William M. Thackeray
Die Geschichte von Pendennis / Band 3
William M. Thackeray

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Erstes Kapitel

Ein kritisches Kapitel

Als Fanny die beiden Damen und die ängstliche Miene der älteren sah, die sie mit einem Blicke voll unbeschreiblicher Aufregung und Furcht anschaute, begriff das arme Mädchen sogleich, daß sie Pens Mutter vor sich hätte; es war eine Aehnlichkeit zwischen den verstörten Augen der Witwe und denen Arthurs, der sich in seinem Bette fiebernd herumwarf. Fanny blickte schüchtern auf Frau Pendennis und dann auf Laura; in dem Gesichte der letzteren war nicht mehr Ausdruck, als ob es eine Steinmasse gewesen wäre. Hartherzigkeit und Trauer sprachen sich in den Gestalten der beiden Neuangekommenen aus, keine von ihnen zeigte auch nur den leisesten Anschein von Erbarmen oder Mitleid für Fanny. Sie blickte verzweifelt von ihnen weg auf den Major hinter ihnen. Der alte Pendennis schlug seine Augen nieder, blickte aber trotzdem auf Arthurs arme kleine Wärterin verstohlen unter seinen Lidern hervor.

»Ich – ich schrieb Ihnen gestern, mit Erlaubnis, Madame,« sagte Fanny an allen Gliedern zitternd und so bleich wie Laura, deren trauriges drohendes Gesicht über Frau Pendennis' Schulter sah.

»So, Mamsell?« antwortete Frau Pendennis. »Ich glaube, ich darf Sie jetzt von der Abwartung meines Sohnes entbinden. Ich bin seine Mutter, verstehen Sie?« 2

»Ja, Madame. Ich – dies ist der Weg zu seinem – Oh, warten Sie eine Minute,« rief Fanny weinend aus. »Ich muß Sie vorbereiten auf seinen –« Die Witwe, deren Gesicht bis jetzt hoffnungslos grausam und unbarmherzig ausgesehen hatte, fuhr hier mit einem Keuchen und einem schwachen Schrei zurück, den sie schnell unterdrückte.

»Er ist seit gestern so,« sagte Fanny, die sehr zitterte und der die Zähne klapperten.

Ein entsetzliches Gelächter kam aus Pens Zimmer, dessen Tür offen stand, und nach mehrmaligem Gebrüll begann der arme Bursche ein Studententrinklied zu singen und dann Hurra zu schreien und zu toben, als ob er inmitten eines Weingelages wäre, und mit seiner Faust gegen die Zimmerbekleidung zu donnern. Er lag in völligem Delirium.

»Er kennt mich nicht, Madame,« sagte Fanny.

»So. Vielleicht wird er aber seine Mutter kennen; lassen Sie mich gefälligst vorbei und hinein zu ihm.« Und die Witwe schob hastig die kleine Fanny weg und schritt durch den dunklen Gang, der in Pens Wohnzimmer führte. Auch Laura segelte an Fanny ohne ein Wort vorüber, und Major Pendennis folgte ihnen. Fanny setzte sich auf eine Bank in dem Gange und weinte und betete, was sie nur konnte. Sie würde für ihn gestorben sein, und sie haßten sie! Sie hatten kein Wort des Dankes oder der Güte für sie, die feinen Damen! Sie saß dort auf dem Gange, sie wußte nicht, wie lange. Sie kamen nie heraus, um mit ihr zu sprechen. Sie saß dort, bis Doktor Goodenough seinen 3 zweiten Besuch an diesem Tage machte; er fand das arme Ding an der Tür.

»Na, Wärterin? Wie geht's deinem Patienten?« fragte der gutmütige Doktor. »Hat er etwas Ruhe gefunden?«

»Gehen Sie und fragen Sie sie. Sie sind drin,« antwortete Fanny.

»Wer? Seine Mutter?''

Fanny nickte mit dem Kopfe, aber sprach nicht.

»Du mußt auch zu Bett gehen, armes kleines Ding,« sagte der Doktor. »Du wirst auch noch krank werden, wenn du es nicht tust.«

»Oh, darf ich denn nicht mitkommen und ihn sehen, darf ich nicht mitkommen und ihn sehen? Ich – ich – hab' ihn so lieb,« antwortete das kleine Ding; und als sie so sprach, fiel sie nieder auf ihre Knie und umklammerte des Doktors Hand mit solcher Seelenangst, daß ihr Anblick das Herz des gütigen Arztes weich machte und sich ein Nebel über seine Brille legte.

