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XXVI.

Der würdige Freund war schnell von seiner Reise zurückgekehrt, als er die Ankunft so lieber Gäste erfahren. – Dieser Mann hatte auf Georg den größten Einfluß gehabt; ihm vertraute er nach Lord Vere am rückhaltslosesten, seiner Einsicht ordnete er sich am willigsten unter.

Georg betrachtete den alten Freund immer als eine Ergänzung zu Lord Vere; das poetische Gemüth seines Lehrers hatte Georgs jugendlichem Geist die ruhige, oft herbe Weisheit seines Herrn vermittelt. Jetzt war ihm das Verhältniß dieser beiden Männer zu einander und zu ihm noch klarer geworden. Seine Entdeckung hatte ihm nicht geradezu neue Gesichtspunkte gegeben; aber sie war ihm wie ein gutgewähltes Beispiel zu einem logischen Satz, den wir auch wohl so verstehen, der uns aber durch das Beispiel doch noch anschaulicher wird. Der alte Mann war seit langen Jahren das verehrte Haupt einer wenig zahlreichen Gemeinde, die sich von den herrschenden kirchlichen Ansichten so weit entfernte, daß sie selbst in dem freisinnigen Lande einigen Anstoß gab. Ja, er selbst ging noch weiter, und hatte es seinen Anhängern nicht verschwiegen; aber sie hatten ihn einstimmig gebeten, auch ferner ihr Führer zu sein; er solle nur warten, bis sie nachkämen; sie würden ihm folgen, wohin er sie führe. –

Als er Helene sah, schloß er sie zärtlich in die Arme, und sah sie lange forschend an, daß sie die Augen vor diesem durchdringenden. Blick senkte.

»So habe ich Sie mir gedacht, liebes Mädchen!« sagte er. »Sie gehören zu uns, das lese ich auf Ihrer reinen Stirn, in Ihren klaren Augen. Sie sind Georgs Lebensgefährtin, oder keine sonst.« –

Es war Helene, als befände sie sich in dem Hause von Georgs Eltern, als kennte sie Alles schon seit langer Zeit: so wunderbar heimelte sie Alles an.

Sie sah in dem alten Geschwisterpaare ihr eignes Verhältniß zu Georg wieder; nur daß die Jugend hier fehlte, und die Leidenschaft: dasselbe unumschränkte Vertrauen, dieselbe Verständnißinnigkeit; und sie selbst, sie vertraute ihnen; sie verstand sie auf Blick und Wort. Die Welt, in der die Beiden lebten, war auch ihre Welt; die Sprache, die die Beiden sprachen, war auch ihre Sprache; sie wußte, daß Georg sie in diese Welt eingeführt, sie diese Sprache gelehrt hatte. –

Es war eine köstliche, unvergeßliche Zeit, die kurze Zeit, die diese Vier zusammen verlebten; ein schöner, milder Herbst, dessen reiche Fruchtfülle Helene den heißen Sommer vergessen machte. Die Thränensaat war wunderherrlich aufgegangen in dem dunklen Schooß der Liebe. Der wahren Liebe müssen alle Dinge zum Besten dienen. Selbst die Trauer um den Tod der guten Mutter war nur ein schwermuthsvoller, tiefer Ton, der sich rein auflöste in den seelenvollen, innigen Einklang. Sie wußte, daß sie den Tod der Mutter am schönsten betrauerte, wenn sie sich des Lebens recht herzlich freute. Sie dachte noch sehr wohl der Mutter Wort am Todestage: »Wenn du aber fastest, so salbe dein Haupt!« –

Als Georg an jenem Morgen vom Hause fortgeritten war, hatte die Mutter gesagt: »daß sie nun sterben werde, heute noch. Sie habe es längst gewußt, daß ihr der Tod am Herzen nage; sie fühle, daß es jetzt vorbei sei. Georg dürfe nichts erfahren, er habe noch viel auszurichten, bevor der Abend käme.« –

Es war der Gedanke an ein anderes Wesen, das nicht so freundlich in ihre Einigkeit hineinlächelte, wie die liebe Mutter, der sie tief bekümmerte. Sie hätte alle Menschen so gern glücklich gesehen, und sie wußte: Lady Vere war es nicht; war vielleicht in demselben Maße unglücklich, wie sie selbst glücklich war; und dieser Gedanke hätte auch ein weniger edles Herz, als das Helenens, mit Trauer erfüllen können. Gute Menschen schämen sich fast ihres Glücks.

