Rudolph Stratz
Montblanc
Rudolph Stratz

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19.

Erst ging er vor dem Hotel auf und ab, wo es jetzt still und einsam wurde, dann den Kai entlang, über eine Brücke, unter der die durchsichtigen Fluten des Stromes hinschossen, an einem mit Blumenbosketts umgebenen Denkmal vorbei, in eine Straße hinein ... er wußte selbst nicht wohin, er wußte kaum mehr, in welcher Stadt er sich befand. Es war ja alles gleich. Alles vorbei. Sie hatte recht: wer die weite Welt gewohnt ist, verträgt die enge Hütte nicht mehr. Wer auf den Höhen der Erde geatmet hat, geht in der Stubenluft zugrunde.

Aber wenn sie recht hatte – was dann? Er begriff nicht, wie die Zukunft dann werden sollte. Er sah in sie hinein wie in eine dunkle Nacht voll unheimlichen Grauens, in der alles, was bisher um ihn war, hinschwand und verschwommenen, wesenlos dräuenden Gebilden Platz machte.

Sich totschießen? Das war leicht gesagt. Aber ein Gefühl der Kraft und des Zornes wuchs sofort mächtig dagegen in ihm auf. Es war nicht nur der Selbsterhaltungstrieb des lebenden, atmenden Wesens, es war mehr noch der Trotz des Kämpfers, der überall auf der Erde mit der Vernichtung in jeder Form Brust an Brust gerungen hatte und immer wieder ihren Krallen entschlüpft war. Und jetzt sich ihr wehrlos hingeben, sich selbst besiegt erklären und selbst das Urteil vollstrecken? Nein, ihm ekelte bei dem Gedanken. Das war feige, war klein und häßlich ...

Er blieb stehen und sah um sich, wo er sich eigentlich befand. Zufällig fiel sein Auge auf ein Schild an der Haustür nebenan. Es war der Name eines Arztes und seine Sprechstunden.

Ein Gedanke durchzuckte ihn. Wovon machte er denn eigentlich sein ganzes Schicksal abhängig? Von dem Ausspruch eines ihm weltfremden Doktors irgendwo da unten an der Riviera, der ihn einmal eine Viertelstunde in der Dämmerung flüchtig untersucht! Wenn er sich geirrt hatte? Unfehlbar war er doch jedenfalls sowenig wie irgendein anderer Mensch, wennschon er seiner Sache sicher zu sein schien. Denn sonst hätte er ihm wohl nicht gesagt, er möge, wenn er noch zweifle, irgendwo einen beliebigen Kollegen nochmals um Rat fragen.

Wenn der Kollege nun lachte? Ihm sagte: »Verehrtester ... der gute Mann in Nizza ist ein Schwarzseher, an die verzärtelten Besucher der Riviera gewöhnt! Bei einem Mann wie Ihnen steht die Sache gar nicht so schlimm?« – Er dachte den Gedanken gar nicht zu Ende, sondern stieg die Treppe hinauf und ließ sich bei dem Doktor melden, als ein Durchreisender, der die übliche Sprechzeit nicht innehalten könne.

Der Arzt empfing ihn denn auch sofort und tat seine Pflicht. Er war ein höflicher Franzose. Sein Worte klangen gefälliger und schonender als die des Schweizer Doktors in Nizza, aber ihr Sinn war derselbe, genau derselbe.

»Es ist da wenig zu machen, mein Herr!« sagte er mit seiner einschmeichelnden, wie geölten Stimme und lächelte, daß über dem dunklen Spitzbart die Zähne blitzten. »Sie müssen sich durchaus schonen! Mein Gott ... man lebt immerhin! Man gewöhnt sich daran und bescheidet sich. Es braucht ja nicht jeder auf den Montblanc zu steigen!«

