William M. Thackeray
Die Geschichte von Pendennis / Band 3
William M. Thackeray

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Zwanzigstes Kapitel

Das Verdeck beginnt sich zu leeren

Als Pen sich, in seinen Schlafrock gekleidet, am nächsten Morgen nach seiner Gewohnheit in Warringtons Wohnung begab, um seinen Freund vom Ausgange der am letzten Abende mit seinem Oheim gehabten Aussprache zu unterrichten und, wie gewöhnlich, Georg um seinen Rat und seine Meinung zu befragen, war Frau Flanagan, die Aufwärterin, die einzige Person, die Arthur in seiner lieben alten Stube fand. Georg hatte einen Reisesack genommen und war fortgegangen. Seine Adresse war das 397 Haus seines Bruders in Suffolk. Pakete, an die Zeitung und Monatsschrift adressiert, lagen auf dem Tische, der Ablieferung gewärtig.

»Ich fand ihn am Tische, als ich kam, den lieben Herrn!« sagte Frau Flanagan. »Er schrieb an seinen Berichten, und eine der Kerzen war ausgebrannt, und wie hart sein Bett ist. Gewiß war er die ganze Nacht nicht drinnen, Herr Pendennis.«

In der Tat war George, nachdem er so lange im Klub gesessen, bis das Gesumme daselbst ihm unerträglich ward, nach Hause gegangen und hatte die Nacht damit verbracht, einen Aufsatz zu vollenden, mit dem er beschäftigt war und auf dessen Abschluß er mit aller Macht hinarbeitete. Die Arbeit war getan, und die Nacht war, er wußte nicht wie, verflossen, die zögernde Dämmerung eines Novembermorgens kam und schaute herein auf den jungen Mann, als er über seinem Schreibpulte saß. In der Zeitung vom nächsten Tage oder in der Vierteljahrsschrift bewunderten höchstwahrscheinlich viele von uns das Werk seines Genius, die Mannigfaltigkeit seiner Beispiele, die schneidende Kraft seiner Satire, die Tiefe seines Urteils. Es fand sich da nicht eine Andeutung von den anderen Gedanken, die ihn erfüllten und bei seiner Arbeit stets begleiteten, ein melancholischerer Ton wie gewöhnlich, eine bitterere und ungeduldigere Satire, als er sie später zeigte, mögen den wenigen Personen, die seinen Stil oder seinen Namen kannten, die Schriften dieser Periode seines Lebens bezeichnet haben. Wir haben schon vorher gesagt, könnten wir die Gefühle des Menschen so gut wissen, als die Gedanken des Schriftstellers, 398 wieviel interessanter würden dann die meisten Bücher sein! – interessanter wohl als heiter. Ich glaube, Harlekins Gesicht ist hinter seiner Maske stets ernst, wenn nicht gar melancholisch. Gewiß muß jeder, der von der Feder lebt und zufällig diese Zeilen liest, sich, wenn er nur will, an seine eigenen Erfahrungen erinnern und sich viele ernste Stunden der Einsamkeit und Mühe ins Gedächtnis zurückrufen. Was für eine stete Sorge saß an seinem Pulte und leistete ihm Gesellschaft. Fieber oder Siechtum lagen möglicherweise im nächsten Zimmer; ein krankes Kind mochte vielleicht dort sein, dabei eine Gattin, die geängstet bei ihm wachte und betete; oder ein Kummer drückte ihn nieder, und der grausige Nebel vor den Augen ließ ihn kaum das Papier sehen, wenn er darauf schrieb und die unerbittliche Notwendigkeit die Feder weiter trieb. Wer unter uns hat nicht Nächte und Stunden gleich diesen gehabt? Aber dem männlichen Herzen sind diese Qualen, so schwer sie auch sind, zu ertragen, so lange die Nacht auch scheint; endlich bricht doch die Dämmerung des Morgens herein, die Wunden heilen, und das Fieber beschwichtigt sich, Ruhe tritt ein, und man ist imstande, auf die überstandene Not mit Empfindungen zurückzublicken, die eher alles andere als bitter sind.