»Ich möchte sie sprechen, Georg!« sagte sie mit einer Thräne im Auge. »Es ist mir, als hätte ich ihr Unendliches abzubitten. Ich könnte mein Leben für sie opfern; aber Dich konnte ich ihr nicht lassen, Georg! Du bist mir mehr, wie das Leben; ohne Dich ist mir das Leben nichts.«

»Und wäre ich mit ihr glücklich geworden, Helene?«

»Nein, Georg! ich glaube es nicht, kann es nicht glauben. Und doch, Georg, wer Dich lieben kann, ist schon halb gerettet, und muß es bald ganz sein durch die Liebe zu Dir. Ich habe das nie so tief gefühlt, wie gerade jetzt.«

»Ich danke Dir, Helene;« sagte Georg, und er zog das geliebte Mädchen fest an sein Herz. »Wie könnte ich einen Kummer haben, den Du nicht theiltest! Sieh! dies beweist mir, wie ganz wir Eines sind. Du wärst ja nicht meine Wonne, meines Lebens Leben, wenn Du nicht trauertest um Clara Vere! Mein Herz sagt mir, sie wird glücklich werden. Sie soll nicht mein sein, wie Du mein bist! ich soll nicht ihr sein, wie ich Dein bin: sie soll unser sein! Unser Glück wäre nicht vollkommen ohne das ihre.«

Wenn sie so zusammen in der Studirstube des alten Freundes um den Kamin herumsaßen, und das Gespräch sich heiter ergoß über ihre eignen kleinen Angelegenheiten, wie über die Interessen der Menschheit, – da konnte Helene nicht müde werden, den beiden Freunden zuzuhören, wie sie im edlen Wetteifer nach einem Ziele strebten. Da dachte sie sich Georg mit den weißen Haaren des Greises, und schmiegte sich fester an ihn, und fühlte, daß die Liebe zur Wahrheit die ewige Jugend ist, der Schnee des Alters das heilige Feuer nicht auslöschen kann.

Sie sprachen über die alte Margareth, und Lord Vere, und die letzten Ereignisse. – Der Freund sagte:

»Ob der Mutter die auf diesen einen Punct concentrirte Seelenkraft den wunderbaren Blick in das Verborgene gegeben; ob die Verkettung der Ereignisse zufällig mit ihren Ahnungen und Wünschen Hand in Hand ging, wer wüßte das zu sagen! Wer erklärt das Ineinandergreifen von Ort und Stunde, und was sie brachten, und in Euch wach riefen, bis zu dem Tode der Mutter, wo der mächtige Moment Euch gewaltig packte, und Euch hoch emporhob über alle Zweifel und Bedenken.

Das sind große Augenblicke – man kann sie nur mit heiliger Scheu betrachten. Was dunkel in uns wogte, steht auf einmal klar und deutlich vor uns da; der Nebel, der unsern Weg verhüllt, zerreißt und wir sehen die schimmernde Linie bis in's Unendliche. Ein solcher Augenblick kann dem Menschen Kraft geben für das ganze Leben, ja dem ganzen Leben seine Richtung. – Die geheimnißvolle Tiefe, in der es wurzelt, öffnet sich, und wir stehen erstaunt über dem Abgrund. Wehe dem, den da der Schwindel packt! Hineingesehen tief, festen Blicks! der Abgrund schließt sich nur zu bald wieder. Was hülfe es uns, wenn wir uns auch erklären könnten, wie die Mutter zu der Kunde gekommen ist? Jedes Ereigniß, auch das kleinste, ist die Wirkung einer unzähligen Menge von Ursachen. Des Menschen stumpfes Auge sieht ja überall nur das Gewachsene, nicht das Wachsen; das Gewordene, nicht das Werden.«

»War die Mutter Eine von den Ihren?« fragte Helene.