»Bah, bah! Unsinn! Wärterin, hat er sein Tränkchen genommen? Hat er etwas Ruhe gehabt? Natürlich mußt du mitkommen und ihn sehen. Und ich auch.«

»Nicht wahr, Herr, Sie werden mich hier bleiben lassen? Ich bin so still, so still. Ich würde bloß um die Erlaubnis bitten, hierzubleiben,« sagte Fanny, worauf sie der Doktor ein dummes kleines Ding nannte, sie auf die Bank setzte, wo Pens Druckerjunge so manche Stunde gesessen hatte, ihre bleiche Wange mit seinem Finger klopfte und eilig in das weiter hinten gelegene Zimmer ging. 4

Frau Pendennis war bleich und ernst in einen großen Stuhl neben Pens Bett gesunken. Ihre Uhr lag auf dem Nachttischchen bei Pens Medizinflaschen. Ihr Hut und ihr Mantel lagen im Fenster. Sie hatte ihre Bibel auf ihrem Schoße, ohne die sie nie reiste. Ihre erste Bewegung, nachdem sie ihren Sohn gesehen, war die gewesen, Fannys Schal und Hut, die sich auf seiner Kommode befanden, wegzunehmen, hinauszutragen und auf seinen Studiertisch zu werfen. Sie hatte die Tür auch vor Major Pendennis und Laura geschlossen und von ihrem Sohne Besitz genommen.

Sie war in großer Furcht und Angst gewesen, daß Arthur sie nicht kennen würde; aber diese Beängstigung blieb ihr wenigstens zum Teil erspart. Pen kannte seine Mutter ganz wohl und lächelte und nickte ihr freundlich zu. Als sie hereinkam, bildete er sich sogleich ein, daß sie zu Hause in Fairoaks wären, und fing an, zu schwatzen und zu plappern und zu lachen in irrer toller Art. Laura konnte ihn draußen hören. Sein Lachen schoß vergiftete Pfeile in ihr Herz. Es war also wahr. Er war schuldig gewesen – und mit diesem Geschöpfe! – ein Verhältnis mit einem Aufwartemädchen; und sie hatte ihn geliebt – und er mußte höchstwahrscheinlich sterben – irrsinnig und ohne zu bereuen. Der Major murmelte dann und wann eine Bemerkung oder ein tröstendes Wort, das Laura kaum hörte. Es war ein trübseliges Beisammensein für alle Teile, und als Goodenough erschien, kam er wie ein Engel in das Zimmer.

Es ist nicht bloß für den Kranken, sondern auch für die Freunde des Kranken gut, wenn der Doktor kommt. 5 Seine Gegenwart ist für sie oft ebenso wohltätig wie für den Patienten, und sie sehnen sich nach ihm noch heftiger. Wie haben wir alle nach ihm ausgeschaut! Mit welcher Aufregung haben wir das Rasseln der Räder seines Wagens auf der Straße und endlich vor der Tür gehört! Wie hängen wir an seinem Munde, und was für einen Trost gibt uns ein Lächeln von ihm, wenn er uns diesen Sonnenschein zur Erhellung unserer finsteren Befürchtungen gewähren kann! Wer hat nicht die Mutter ihn flehentlich fragen sehen, ob Hoffnung auf Rettung des kranken Kindes vorhanden ist, welches nicht sprechen kann, das dort liegt, und dessen kleiner Körper mit dem Fieber kämpft? Oh, wie sie in seine Augen blickt! Welcher Dank, wenn es licht darinnen ist, welcher Kummer und Jammer, wenn er sie niederschlägt und nicht zu sagen wagt »hoffe!« Oder es ist der Hausvater, der von der Krankheit niedergestreckt ist. Das geängstete Weib sieht zu, während der Arzt den Puls des Patienten befühlt und ihre Angst zu beschwichtigen sucht, und den Kindern gesagt worden ist, ihr Spielen und Reden bleiben zu lassen. Ueber dem fiebernden Kranken, der erwartungsvollen Gattin, den unbewußten Kindern steht der Doktor, als ob er das Schicksal, der Verschenker von Leben und Tod wäre, er muß den Patienten diesmal davonkommen lassen; die Frau bittet gar so sehr um seine Rettung! Da kann man sich vorstellen, wie furchtbar groß die Verantwortlichkeit für einen gewissenhaften Mann sein muß; wie peinvoll das Gefühl, daß er nicht das rechte Heilmittel gegeben hat, oder daß es möglich gewesen wäre, es besser zu machen; wie entsetzlich die Teilnahme 6 an dem Geschicke der Ueberlebenden, wenn der Fall unglücklich abgelaufen ist – wie unermeßlich die Wonne des Sieges über die Krankheit!