Zwei oder drei Bücher zum Nachschlagen, Bruchstücke zerrissener Schreibereien, offene Schubladen, gebrauchte Federn und ein Tintenfaß, halb sichtbare Zeilen auf dem Löschpapier, ein bißchen Siegellack, zerdreht, zerbissen und in verschiedene Stückchen zerbrochen – Ueberbleibsel dieser Art lagen auf dem Tische 399 herum, und Pen warf sich in Georgs leeren Stuhl, indem er diese Dinge nach seiner Gewohnheit oder trotz seiner Gemütsstimmung bemerkte. In der Bücherreihe auf dem Regale war eine Lücke (gleich neben dem alten Kollegium Plato mit dem Bonifaziuswappen), wo Helenes Bibel sonst zu stehen pflegte. Er hat sie mit sich genommen, dachte Pen. Er wußte, weshalb sein Freund gegangen war. Lieber, lieber alter Georg!

Pen fuhr sich mit der Hand über die Augen. Oh, wieviel verständiger, wieviel besser, wieviel edler ist er doch als ich, dachte er. Wo gibt es sonst noch solch einen Freund oder solch ein redliches Herz? Wo werde ich je solch eine freimütige Stimme, solch ein gütiges Lachen hören? Wo werde ich je solch einen wahrhaften Ehrenmann sehen? Kein Wunder, daß sie ihn liebte. Gott segne ihn! Was war ich im Vergleich mit ihm? Was konnte sie anderes tun, als ihn lieben? Bis zum Ende unserer Tage wollen wir ihr Brüder sein, da das Schicksal will, daß wir ihr nichts weiter sein können. Wir wollen ihre Ritter sein und ihr dienen, und wenn wir alt sind, wollen wir ihr sagen, wie wir sie geliebt haben. Teurer, teurer, alter Georg!

Als Pen in seine eigenen Wohnung hinabstieg, fiel sein Auge auf den Briefkasten an seiner äußeren Tür, und dort befand sich ein kleines Billet an A. P. Esquire, in Georgs wohlbekannter Handschrift. Georg hatte es wahrscheinlich, als er wegging, in Pens Kasten gelegt:

»Lieber Pen, – ich werde schon halbwegs zu Hause sein, wenn du frühstückst, und beabsichtige, bis nach Weihnachten in Suffolk oder anderswo zu bleiben.

Ich habe meine eigene Meinung von dem 400 Ausgange der Angelegenheiten, von denen wir gestern in Jermyn Street sprachen, und halte meine Gegenwart für überflüssig.

Vale.

Sage deiner Kusine hochachtungsvollst Lebewohl von mir.«

Und so war denn Georg fort, und Frau Flanagan, die Aufwärterin, herrschte in seiner leeren Wohnung.

Pen mußte natürlich zu seinem Onkel gehen und sehen, was er am Tage nach ihrem Gespräche machte, und da er nicht vorgelassen wurde, ging er ebenso natürlich in die Wohnung Lady Rockminsters, wo die alte Dame sofort nach Blaubart fragte und darauf bestand, daß er zu Tische kommen sollte.

»Blaubart ist fort,« sagte Pen und nahm das Zettelchen des armen Georg heraus und händigte es Laura ein, die es ansah, aber Pen nicht wieder ansah, sondern ihm das Papierstreifchen zurückgab und fortging. Pen brach in eine beredte Lobrede auf seinen lieben alten Georg aus, so daß Lady Rockminster über seine Begeisterung ganz erstaunt war. Sie hatte ihn nie so warm jemand loben hören und sagte ihm mit ihrer gewohnten Offenherzigkeit, sie glaubte nicht, daß es früher in seiner Natur gelegen hätte, sich so viel aus anderen Leuten zu machen.

