Gewehr ist heilig. Der Streiker mit seiner Axt ist ein Verbrecher. Gib acht auf dich. Dein Herz wird dir davonlaufen. Ich kenne dich nur zu gut. Ich weiß, wohin dein Herz gehört, und wohin es geht. Aber ich weiß auch, wohin die Freiheit gehört, und wohin sie geht.

Du schaust mit Grausen auf ein Schlachtfeld. Schaust du nicht mit demselben Grausen auf einen Tunnel? Hier ist es ein ehrlicher Kampf. Ein Kampf mit den Felsen. Hier ist es ein Kampf ohne Feind, ohne Mord. Ein Kampf, in dem nicht ein Bruder gegen den andern streitet. Und doch, auch dieser Kampf fordert seine Opfer. Und du schaust zu, ohne etwas zu denken oder zu sagen. Du stehst achtlos und blöde dabei. Was soll das heißen? Dies ist ein ehrlicher Kampf. Er wird ausgefochten auf dem gerechten Boden menschlichen Unternehmungsgeistes. Du siehst in die Schächte hinab, und das Herz bleibt dir unbewegt. Du wendest dich der Hauptstraße zu, begegnest einem Bataillon Soldaten und das Feuer kriegerischer Begeisterung flammt in dir auf. Was soll das heißen? Der Mann, der tötet, ist ein Held. Doch der Mann, der Leben erhält, ist ein Sklave. Wir haben den Mord für Mannheit gehalten und ihm in unsrer Achtung die erste Stelle gegeben. Die Arbeit haben wir mit Entehrung verwechselt und sie unter die Stufe des ihr gebührenden Adels herabgedrückt ... Die Wappen der Staaten bestehen aus Sinnbildern des Krieges und der Justiz. Noch nie hat ein Staat daran gedacht, sein Symbol in den Werkzeugen der Arbeit zu finden. Und doch gibt der Arbeiter allem Anfang und Ende. Aller Kunst und Art des Lebens gibt er den ersten Plan und die letzte Ausführung. Kein Staat, keine Kirche, kein Salon, nichts würde auch nur einen Augenblick bestehen, wenn die Arbeiterschaft aus seinen Grundlagen entfernt würde. Der Arbeiter legt dir sogar die Bibel auf die Kanzel. Sogar die Liebe ins Herz. Derselbe Arbeiter, der unter deiner Großstadt einen Tunnel sprengt. Dieselbe Arbeit, deren Opfer täglich aus diesen unterirdischen Höhlen nach Hause geschafft werden, im Schatten einer entsetzlichen Gleichgültigkeit von seiten des Volkes. Tag für Tag, bis es eine schwarze, dichte Wolke von fünfhundert Opfern geworden ist.

Der Soldat tötet. Man pensioniert seine Wunden und seinen Tod. Je mehr er getötet hat, je glänzender sein Raubzug gewesen ist, um so größer die Pension, um so höher der Ruhm. Der Arbeiter wirkt erhaltend. Man verdammt seine Wunden und ignoriert seinen Tod. Seiner Familie wird keine Pension zuteil; sie kommt an den Bettelstab. Ist die Art und Weise seines Sterbens einigermaßen dramatisch, so bringt man ihn in die Renommierspalten der Zeitungen unter der allgemeinen Rubrik: »Zehn Mann tot.« Dann Schluß. Die Soldatenfamilie meldet sich bei der Staatskasse, die Arbeiterfamilie im Armenhaus. So weit geht das Recht. Aber das Recht ist noch weit zurück. Noch beugt es sich vor mittelalterlichen Idealen und zweifelt an sich selbst. Wenn Recht Recht wäre, so würdest du vor jenen Männern den Hut abziehen. Geduldig steigen sie in den Schacht hinab, ihren gefährlichen Dienst zu tun. Du würdest ihnen Verehrung zollen. Ihre beschmutzten Hände und Kleider würden leuchten. Du würdest bezahlen, was ihnen zukommt. Freudig bezahlen. Jeden Pfennig.

Diese Märtyrer sind Märtyrer trotz deiner und trotz ihrer selbst. Sie sind es durch sich selbst. Ihr Märtyrertum ist keine eitle Prahlerei. Sie haben nichts dafür zu erwarten. Nicht einmal anständigen Lohn. Nicht einmal freundliche Worte vom Arbeitgeber. Ihr Märtyrertum ist das niederste an Form, das höchste an Inhalt. Es ist ein Schrei. Du bist taub. Ein Bild. Du bist blind. Es ist ein Märtyrertum, das in der Dachkammer schläft und auf der Armenliste endigt. Ein Märtyrertum, von dem die Geschichte nichts weiß. Ein Märtyrertum, das mit sich selbst zufrieden sein muß. Es erhält keine Ehrenzeichen. Der offizielle Beifall der Welt wird dem offiziellen Märtyrertum zuteil. Der Soldat taucht wieder auf in Salons, in Parlamentssälen, mit Wappen und Orden. Aber der Arbeiter – er geht auf dem kürzesten und dunkelsten Wege der Vergessenheit zu. Die Soldaten stellt man ins Licht. Die Arbeiter läßt man im Schatten.

Einige Menschen sterben, damit du lebest. Einige auf dem Schafott. Einige am Kreuz. Einige auf Schlachtfeldern. Einige in Tunnels. Warum sollte der Tunnel nicht ebenso heilig sein, wie das Kreuz? Was ist denn am Tunnel, daß er außer dem Bereich deiner vorgeschriebenen Anbetung läge? Du kannst Jesus am Kreuz, Savonarola auf dem Scheiterhaufen verstehen. Du kannst John Brown verstehen, der bei Harpers Ferry hingerichtet wurde. Warum vermagst du nicht, diesen Jemand, der im Tunnel geopfert ward, zu verstehen? Ich behaupte nicht, daß Kreuz, Scheiterhaufen und Schafott dich getäuscht hätten. Aber ich behaupte, daß dich der Tunnel getäuscht hat. Oder daß du den Tunnel getäuscht hast. Denn wenn du den Tunnel nicht zu verstehen vermagst, so leugnest du alles Märtyrertum; so hebst du den Zusammenhang der Geschichte auf. Denn der Tunnel gehört zum Kreuz als Glied derselben unsichtbaren Kette des Glaubens, die das Kreuz dem Tunnel gesellt.

Er ist kläglich gestorben; von einem Felsen zerschmettert. Man hat ihn heraufgebracht. Sein Gesicht ist bleich, doch zufrieden. Die Millionenstadt wird ihren dröhnenden Schritt nicht anhalten, sein unbekanntes Antlitz zu betrachten. Und doch hat dieser Namenlose die Stadt gerettet. Wäre er nicht gewesen, so könnte sie nicht mehr bestehen. Die ganze Arbeiterschaft liegt hier in dieser starren Gestalt niedergestreckt. Kommt aus euren Kirchen heraus, ihr alle, und betet hier an. Laßt euren Glauben daheim. Dies ist Glauben genug. Betet hier an. Hier ist Religion genug.


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