Der Fremde sah ihn an. »Wie kommen Sie gerade auf den Montblanc?«

»Warum nicht? Der Montblanc ist ja hier für uns das Nächstliegende! Wir leben ja gewissermaßen mit ihm! Wir sehen ihn jeden Abend, wenn das Wetter klar ist. Unsere schönste Straße ist nach ihm benannt. Er ist für uns gewissermaßen der Gipfel der Dinge. Eine Art Gleichnis! Wenn ich meinen Patienten sage:›Auf den Montblanc können Sie natürlich nicht mehr gehen!‹ so heißt das eben: ›Sie müssen jede große körperliche und geistige Anstrengung vermeiden.‹ Denn daß die Besteigung des Montblanc eine solche ist ...«

»Ich weiß! Ich war schon zweimal oben.«

»Nun sehen Sie ...« Der Arzt versuchte zu scherzen. »Da ist das also schon gar keine Entbehrung mehr für Sie! Denn ein drittes Mal hätten Sie es ja doch wohl nicht getan!«

»Und wenn ich es nun doch unternehmen würde?«

»Jetzt? So, wie sie jetzt sind?«

»Ja.«

Der höfliche Arzt zuckte die Achseln. »Es ist Selbstmord, mein Herr! Sie würden lebend nicht wieder herunterkommen!«

»Woraus schließen Sie das?«

»Mein Herr! Das Bergsteigen auf fast fünftausend Meter Höhe, zumal in jener ganz dünnen Luft, wie sie da oben herrscht, erfordert, wie Sie selbst ja wissen müssen, eine äußerste Anstrengung des Herzens. Der sind Sie nicht mehr gewachsen.«

»Und was würde erfolgen?«

»Mein Herr, Sie würden plötzlich niederstürzen, und in wenigen Minuten wäre durch einen innerlichen Bluterguß alles zu Ende.«

Der Afrikaner hatte sich erhoben. »Und wenn das nun nicht geschähe?« sprach er finster lächelnd, » ...und ich käme ganz wohlbehalten wieder unten an ... was würden Sie dann sagen?«

»Ich würde sagen,« der Franzose begleitete seinen Patienten bis zur Tür, »daß zuweilen auch Wunder vorkommen. Und das ist dann eben eines!«

»Also Sie glauben doch an Wunder?«

»Ich muß, mein Herr! Denn es gibt Naturen, die Unbegreifliches aushalten. Wie ja auch Tiroler Bergsteiger Gaben von Arsenik ungestraft verschlucken, die jeden anderen töten. Vielleicht sind Sie solch ein Mensch. Ich weiß es nicht. Aber annehmen darf ich es als Arzt nicht. Mein Herr ... ich habe die Ehre ...«

*

Er hatte wieder die Richtung nach dem Hotel eingeschlagen und ging den Quai du Montblanc entlang. In einer seltsamen Stimmung. Eigentlich gleichgültig, beinahe heiter, daß nun wenigstens alles entschieden war, daß nun keine neuen Hoffnungen, Zweifel und Nöte im Nachtdunkel der Zukunft lauern konnten, und doch voll von einem sehnenden Bangen, das er sich selbst nicht zu erklären vermochte.

Er blieb am Wege stehen und starrte auf die im letzten Abendschein glitzernde Seefläche. Wieder hatte er die rätselhafte Empfindung, mitten auf einem großen, unendlich großen und vielfarbigen Maskenball zu sein, der doch einmal ein Ende nehmen mußte, wenn die Nacht auf Schattensohlen heranschlich, die Nacht, die fern im Osten schon in dem Abendgewölk über dem Horizont brütete. Und es war gut, wenn es zu Ende ging! Es war doch alles klein umher und abgeschmackt und nutzlos. Es lohnte nicht den vielen Lärm und all die Mühen, mit denen das Leben der Millionen sich abhaspelt, kommend und gehend, in rastlosem Spiel wie die Wellen am Strand.

Aber wie das Ende sein sollte – das wußte er nicht. Wie auch die Gedanken in seinem Kopf sich kreuzten – er fand keinen Ausweg für einen Menschen, der nicht sterben will und nicht leben kann, wenigstens nicht so in Größe sterben oder nicht so aus dem Vollen leben, wie es sein ganzes Wesen verlangte.

In verlorenem Sinnen blickte er über den See und die Stadt dahin und trat plötzlich betroffen einen Schritt zurück, während ein ungläubiges Lächeln sein Gesicht überlief.