Als Herr Pendennis über den Waterlooplatz ging, auf einem seiner vielen Gänge zum Hotel, wo Laura wohnte und wohin die Pflicht gegen seinen Onkel Arthur täglich führte, sah er aus dem berühmten Laden der Herren Gimerack einen alten Freund kommen, dem 401 bis zu seinem Wagen ein gefälliger Ladendiener folgte und verschiedene Pakete nachtrug. Der Herr war in der tiefsten Trauer; der Wagen, der Kutscher und das Pferd trauerten ebenfalls. Kummer in behaglichen Verhältnissen, erleichtert durch die bequemsten Sprungfedern und Kissen drückte sich in der Equipage und dem kleinen Herrn, ihrem Besitzer, aus.

»Was, Foker! Heda, Foker!« schrie Pen laut – der Leser hat ohne Zweifel Arthurs einstigen Schulkameraden gleichfalls wiedererkannt – und er hielt seine Hand dem Erben des seligen vielbeklagten John Henry Foker, Esquire, dem Herrn von Logwood und anderen Häusern, dem Hauptteilhaber der großen Brauerei Foker u. Co. und des größeren Teils der Fokerei, hin.

Eine kleine Hand, bedeckt mit einem Handschuh vom tiefsten Ebenholzschwarz und drei Zoll weit von einer schneeweißen Manschette überragt, wurde ausgestreckt, um Arthurs Grüße zu begegnen. Die andere kleine Hand hielt ein Maroquinkästchen, das zweifellos etwas sehr Kostbares enthielt, dessen Besitzer, Herr Foker, soeben im Laden des Herrn Gimerack geworden war. Pens scharfe Augen und seine satirische Anlage zeigten ihm sogleich, mit welchem Einkauf Herr Foker sich beschäftigt hatte und er dachte an den Erben im Horaz, der den gesammelten Wein in seines Vaters Tonnen durch die Gurgel jagt, und daß die menschliche Natur so ziemlich dieselbe ist in der Regentstreet wie in der Via Sacra.

»Le roi est mort! Vive le roi!« sagte Arthur.

»Ah!« sagte der andere. »Ja. Danke schön – sehr 402 verbunden. Wie geht's, Pen? – sehr viel Geschäfte – lebwohl!« und damit hüpfte er in den schwarzen Wagen und saß wie eine kleine schwarze Sorge hinter dem schwarzen Kutscher. Er war beim Anblick Pens errötet und hatte andere Zeichen von Schuldbewußtsein und Verwirrung verraten, die Pen indessen der Neuheit seiner Lage zuschrieb und über welche er in seiner gewohnten sardonischen Weise nachzusinnen begann.

»Ja, das ist die Ironie der Welt,« dachte Pen. »Der Grabstein schließt sich über Heinrich dem Vierten und Heinrich der Fünfte ist König an seiner Statt. Die alten Minister kommen in die Schenke und knien mit ihren Büchern vor ihm nieder; die Bierschröter, seine Untertanen, werfen ihre roten Mützen in die Höhe und brüllen ihm Vivat zu. Was für eine ernste Ehrerbietung die Bankiers und Sachwalter zeigen! Es war ein zu großer Unterschied zwischen jenen beiden, als daß sie sich je sehr herzlich hätten lieben können. Solange der eine den anderen abhält, mit Zwanzigtausenden jährlich zu wirtschaften, muß der jüngere stets nach der Krone schmachten, und der Wunsch muß der Vater des Gedankens an den Besitz sein. Dem Himmel sei Dank, zwischen mir und unserer teuren Mutter stand kein Gedanke an Geld, Laura.«

»Das hätte auch nicht sein können. Du würdest einen solchen mit Verachtung von dir gewiesen haben!« rief Laura. »Weshalb dich egoistischer machen als du wirklich bist, Pen, und deinem Gemüte auch nur einen Augenblick erlauben, zu gestehen, es hätte so – so entsetzlich gemein fühlen können? Du machst mich für 403 dich erröten, Arthur, du machst, daß ich –« ihre Augen vollendeten den Satz, und sie fuhr mit ihrem Taschentuche darüber.