Nachdem der Doktor in aller Eile die neuen Ankömmlinge sich hatte vorstellen lassen, deren Ankunft er durch die tiefbetrübte kleine Wärterin draußen erfahren, machte er sich sogleich an die Untersuchung des Kranken, der, wie keinem Zweifel unterworfen war, sich im Stadium der höchsten Fieberhitze befand, und bei dem der Arzt es für nötig hielt, die stärksten antiphlogistischen Mittel anzuwenden, die in seiner Macht standen. Er tröstete die unglückliche Mutter, so gut er's vermochte; und nachdem er ihr die tröstlichsten Versicherungen gegeben, die er zu geben wagen konnte, daß jetzt noch kein Grund zur Verzweiflung vorhanden wäre, daß man noch alles von seiner Jugend, der Stärke seiner Körperkonstitution usw. hoffen könnte; und nachdem er sein Aeußerstes getan, die entsetzliche Angst der erschrockenen Matrone zu beschwichtigen, nahm er den älteren Pendennis beiseite in das leere Zimmer (Warringtons Schlafzimmer), um mit ihm eine kleine Besprechung zu halten.

Der Fall war sehr kritisch. Das Fieber könnte und würde, wenn ihm nicht Einhalt getan würde, den jungen Menschen umbringen; es müßte ihm sogleich zur Ader gelassen werden, die Mutter müßte von dieser Notwendigkeit in Kenntnis gesetzt werden. Warum sie die andere junge Dame mit sich gebracht hätte? Sie wäre nicht am rechten Orte in einem Krankenzimmer.

»Und da ist noch ein anderes Frauenzimmer, beim Henker,« sagte der Major, »die – die kleine Person, 7 die die Tür öffnete. Seine Schwägerin hätte Hut und Schal des armen kleinen Dings herausgebracht und auf den Studiertisch geworfen. Wußte Goodenough etwas von der – der kleinen Person? Ich kriegte nur so 'nen Blick von ihr weg, als wir eintraten,« sagte der Major, »und, weiß Gott, sie sah außerordentlich niedlich aus.« Der Major machte ein wunderliches Gesicht, der Doktor lächelte – mitten in den ernstesten Augenblicken, wo das Zünglein der Wagschale auf Tod wie auf Leben zeigen kann, pflegen solche sonderbaren Kontraste und Gelegenheiten zum Humor sich zu ergeben, und pflegt solch ein Lächeln über das Antlitz zu gehen, um die Betrübnis zu verspotten und sie noch betrübter zu machen!

»Ich habe es,« sagte er zuletzt, wieder in das Studierzimmer tretend, und er schrieb hastig zwei Billets am Tische dort und versiegelte eines davon. Dann nahm er der armen Fanny Schal und Hut und die Billets, ging auf den Gang hinaus zu diesem armen kleinen Boten und sagte: »Schnell, Wärterin, du mußt dies hier zum Wundarzte tragen und ihn gleich auf der Stelle kommen heißen, und dann gehe in mein Haus, frage nach meinem Diener Harbottle und sage ihm, er sollte dieses Rezept machen, und warte, bis ich – bis es fertig ist. Die Zubereitung kann ein Weilchen dauern.«

So trabte denn die arme Fanny mit ihren beiden Billets ab und fand den Wundarzt, der nahebei am Strand wohnte und spornstreichs herbeikam, die Lanzette in der Tasche, um an seinem Patienten zu operieren; dann ging Fanny nach des Doktors Haus in Humoves Square. 8