»Gewiß, liebes Kind! es sind es Alle, die Gott anbeten im Geist und in der Wahrheit. Das ist die große Gemeinde, die Mitglieder zählt über die ganze Erde, in allen Ländern, unter allen Zonen, in dem Palast, wie in der Hütte, und der die Zukunft gehört. – Ihr Gott wohnt nicht in Tempeln, aus Menschenhänden gemacht; sie sind selbst der Tempel, und ihr Denken ist ihr Gebet. Sie heiligen den Feiertag nicht, weil sie alle Tage heiligen; und sie werden keine Priester haben, weil sie alle Priester sind. Sie glauben nicht an die Hölle, weil die Seligkeit für sie schon hier auf Erden beginnt. Sie fürchten den Tod nicht, weil sie den Tod leugnen, und sie nennen Gottes Namen nicht, weil er namenlos und unaussprechlich ist. –

Einst wird die Zeit kommen, da werden sich alle Menschen wieder verstehen, wie vordem, ehe Gott ihre Sprachen trennte, und alle werden Brüder sein. Was jetzt der Weise in seinen Herzen still erwägt, und was, wenn er es ausspricht, Aergerniß giebt, – das wird dann ein Gemeingut sein, an dem sich Alle freuen. – Die alte Welt ist für dies Wort ein rauher, harter Boden; die alten Vorurtheile und der Wahn haben zu tief schon Wurzel geschlagen und wuchern üppig auf, und ersticken den Samen. Ich hoffe noch immer auf Amerika. – Es ist nicht Feigheit, aus dem brennenden Hause zu flüchten. Man schlägt hier das Feuer aus und dort; aber es lodert wieder empor und wir verbrennen mit. Besser helfen, den Wasserstrahl in die Gluth leiten. Der beste Helfer ist nicht, der am liebsten helfen möchte, sondern der, welcher in Wahrheit am meisten hilft.«

»Ist mein Vater je ein Mitglied Ihrer Gemeinde gewesen?« fragte Georg.

»Nein, nie! diese Formen genügten ihm von Anfang an nicht, wie sie mir selbst jetzt nicht mehr genügen. Er überragte uns Alle an Geisteskraft und Kühnheit, wie Achill die anderen Griechen. Sie, Georg, sind der Erbe seiner Gesinnung, ein schöneres und größeres Erbtheil, als das, aus welchem er sie halb und halb vertrieb; denn ich gestehe Ihnen, nur auf mein Zureden hat er sich bewegen lassen, das Geheimniß zu enthüllen; und selbst da hat er die Entdeckung von einem so schwankenden Umstande, als das Leben eines Menschen ist, abhängig gemacht. Ob Ihr Pflegevater den Auftrag hatte, die Papiere in dem Schranke zu lassen, oder ob er sie dort sicherer glaubte, wie in seinem eigenen Hause, weiß ich nicht. –

Daß aber nun so die Herrschaft schon über ein Jahr in anderen Händen ist, scheint mir ein Wink des Schicksals für Sie, dem Sie auch willig folgen. Ja, mein Freund, die Schiffe sind hinter Ihnen verbrannt! desto besser! Sie schauen jetzt mit freierem und kühnerem Blicke vorwärts in das Leben. Wenn es auch Ihnen so wenig vorbehalten ist, wie mir und Ihrem Vater, die Feste des Wahns und die Stadt des Unsinns in Flammen auflodern zu sehen – rütteln wir stark an den stolzen Thoren; lassen wir uns das Blut nicht dauern, das in diesem heiligen Kampfe vergossen wird! –

Ich beneide Sie um das weite Feld, das vor Ihnen liegt; freilich dann auch um Ihre frische Kraft; das Eine wäre ohne das Andere nichts nütze. Ich würde Sie begleiten, wenn ich meine kleine Schaar mit hinüber führen könnte. Ich weiß es wohl, ich bin hier nur ein einzelner, verlorener Posten; aber ich will nun auch bleiben, wo der Herr der Heerschaaren mich hingestellt. Ob ich, von dem Andrang der Feinde überwältigt, falle; was liegt daran? Aber ich werde, wenn man mich anruft, mein Feldgeschrei geben. Die Losung heißt Freiheit; die Gegenlosung Nothwendigkeit. Das ist das letzte Wort. Die Freiheit ist dem Menschen nothwendig; aber nur, wer die Nothwendigkeit begriffen hat, ist wahrhaft frei. Der Sohn eines solchen Vaters darf nicht feiern; und an der Seite eines solchen Weibes wird das Unmögliche möglich.