»Es gibt gewisse Wahrheiten, die die Frauen nie anerkennen wollen,« sagte Pen, »und von denen eure Bescheidenheit sich stets abwendet. Ich sage nicht, daß ich je das Gefühl gekannt hätte, nur, daß ich froh bin, nicht in Versuchung geraten zu sein. Liegt denn irgend etwas Arges in diesem Bekenntnisse der Schwäche?«

»Uns ist allen gelehrt, zu bitten, daß wir vom Uebel erlöst werden, Arthur,« sagte Laura mit leiser Stimme. »Ich freue mich, daß du bewahrt bliebst vor jenem großen Vergehen, und bin nur betrübt über den Gedanken, daß du möglicherweise dazu hättest verführt werden können. Aber das war bei dir nicht möglich, und du glaubst selbst nicht daran, du handelst großherzig und gut, du verabscheust gemeines Tun. Du nimmst Blanche ohne Geld und ohne Bestechung. Ja, dem Himmel sei Dank, teurer Bruder. Du hättest dich nicht verkaufen können; ich wußte, daß du nicht dazu imstande wärst, als es an den Tag gekommen war, und du hast es auch nicht getan. Ehre, wem Ehre gebührt. Warum verfolgt dich nur ewig dieser gräßliche Skeptizismus, mein Arthur! Weshalb an deinem eigenen Herzen zweifeln und spöttisch darüber lachen – über jedermanns Herz? Oh, wenn du den Schmerz kenntest, den du mir machst, wie ich wachliege in meinem Bette und an jene harten Aussprüche denke, lieber Bruder, und sie ungeäußert, ungedacht wünsche!«

»Rufe ich bei dir viele Gedanken und viele Tränen hervor, Laura?« fragte Arthur. Die Fülle einer 404 unschuldigen Liebe strahlte aus dem Blicke, mit dem sie ihm antwortete. Ein himmlisch reines Lächeln, ein Blick voll unaussprechlicher Zärtlichkeit, Teilnahme und Erbarmen erglänzte auf ihrem Antlitze. Und all diese Anzeichen von Liebe und Reinheit sah und verehrte Arthur in ihr, wie man sie an einem Kinde beobachten würde, wie man meint, man würde sie an einem Engel erblicken.

»Ich – ich weiß nicht, was ich getan habe,« sagte er schlicht, »um mir solche Teilnahme von zwei solchen weiblichen Wesen zu verdienen. Es ist ein unverdientes Lob, Laura, oder zuviel Glück, das einen erschrickt, oder ein großer Posten, für den man sich nicht passend fühlt. Ach, Schwester, wie schwach und schlecht sind wir doch; wie fleckenlos und voll Liebe und Treue hat der Himmel dich geschaffen! Ich glaube, für manche von euch hat es keinen Sündenfall gegeben,« sagte er, indem er das liebliche Mädchen mit einem fast väterlichen Blicke der Bewunderung ansah. »Du kannst nicht anders, als holde Gedanken haben und gute Handlungen vollbringen. Teures Wesen! Sie sind die Blumen, die du trägst.«

»Und was weiter, Herr Vetter?« fragte Laura. »Ich sehe ein spöttisches Lächeln über dein Gesicht ziehen. Was ist das? Warum kommt es, um all die guten Gedanken zu vertreiben?«

»Ein spöttisches Lächeln, wirklich? Ich dachte eben, meine Liebe, daß die Natur, indem sie dich so gut und liebreich schuf, sehr wohl daran tat, aber –«

»Aber was? Was ist dieses böse Aber? und weshalb rufst du es beständig herauf?« 405