Die Wolken fern am Horizont des Ostens hatten sich geteilt. Ein Stück blaßblauer Abendhimmel war sichtbar geworden, und in ihm stand, geisterhaft, wolkenähnlich und doch durch ihren schneeigen Schimmer von ihnen geschieden, eine feierliche weiße Welt von ragenden Zinnen und blendenden Wällen. Eine Märchenwelt über den Wolken, die ihren Fuß umspielten, über der Erde, die um sie im Dämmergrauen versank, ein Gebilde der Ewigkeit, voll ewiger Schönheit und Ruhe, wie aus unermeßlicher Ferne zwischen den zur Seite rollenden Dunstschleiern grüßend.

Kein Abendglühen verklärte die bleiche Majestät des Montblanc. Weiß in Weiß stand seine Pracht, kalt und streng und doch zur Andacht mahnend, den Blick nach oben wendend, zu jenen welterhabenen Höhen empor, wo die Himmelswölbung mit der Eiskrone des Bergkönigs sich zu berühren schien.

Und während das Auge des einsamen Beschauers, sich unwillkürlich feuchtend, die alte Herrlichkeit wiedersah, klang, als ein Widerhall vor Stunden gehörter Worte, in seinem Ohr eine helle, tröstende Mädchenstimme: »Ihr Blick gehört nach oben! Sie gehören hinauf in die Höhen!«

Exzelsior! Hinauf zu den ewigen Höhen, zu denen den Jüngling schon ein fanatischer Drang getrieben, auf denen sich die Brust des Mannes noch im Sonnenstrahl geweitet, wenn unten im Tal schon die schläfrige Nacht ihre grauen Fäden zog, hinauf in die Welt, die gewaltig ist in Schönheit und Leiden, dem Lebenden Mark und Kraft verleihend, dem Sterbenden den Tod verklärend durch ihre Größe!

»Eine Besteigung des Montblanc ist für Sie ein Selbstmord!« hatte der Arzt gesagt. Er lachte zornig auf. Woher wußte der Mann denn das? Kannte er denn den Fremden, der bei ihm eingetreten war? Der war anders wie die anderen. Der hatte schon zweimal das Firndiadem des Eisriesen unter seinem Fuße knirschen gefühlt. Warum sollte er ihn nicht zum drittenmal bezwingen?

Und wenn das geschah, dann kehrte er in alter Kraft und altem Selbstvertrauen zurück! Dann war eben das Wunder geschehen, das der Doktor selbst für möglich gehalten, und alles gut!

Freilich, die Zeit der Wunder ist vorbei. Aber blieb es aus – auch recht! Dann erlag er in ehrlichem Kampf mit dem Gewaltigsten, was es in Europa gibt, besiegt von dem Koloß, den er selbst zuvor gedemütigt. Dann ging er hin, wie er gelebt hatte, weit über allem Kleinen und Niedrigen, in männlichem Kampf um das höchste Ziel.

Er atmete plötzlich leicht. Schwere Lasten lösten sich von seiner Seele. Es ward ihm feierlich zumut. Jawohl! In die Einsamkeit von Firn und Schnee wollte er sich flüchten, wie das wunde Wild sein Versteck sucht, und dort sein Gottesurteil bestehen. Dort sollten seine grimmigen Freunde, die Eisriesen, entscheiden, ob seine Tage gezählt waren oder nicht. Und was sie ihm im Donner der Schneestürze und im Brüllen des Sturmwinds verkündeten, das war ihm willkommen, Leben oder Sterben. Nur nicht das Mittelding zwischen beiden, das Hindämmern in den Tälern!

Das litten die Eisgötter da oben nicht. Die ließen die Starken zu sich kommen und vertilgten rasch und schonungslos, was sich ihnen an Schwachen und Kranken nahte. Dort oben gab es nur die ruhige Unerbittlichkeit der Natur. In ihrer Hand, fern von allen Menschen, von ihrem Mitleid, das er nicht suchte, von ihrer Hilfe, die ihm nichts fruchten konnte, lag dann sein Schicksal.