Der Doktor war wieder zu Hause, ehe das Rezept gemacht wurde, das Harbottle, seinen Diener, so lange Zeit in Anspruch nahm; und solange Arthurs Krankheit noch dauerte, erschien die arme Fanny nicht wieder in der Eigenschaft einer Wärterin in seiner Wohnung. Aber an diesem und an dem nächsten Tage konnte man an Pens Treppe eine kleine Gestalt verstohlen herumschleichen sehen, ihr trauriges kleines Gesicht sah den Wundarzt an und befragte ihn und den Lehrburschen desselben und die Aufwärterin und den guten Arzt selbst, als sie aus der Wohnung des Kranken kamen. Und am dritten Tage hielt der Wagen des guten Doktors in Shepherds Inn, und der gute, wackere, wohlwollende Mann ging in die Portierswohnung und besuchte eine kleine Patientin, die er dort hatte und für die er die beste Medizin an dem Tage fand, wo er imstande war, Fanny Bolton zu berichten, daß die Krisis vorüber und endlich alle Hoffnung wäre, Arthur Pendennis zu erhalten.

Jack Costigan, Esquire, einst in Diensten Ihrer Majestät, sah des Doktors Wagen und kritisierte seine Pferde und sein Geschirr. »Grüne Livreen, sapperlot!« sagte der Kapitän, »und ein so schönes Paar stolzer Grauschimmel, wie sie nur ein hochgeborener Herr sich wünschen kann, geschweige denn so ein Doktor. Der Hochmut und die Anmaßung von diesen Doktors nimmt heutzutag kein Ende – aber der hier ist ein guter und wissenschaftlich gebildeter Mann und ein sehr guter Mensch, weiß Gott; und er hat das arme kleine Mädchen glücklich durch ihr Fieber gebracht, Bows, mein Junge!« und Herr Costigan war mit des Doktors 9 Benehmen und Geschicklichkeit so zufrieden, daß er künftig, wenn er des Doktors Kutsche begegnete, es sich stets zur Aufgabe stellte, sie und den Doktor drin zu grüßen, und zwar in einer so höfischen und prächtigen Weise, als ob Dr. Goodenough der Lordleutnant selbst und Kapitän Costigan in seiner Glorie im Phönixpark zu Dublin gewesen wäre. Die Dankbarkeit der Witwe gegen den Doktor kannte keine Grenze – oder wenigstens kaum eine Grenze. Der gute Herr lachte über die Idee, sich von einem Schriftsteller oder der Witwe eines Kollegen ein Honorar zahlen zu lassen, und sie beschloß, wenn sie nach Fairoaks zurückkam, Goodenough die silbervergoldete Vase, das Kleinod des Hauses und den Stolz des seligen John Pendennis, zu senden, die in grünem Wollenstoffe aufbewahrt wurde, und ihm zu Bath von der Lady Elisabeth Firebrace, bei der Genesung ihres Sohnes, des seligen Sir Anthony Firebrace, vom Scharlachfieber verehrt worden war. Hippokrates, Hygilia, König Bladud und ein Kranz von Schlangen befinden sich noch heutigen Tages auf dem Becher, der von den Herren Abednego in Milsom Street in ihrer schönsten Manier ausgeführt war, während die Inschrift von Herrn Birch, dem Hauslehrer des jungen Baronets, herrührte.

Dieses unschätzbare Kunstwerk beschloß die Witwe, Goodenough, dem Erhalter ihres Sohnes, zu weihen, und es gab kaum noch einen anderen Gefallen, den ihre Dankbarkeit ihm nicht erwiesen haben würde, ausgenommen einen, den er gerade am meisten wünschte, und der darin bestand, daß sie ein wenig barmherziger und freundlicher von der armen Fanny denken möchte, 10 von deren ungekünstelter trauriger Geschichte er während seiner Besuche bei ihr manches erfahren hatte, und über die er sehr gut zu denken geneigt war, – wenn auch durchaus nicht geneigt, von Pen wegen seines Verhaltens bei der Sache sehr eingenommen oder unwissend darüber zu sein, wie sein Benehmen gewesen war. Er wußte jedoch genug, um sich klar darüber zu sein, daß das arme betörte kleine Mädchen bis jetzt ohne Flecken war, daß sie in Pens Zimmer gewesen war, weil sie geglaubt hatte, ihn das letztemal zu sehen, und daß Arthur kaum ihrer Gegenwart gewahr geworden war, und daß sie unter dem tiefsten und erbarmungswertesten Kummer litt, wenn sie daran dachte, ihn tot oder lebendig zu verlieren.