»Dieses Aber kommt, ohne daß wir's rufen. Dieses Aber ist die Reflektion. Dieses Aber ist der spiritus familiaris des Skeptikers, mit dem er einen Pakt gemacht hat; und wenn er es vergißt und sich glücklichen Träumen überläßt oder Luftschlösser baut oder etwa holder Musik lauscht oder den Glocken zuhört, die in die Kirche rufen, klopft das Aber an die Tür und sagt: Meister, hier bin ich. Du bist zwar mein Meister, aber ich bin auch der deine. Geh, wohin du willst, du kannst nicht ohne mich reisen. Ich werde dir zuflüstern, wenn du in der Kirche auf den Knien liegst. Ich werde neben deinem Traukissen sein. Ich werde mich mit deinen Kindern an deinen Tisch setzen. Ich werde hinter dem Vorhange deines Sterbebettes stehen. Das ist's, was das Aber ist,« sagte Pen.

»Pen, du erschreckst mich,« rief Laura.

»Weißt du, was das Aber eben jetzt zu mir sagte, als ich dich ansah? Aber sagte, wenn dieses Mädchen soviel Verstand hätte als Liebe, so würde sie dich nicht mehr lieben. Wenn sie dich so kennte, wie du bist, das unreine selbstische Wesen, als das du dich kennst, so müßte sie sich von dir trennen, so könnte sie dir keine Liebe und Teilnahme mehr schenken. Sagte ich nicht eben,« fragte er liebreich weiter, »daß einige von eurem Geschlecht vom Sündenfalle unberührt geblieben scheinen? Die Liebe kennt ihr, aber die Erkenntnis des Bösen ist euch vorenthalten.«

»Was ist's, worüber ihr junges Volk hier schwatzt?« fragte Lady Rockminster, die in diesem Moment im Zimmer erschien, nachdem sie in der mystischen Zurückgezogenheit ihrer eigenen Gemächer und unter den 406 Händen ihrer Zofe jene weitläufigen Zeremonien der Toilette beendet hatte, ohne welche die würdige alte Dame sich nie öffentlich sehen ließ. »Herr Pendennis, Sie drücken sich fortwährend hier herum.«

»Es ist sehr angenehm, hier zu sein,« sagte Arthur, »und wir sprachen, als Sie hereinkamen, gerade von meinem Freunde Foker, dem ich eben jetzt begegnete, und der, wie Ihre Ladyschaft wissen, seinem Vater auf dem Throne nachgefolgt ist.«

»Er hat ein sehr schönes Vermögen, er hat fünfzehntausend jährlich. Er ist ein Vetter von mir, ein sehr wackerer junger Mann. Er muß kommen und mich besuchen,« sagte Lady Rockminster mit einem Blick auf Laura.

»Er ist schon seit vielen Jahren mit seiner Kusine verlobt –«

»Lady Anna ist eine einfältige kleine Närrin,« sagte Lady Rockminster mit großer Würde, »und ich habe kein Mitleid mit ihr. Sie hat jedes in guter Gesellschaft geltende Gefühl verletzt. Sie hat das Herz ihres Vaters gebrochen und fünfzehntausend Pfund jährlich weggeworfen.«

»Weggeworfen! Was ist denn vorgefallen?« fragte Pen.