Das weiße Märchenbild am Horizont wurde blasser und blasser. Wie ein schwindender Traum stand es noch in der Dämmerung, ein geisterhafter Schein am Himmel, den das Auge mehr noch erriet als wirklich sah. Dann löste sich auch dieser Schein fast in einem Augenblick in ein Nichts auf. Der Montblanc war in der Nacht versunken. Von allen Seiten schwamm sie heran. Es wurde kühl und grau.

Er drehte sich ruhig um und ging in das Hotel zurück. Aus dem großen Speisesaal tönte das Stimmengewirr und Tellerklappern der Table d'hôte. Der Oberkellner wollte ihn hineingeleiten. Aber er wehrte ihm ab. Er habe einen wichtigen Brief auf seinem Zimmer zu schreiben.

Fast ohne eine Pause zu machen, warf er die Zeilen dahin.

»Liebe Freundin!

Ich möchte Abschied nehmen. Nicht von Ihnen, sondern von den Bergen, den Abenteuern, kurz, meinem ganzen bisherigen Leben.

Dazu gibt es nur einen rechten Ort, und er ist nicht weit. Auf dem Gipfel des Montblanc hat sich zum erstenmal mein Leben entschieden. Dort habe ich zum erstenmal, die Länder und Meere zu meinen Füßen, den freien Himmel über mir, die unbändige Sehnsucht, den Drang ins Weite empfunden, der mich seitdem nicht mehr verlassen hat. Dort will ich nun auch die zweite Wandlung meines Daseins durchmachen und einen Abschiedsblick auf Europa werfen, ehe ich hinuntersteige.

Glauben Sie nicht, daß das mich treibt, was ich damals, als sich drüben in Marokko unsere Wege kreuzten. auf meinem einsamen Wüstenritt nach Tetuan suchte. Ich hab' es Ihnen ja gesagt: Das ist vorbei! Ich weiß, wo Nikolai Rey und seine Tochter in Chamonix wohnen. Ich werde das Hotel nicht betreten, ich werde Angela nicht sehen, sondern sie fliehen, wie sie seither mich geflohen hat, ihr von ferne ausweichen und, so rasch es geht, hinaufziehen in das Eis. Ich kenne den Weg, seine Gletscherspalten und Gefahren, und nehme keine Führer mit. Sie würden mir die Stimmung dieses letzten Bergganges stören, von dem ich hoffentlich als der Mensch zurückkehre, als den Sie mich sehen wollen, heiter, leidlich gesund und mit sich und der Welt wieder so gut wie möglich ausgeglichen.

In wenigen Tagen bin ich wieder da. Bis dahin leben Sie wohl und auf Wiedersehen!«

Auf Wiedersehen! Er kam in Versuchung, das Kuvert, das er eben versiegelte, wieder aufzubrechen und die Worte zu streichen. Es war, als ob ihm der Bergwind ins Ohr raunte: Du siehst sie nicht wieder, die da unten auf dich wartet, nie wieder, und es ist gut so. Sie wird dich beweinen und doch glücklicher sein, als sie glaubt. Besser, den Toten beklagen als den Kranken pflegen!

Er warf den Kopf zurück. Er war nicht krank. Er wollte es nicht sein! Es gab ja Wunder! Mit festem Willen konnte man sie erzwingen. Und sein Wille war hart wie Eisen. Dem gehorchte der Körper wie eine fügsame Maschine, wohin er ihn auch führte. Er wollte ihn zur Genesung führen in der reinen Luft der Höhen.

Als er dem Kellner den Brief zur Besorgung gegeben hatte und wieder die Treppe hinabstieg, blieb er an dem Speisesaal einen Augenblick unschlüssig stehen.

Er schwankte, ob er ihr nicht doch noch einmal die Hand drücken sollte.

Nein! Er ging weiter. Wenn er zurückkam, war Zeit genug zur Begrüßung. Und beklagen konnte sie sich nicht. Denn wer anders als sie war es schließlich, die ihn da hinausschickte, sie, die in ihm nicht einen sich sorgsam pflegenden Kranken, sondern den unverzagten Mann von einst sehen wollte!

Gut. Sie sollte ihn haben. Oder nichts!


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