Aber bei einigen Gelegenheiten, wo Goodenough die Rede auf Fanny lenkte, nahmen die Züge der Witwe, sonst immer sanft und mild, einen so grausamen und unerbittlichen Ausdruck an, daß der Doktor einsah, es wäre umsonst, bei ihr um Gerechtigkeit oder Mitleid zu bitten, und alles Bitten und Vorstellen sein ließ und aufhörte, irgendwie noch weitere Anspielungen auf seine kleine Klientin zu machen. Es gibt ein Uebel, welches weder Mohn nach Mandragora noch alle einschläfernden Syrupe des Morgenlandes, die, wie wir von einem volkstümlichen Dichter aus den Tagen Elisabeths belehrt werden, die Männer seiner Zeit beruhigen konnten, und welches, wenn es in Frauen ausbricht, keine spätere medizinischen Entdeckungen und keine in der Folgezeit aufgenommene Behandlung, weder Homöopathie noch Hydropathie noch Mesmerismus noch Doktor Simpson noch Doktor Locrock 11 kurieren können, und das ist – wir wollen es nicht Eifersucht nennen, sondern es bei Damen mild mit Nebenbuhlerschaft und Streben, auf gleiche oder größere Weise geliebt zu werden, bezeichnen.

Manche von jenen boshaften und prosaischen Leuten, die dem Romanschreiber bei jeder Kleinigkeit nachtifteln und nachrechnen, und, zum Beispiel, zu wissen wünschen, wie, wenn die Personen in dieser kritischen Lage vor unaufschließbarer Türe, die gezogenen Dolche an ihren Kehlen, sich befinden, dieselben aus dieser mörderischen Verwicklung der Umstände herauszubringen sind, können sich zu der Frage veranlaßt fühlen, wie es möglich war, daß in einer Mietswohnung im Tempel, die aus drei Zimmerchen, zwei Räumen für Speiseschränke, einem Gange und einem Kohlenbehältnisse bestand, die folgenden Personen u. a. m. Unterkommen finden konnten:

Die Antwort ist sogleich gegeben, indem fast jedermann im Tempel aus der Stadt ausgeflogen, und in 12 Pens Hause in Lamb Court kaum ein einziger Bewohner war, ausgenommen diejenigen, die um das Krankenbett des siechen Gentleman beschäftigt waren, über dessen Fieber wir keinen in die Länge gehenden Bericht gegeben haben, wie wir uns auch über das erfreuliche Thema seiner Genesung nicht zu sehr verbreiten wollen.

Jedermann, haben wir gesagt, war aus der Stadt ausgeflogen, und so konnte man natürlich von einem solchen Modeherrn, wie der junge Herr Sibwright, der auf Pens Treppe eine Wohnung im zweiten Stocke innehatte, nicht vermuten, daß er in London zurückgeblieben wäre. Frau Flanagan, die Aufwärterin von Herrn Pendennis, war mit Frau Ronney bekannt, die bei Herrn Sibwright aufwartete, und so wurde das Schlafzimmer dieses Herrn für Fräulein Bell eingerichtet oder auch für Frau Pendennis, wenn die letztere geneigt sein sollte, das Krankenzimmer ihres Sohnes zu verlassen, um zu versuchen, für sich selbst ein wenig Ruhe zu finden.