»Es wird in ein paar Tagen Stadtgespräch sein, und es ist nicht nötig, daß ich es länger als Geheimnis bei mir behalte,« sagte Lady Rockminster, die über den Gegenstand ein Dutzend Briefe geschrieben und empfangen hatte. »Ich bekam gestern einen Brief von meiner Tochter, die sich zu Drummington aufhielt, bis alle 407 Welt sich gezwungen sah, wegen der furchtbaren Katastrophe fortzugehen, die dort stattfand. Als Herr Foker von Nizza heimkam, und nach dem Begräbnisse, fiel Lady Anna vor ihrem Vater auf die Knie und sagte, sie könnte ihren Vetter niemals heiraten, sie hätte ein anderes Verhältnis angeknüpft und würde lieber sterben, als ihren Vertrag erfüllen. Der arme Lord Rosherville, der sich in der schrecklichsten Verlegenheit befindet, zeigte seiner Tochter, wie seine Angelegenheiten ständen, und daß es nötig wäre, die Arrangements stattfinden zu lassen, und am Ende dachten wir alle, sie hätte Vernunft angenommen und gedächte sich in die Wünsche ihrer Familie zu fügen. Aber was geschah – letzten Donnerstag ging sie nach dem Frühstück mit ihrer Dienerin aus und ließ sich in der Kirche zu Drummington Park mit Herrn Hobson, dem Kaplan ihres Vaters und Erzieher ihres Bruder, einem rothaarigen Witwer mit zwei Kindern, trauen. Der arme gute Rosherville ist in einem entsetzlichen Zustande; er wünscht, Harry Foker möchte Alice oder Barbara heiraten; aber Alice hat Pockennarben, und Barbara ist zehn Jahre älter als er. Und natürlich wird der junge Mann, der jetzt sein eigener Herr ist, daran denken, selbst zu wählen. Der Schlag, den dies der Lady Agnes versetzt hat, ist sehr grausam. Sie ist untröstlich. Sie hat das Haus in Grosvenor Street auf Lebenszeit und ihr Vermächtnis, das eine sehr nette Summe war. Sind Sie ihr nicht begegnet? Ja, sie speiste eines Tages bei der Lady Clavering, das erstemal, als ich Sie sah, und ich muß sagen, daß ich Sie für einen sehr unangenehmen jungen Mann hielt. Aber ich habe 408 Sie umgemodelt. Wir haben ihn umgemodelt, nicht wahr, Laura? Wo ist Blaubart? Er soll doch herkommen! Dieser abscheuliche Grindley, der Zahnarzt, wird mich noch eine Woche in der Stadt aufhalten.«

Dem letzteren Teil der Rede Ihrer Ladyschaft lieh Arthur sein Ohr nicht. Er überlegte sich, für wen Foker jene Schmucksachen gekauft haben könnte, die er aus dem Juwelierladen forttrug. Weshalb schien Harry bestrebt, ihn zu vermeiden? Konnte er denn noch immer jener Neigung getreu sein, die ihn einst so tief erregt und ihn vor achtzehn Monaten in die Fremde getrieben hatte? Pah! Die Armbänder und Geschenke waren für einige von Harrys alten Freundinnen von der Oper oder dem Französischen Theater. Gerüchte von Neapel und Paris, Gerüchte, wie sie in den Rauchzimmern der Klubs herumgetragen werden, hatten verkündet, daß der junge Mann Zerstreuungen gefunden hätte, oder vielleicht hatte auch der arme Junge, dem seine tugendhafte Neigung verwehrt wurde, sich wieder unter seine alten Genossen und Genüsse gestürzt – nicht der einzige Mann oder die einzige Frau, die die Gesellschaft zum Bösen zwingt oder vom Guten absperrt, nicht das einzige Opfer der selbstsüchtigen und gottlosen Gesetze der großen Welt.

Da etwas Gutes, wenn es einmal getan werden soll, nicht zu schnell getan werden kann, so wünschte Laura eifrig, daß Pens Heiratsabsichten so bald als möglich zur Ausführung gebracht würden, und drängte ihn zu seinen Arrangements mit einer fast fieberhaften Hast. Warum konnte sie nur nicht warten? Pen konnte das mit großem Gleichmute, aber Laura wollte von 409 keinem Aufschub hören. Sie schrieb an Pen, sie bat ihn inständigst, sie benutzte jedes Mittel, die Ausführung zu beschleunigen. Es schien, als ob sie keine Ruhe finden könnte, bis Arthurs Glück vollständig wäre.