Wenn jener junge Stutzer, die Blüte der Baker Street, Percy Sibwright, gewußt haben würde, wer der Inhaber seines Schlafzimmers war, wie stolz würde er auf dieses Gemach gewesen sein! – Welche Gedichte würde er auf Laura geschrieben haben! (Mehrere seiner Dichtwerke sind in den Jahrbüchern erschienen oder existieren im Manuskript in den Albums der Herren und Damen vom Adel) – er hatte in Camford studiert und, wie es hieß, beinahe den Sieg mit dem englischen Preisgedichte erlangt – Sibwright indes war abwesend und sein Bett Fräulein Bell überlassen. Es war das hübscheste kleine Messingbett der Welt, 13 mit Spitzenvorhängen, die mit rosa Stoff gefüttert waren; er hatte Blümchen an seinem Schlafzimmerfenster, und der bloße Anblick seiner kleinen Ausstellung von Lackstiefeln, die in schmucken Reihen auf seinem Kleiderschranke geordnet standen, war ein Genuß für den Beschauer. Er hatte auch ein Museum von Parfüms, Pomaden und Bärenfettbüchsen, höchst wundersam anzusehen, und eine ausgewählte Sammlung weiblicher Porträts, fast alle in Trauer versunken und gewöhnlich verkleidet oder halb entkleidet, glitzerte an den saubergehaltenen Wänden seines eleganten kleinen Ruhesitzes. Medora mit aufgelöstem Haar tröstete sich mit ihrem Banjo über die Abwesenheit ihres Conrad – die Prinzessin Fleur de Marie (von Rudolatein und den Geheimnissen von Paris) schaute trauervollen Blickes durch die Eisenstäbe ihres klösterlichen Käfigs, in dem sie, das arme gefangene Vöglein, dahinwelkte – Don Quixotes Dorothea wusch ihre unsterblichen Füße – kurz, es war eine so elegante Galerie, wie sie sich für einen galanten Liebhaber des Geschlechts schickt. Und in Sibwrights Wohnzimmer befand sich, während daselbst eine noch ganz in der Kindheit begriffene Bibliothek von juristischen Büchern, gekleidet in die frische Haut ebengeborener Kälber, vorhanden war, eine ziemlich große Anzahl klassischer Schriften, die er nicht lesen konnte, und englischer und französischer Werke in Poesie und Fiktion, die er viel zu fleißig las. Seine Einladungskarten von vergangener Saison schmückten noch immer seinen Spiegel, und kaum irgend etwas verriet den Advokaten, als die Perückenschachtel neben der Venus auf dem mittelsten Brette seines 14 Bücherrepositoriums, auf welcher der Name P. Sibwright, Esquire, in Goldschrift zu lesen war.

Zusammen mit Sibwright hatte ein Herr Baugham die Wohnung inne. Herr Baugham war ein Sportsmann, der mit einer reichen Witwe verheiratet war. Herr Baugham hatte keine Praxis, kam das Vierteljahr nicht dreimal in die Wohnung, machte Geschäftsreisen aus jenen geheimnisvollen Ursachen, welche Leute zu Geschäftsreisen bestimmen; und sein Zimmer diente Herrn Sibwright zu großer Bequemlichkeit, wenn dieser junge Herr seine kleinen Schmäuschen gab. Es muß eingestanden werden, daß diese beiden Herren mit unserer Geschichte nichts zu tun haben und wahrscheinlich nie wieder darin auftauchen werden, aber wir können nicht umhin, einen Blick durch ihre Türen zu werfen, da sie zufällig offenstehen und wir an ihnen nach Pens Stuben vorbeigehen müssen, gerade so, wie wir im Verfolg unserer eigenen Geschäfte im Leben auf dem Wege über den Strand, zum Klub, ja selbst zur Kirche nicht umhin können, in die Läden am Wege oder auf unseres Nachbars Diner oder auf die Gesichter unter den Damenhüten im nächsten Betstuhl zu gucken.

Sehr viele Jahre nach den Verhältnissen, mit denen wir gegenwärtig beschäftigt sind, gestand Laura mit Erröten und einem Lachen, das viel Humor zeigte, daß sie einen französischen Roman, der damals viel Aufsehen gemacht, gelesen hätte, und als ihr Gatte sie verwundert fragte, wo in aller Welt sie solch ein Buch herbekommen hätte, gab sie zu, daß es im Tempel gewesen, wo sie in Percy Sibwrights Wohnung gelebt hätte. 15

»Desgleichen habe ich nie gestanden,« sagte sie, »was ich jetzt ebenfalls beichten muß, daß ich nämlich bei derselben Gelegenheit die japanische Schachtel aufmachte und jene wunderlich aussehende Perücke herausnahm, die darin war, sie aufsetzte und mich damit im Spiegel besah.«

Nun stelle man sich vor, daß Percy Sibwright in solch einem Moment wie dieser gekommen wäre! Was würde er gesagt haben, – der entzückte Schlingel? Was würden all die Bilder verkleideter Schönheiten in seinem Zimmer gewesen sein, verglichen mit dieser lebendigen? Ach, wir sprechen von alten Zeiten, wo Sibwright ein Junggeselle war, ehe er Gesellschaftsrat wurde, wo die Leute jung – wo die meisten Leute jung waren. Andere Leute sind jetzt jung, aber wir sind es nicht mehr.

Als Fräulein Laura sich diesen Spaß mit der Perücke machte, konnte Pen oben unmöglich noch sehr krank sein, sonst würden allgemeines Schicklichkeitsgefühl und Anstand, wenn sie auch dahin gekommen wäre, noch so wenig teil an ihm zu nehmen, sie daran verhindert haben, Faxen zu machen oder Verkleidungen zu probieren.

Aber allerhand Ereignisse hatten sich im Verlaufe der letzten paar Tage zugetragen, die ihre Lustigkeit vermehrten oder sie rechtfertigten, und eine kleine Kolonie von den alten Freunden und Bekanntschaften des Lesers war inzwischen in Lamb Court, Tempel und um Pens Krankenbett gegründet worden. Zuerst war Martha, die Dienstmagd der Frau Pendennis, aus Fairoaks eingetroffen, von wo sie durch den Major 16 hergerufen war, der mit Recht dachte, daß ihre Gegenwart ihrer Herrin und ihrem jungen Herrn angenehm und nützlich sein würde, indem keiner von beiden das stete Zusammensein mit Frau Flanagan (welche während Pens Krankheit mehr als je spirituöser Herzstärkung bedurfte) erquicklich sein konnte. Martha erschien also zu rechter Zeit, um Frau Pendennis aufzuwarten, und diese Dame ging eher auch nicht einmal zu Bett, als bis die treue Dienerin bei ihr angekommen war, wohin sie mit einem Herzen voll mütterlicher Dankbarkeit ging und sich auf Warringtons Strohmatratze und unter seine mathematischen Bücher legte, wie bereits beschrieben ist.

Es ist wahr, daß schon vor diesem Tage eine große und freudige Veränderung in Pens Befinden stattgefunden hatte. Das Fieber, bezwungen von Dr. Goodenoughs Pflastern, Tränkchen und seiner Lanzette, hatte den jungen Mann verlassen, oder kehrte doch nur dann und wann in schwachen Anfällen zurück; seine irre umherwandernden Sinne hatten in seinem geschwächten Gehirn einen Ruhepunkt gefunden, er hatte Zeit gehabt, seine Mutter zu küssen und zu segnen, daß sie zu ihm gekommen, und nach Laura und seinem Onkel zu rufen (die nach ihrer beiderseitigen Natur beide von seinem totenbleichen Aussehen, seinen mageren zusammengefallenen Händen, seinen tiefliegenden Augen, seiner hohlen Stimme und seinem Gesicht mit dem dünnen Barte ergriffen waren), um ihnen die Hände zu drücken und innigst zu danken; und nach dieser Begrüßung und nachdem sie von seiner liebevollen Wärterin aus dem Zimmer gewiesen waren, war er in einen 17 köstlichen Schlaf gesunken, der etwa sechzehn Stunden gedauert hatte, worauf er erwachte und rief, daß er hungrig wäre. Wenn es schlimm ist, krank zu sein und Ekel vor aller Nahrung zu empfinden, oh, wie herrlich ist es dann, zu genesen und sich hungrig – und wie hungrig zu fühlen! Ach, die Wonnen der Genesung werden schwächer mit den zunehmenden Jahren, gerade wie andere Freuden – und dann – und dann kommt jene Krankheit, wo man überhaupt nicht wieder genest.

An dem Tage dieses glücklichen Ereignisses kam noch eine zweite Persönlichkeit in Lamb Court an. Dieselbe wurde in der Wohnstube Pen-Warringtons durch gewaltige Wolken von Tabaksrauch angemeldet – den Rauchwolken folgte ein Individuum mit einer Zigarre im Munde und einem Reisesack unterm Arm – das war Warrington, der von Norfolk zurückgeeilt war, als Herr Bows fürsorglich an ihn schrieb, um ihn von seines Freundes Unglück zu benachrichtigen. Aber er war auswärts gewesen, als Bows Brief seines Bruders Haus erreicht hatte – die östlichen Grafschaften konnten sich damals noch keiner Eisenbahn rühmen (denn wir bitten den Leser, daran denken zu wollen, daß wir Anachronismen nur da begehen, wo wir Lust haben und wo durch eine kühne Verletzung jener Naturgesetze irgendeine große sittliche Wahrheit vorwärts zu bringen ist) – kurz, Warrington erschien erst mit den übrigen Glücksfällen am Morgen nach dem glücklichen Tage, von dem man sagen kann, daß Pens Genesung an ihm begonnen habe.