Sie bot der ›teuersten Blanche‹ an, zu ihr zu kommen und bei ihr in Tunbridge zu bleiben, wenn Lady Rockminster ihren beabsichtigten Besuch beim regierenden Hause von Rockminster machen sollte, und obschon die alte Gräfinwitwe schalt und befahl und gebot, war Laura doch taub und ungehorsam, sie müßte nach Tunbridge gehen, sie wollte nach Tunbridge gehen; sie, die gewöhnlich keinen eigenen Willen hatte und sich lächelnd in jedermanns Schrullen und Launen fügte, zeigte in diesem Fall die selbstsüchtigste und hartnäckigste Entschlossenheit. Die Gräfinwitwe mußte sich bei ihrem Rheumatismus selbst abwarten, sich selbst in Schlaf lesen, wenn sie ihr Kammermädchen nicht hören wollte, deren Stimme krächzte und die mit den sentimentalen Stellen in den Romanen erbärmlich umsprang. Laura mußte gehen und mit ihrer neuen Schwester zusammen sein. Von nächster Woche an wollte sie, wie sie mit vielen Grüßen und Ergebenheitsversicherungen an die liebe Lady Clavering schrieb, einige Zeit mit der ›teuersten Blanche‹ zubringen.

Die »teuerste Blanche« antwortete sogleich auf das Schreiben Nr. 1 der ›teuersten Laura‹, um ihr zu sagen, mit welchem Entzücken sie ihre Schwester willkommen heißen, wie bezaubernd es sein würde, ihre alten Duette wieder aufzuführen und miteinander über die grasbewachsenen Auen und durch die gelb werdenden Wälder von Penshurst und Southborough zu wandeln! Blanche 410 zählte die Stunden, bis sie ihre teuerste Freundin umarmen könnte.

Laura drückte in Nr. 2 ihr Entzücken über die liebevolle Antwort der teuersten Blanche aus. Sie hoffte, ihre Freundschaft würde sich nimmer vermindern, das Vertrauen zwischen ihnen würde in späteren Jahren wachsen, sie würden keine Geheimnisse mehr vor einander haben, das Lebensziel von ihnen beiden würde sein, einen glücklich zu machen.

Blanches Nr. 2 folgte nach zwei Tagen. »Wie außerordentlich schade! Ihr Haus wäre sehr klein, die beiden Gastbetten wären von jener gräulichen Frau Planter und ihrer Tochter in Beschlag genommen, die es für schicklich gehalten hätte, krank zu werden (sie würde bei Besuchen auf dem Lande allemal krank), und sie könnte oder wollte sich einige Tage nicht von der Stelle bewegen.«

Lauras Nr. 3: »Es wäre in der Tat ganz außerordentlich schade. Laura hätte gehofft, nächsten Freitag eines der lieben Liederchen der teuersten Blanche zu hören, aber sie tröste sich um so mehr, warten zu müssen, als Lady Rockminster nicht ganz wohl wäre und sich gern von ihr pflegen ließ. Der arme Major Pendennis wäre ebenfalls recht unwohl, und zwar in demselben Hotel – so unwohl, daß er nicht einmal Arthur sehen könnte, der sich beständig nach dem Befinden seines Onkels erkundigte. Arthurs Herz wäre voll Liebe und Zärtlichkeit. Sie hätte Arthur ihr ganzes Leben lang gekannt, sie würde zu vergelten suchen« – ja, da stand es sogar unterstrichen, zu vergelten suchen – »seine Freundlichkeit, seine Güte und seine Liebe.« 411

Blanches Nr. 3: »Was ist das für ein höchst überraschender, ganz außerordentlicher Brief von A. P.? Was weiß die teuerste Laura davon? Was hat sich zugetragen? Was, welches Geheimnis ist unter seiner furchtbaren Zurückhaltung verborgen?«

Blanches Nr. 3 verlangt eine Erklärung, und dieselbe kann nicht besser erteilt werden, als in dem überraschenden und geheimnisvollen Briefe von Arthur Pendennis selbst.

 


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