Sein Erstaunen war am Ende nicht sehr groß, als 18 er die Wohnung seines kranken Freundes besetzt und seinen alten Bekannten, den Major, gravitätisch in einem Lehnstuhl sitzen sah (Warrington hatte sich mit seinem Hausschlüssel selbst in die Wohnung eingelassen), wie er einer jungen Dame, die ihm ein Stück von Shakespeare mit gedämpfter wohlklingender Stimme vorlas, zuhörte oder wenigstens so tat. Die Dame hielt inne, fuhr in die Höhe und legte ihr Buch bei der Erscheinung des hochgewachsenen Reisenden mit der Zigarre und dem Reisesacke nieder. Er errötete, warf die Zigarre in den Gang, nahm seinen Hut ab und warf ihn gleichfalls hin, und indem er auf den Major zuging, ergriff er die Hand dieses alten Gentleman und fragte ihn über Arthur aus.

Der Major antwortete mit zitternder, obwohl fröhlicher Stimme – es war wunderbar, wie die Gemütsbewegung ihn alt gemacht zu haben schien – und gab Warringtons Händedruck mit bebender Hand zurück, erzählte ihm das neueste, was sich begeben – von Arthurs glücklich abgelaufener Krisis – seiner Mutter Ankunft – mit ihrer jungen Pflegebefohlenen – mit Fräulein –

»Sie brauchen mir ihren Namen nicht zu nennen,« sagte Herr Warrington sehr lebhaft, denn er war froh und heiter gestimmt durch den Gedanken an seines Freundes Genesung. – »Sie brauchen mir ihren Namen nicht zu nennen. Ich wußte sofort, daß es Laura war.« Und er hielt ihr seine Hand hin und ergriff die ihrige. Unendliche Güte und Zärtlichkeit strahlte unter seinen rauhen Augenbrauen hervor und ließen seine Stimme erbeben, als er sie erblickte und zu ihr sprach. 19

»Und dies ist also die Laura!« schienen seine Blicke zu sagen. »Und dies ist also der Warrington,« schlug das Herz des edlen Mädchens zur Erwiderung. »Arthurs Held – der brave und gute – er ist hundert Meilen weit hergekommen, ihm beizustehen, als er von seines Freundes Unglück hörte!«

»Ich danke Ihnen, Herr Warrington,« war jedoch alles, was Laura sagte; und als sie den freundlichen Druck seiner Hand erwiderte, errötete sie so sehr, daß sie froh war, die Lampe hinter sich zu haben, um ihr mit Purpur übergossenes Gesicht zu verbergen.

Als diese beiden in dieser Stellung sich gegenüberstanden, wurde die Tür von Pens Schlafkammer leise, wie es seiner Mutter Gewohnheit war, geöffnet, und Warrington sah eine andere Dame, die ihn zuerst anblickte und sich dann nach dem Bette umwandte, »Pst!« sagte und ihre Hand aufhob.

Es war Pen, dem Helene sich zuwendete und den sie sich in acht zu nehmen ermahnte. Er rief mit schwacher, zitternder, aber lustiger Stimme aus: »Komm 'rein, Haupthahn – komm 'rein, Warrington. Ich wußte, daß du es warst – an dem – an dem Rauch, mein alter Junge,« sagte er, indem er ihm seine abgezehrte Hand hinhielt und mit Tränen der Schwäche und zugleich der Freude in den Augen seinen Freund begrüßte.

»Ich – ich bitte um Verzeihung, Madame, daß ich rauchte,« sagte Warrington, der jetzt wohl zum erstenmal über seinen gottlosen Hang dazu errötete.

Helene sagte nur: »Gott segne Sie, Herr Warrington!« Aber sie war so glücklich, sie hätte Georg 20 gleich küssen mögen; dann, und nachdem die Freunde eine sehr sehr kurze Unterredung gehabt hatten, schickte die überglückliche, aber unerbittliche Mutter, indem sie Warrington die Hand gab, denselben ebenfalls hinaus aus der Stube zu Laura und dem Major, die ihr Stück »Cymbeline« nicht wieder aufgenommen hatten, wo sie es bei der Ankunft des rechtmäßigen Inhabers von Pens Wohnung verlassen hatten.



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