Wollen Sie ihm muthig folgen, Helene?«

»Bis an das Ende der Welt!«

Georg war schon einige Jahre in Amerika gewesen. Er hatte sich durch seine Thatkraft, seine Beharrlichkeit, seine Talente einen bedeutenden Wirkungskreis erworben, der sich noch immer erweiterte. Er war, wie er einst zu Lady Vere gesagt hatte, thätig innerhalb der Grenze seiner Kräfte, und bis an die Grenze seiner Kräfte. Er war glücklich.

»Ich traure nicht um das verlorne Paradies,« sagte er, »indem das ein Fluch war: ›Im Schweiße Deines Angesichts sollst du dein Brod essen.‹ In des Allweisen Munde verkehrt sich der Fluch zum Segen. Das ist das stolzeste Wort, das je über den Menschen gesprochen: es ist sein Ritterschlag; die Arbeit ist der Adel des Menschen.« –

Er war mit dem Freunde in Europa immer im eifrigsten Briefwechsel geblieben; sie wirkten vereint aus allen Kräften für das, was sie Beide als die gute Sache erkannten. Er erfuhr auf diesem Wege, daß der alte Lord Vere gestorben sei, und Lady Vere die Verwaltung der Güter selbst angetreten und einen Antrag des Herzogs abgelehnt habe; daß man von einer Heirath zwischen ihr und Herrn Burn spreche.

»Sie kann keine bessere Wahl treffen;« schrieb der Freund, »und die Sache ist so gut, wie gewiß. – Sie wissen, Burn ist mein guter Freund, wie er auch von Ihrem Vater hochgeschätzt war. Die Welt hält diese Verbindung für unmöglich, weil man wissen will, daß Lady Vere ihn früher mit ihrem Hasse beehrt habe, und daß Burn nicht viel liebevoller gegen sie gesinnt gewesen sei. Als ob das ein Grund dagegen wäre! – Lady Vere ist gerettet. Er ist begabt vor Anderen, und hat das Herz auf der rechten Stelle. Er ist so groß, daß sie Mühe hat, zu seiner Höhe hinaufzusehen; und das ist für Lady Vere Alles.« –

Kurze Zeit darauf trat Georg mit freudestrahlenden Augen zu Helene in's Gemach. Er hatte einen Brief in der Hand.

»Freue Dich, Helene!« rief er, »Lady Vere ist eine der Unseren: sie kündigt mir eben ihre Heirath mit Burn an.«

Der Schluß des Briefes lautete:

»Und so, Georg, glaube ich Ihren Willen zu erfüllen, und zu machen, daß sich für Sie kein bitterer Gedanke in die Erinnerung mischt: einst Clara Vere geliebt zu haben. Was ich in Burn liebe, ist, was er mit Ihnen Gleiches hat. Ich habe ihm das offen gesagt. Er hat mir in seiner Weise geantwortet: das kann mich wenig kümmern. Ich glaube ein Mensch zu sein, aus ganzem Holze geschnitten. Wenn Sie mich wirklich heute halb lieben, müssen Sie mich morgen ganz lieben. – Wie dem auch immer sei, – und ich hoffte, daß mein Gatte Recht hat – Ihnen, Georg, verdanke ich jede frohe Stunde der letzten Jahre, und jedes Glück der Zukunft. Leben Sie wohl! Wenn Sie mit Ihrer Frau nach England kommen, und Sie gehen vorüber an der Halle Ihrer Väter, und Sie weichen dem Danke aus, den ich Ihnen so willig schulde, – so haben Sie nicht nur Ihre linke Hand nicht wissen lassen, was die rechte that; so hat Ihre Rechte selbst nichts von dem gewußt, was sie gethan hat.« –

»Bist Du nicht stolz, Georg?« fragte Helene.

»Ja!« antwortete Georg, sie an sein Herz schließend »ich bin stolz!, stolz darauf, ein Mensch zu sein, und die Macht zu haben, Gutes zu thun! Ich bin stolz auf Clara Vere, und vor Allem auf Dich, Du treues, herrliches Weib!«

 

Ende.

 

Anmerkung

Den Abschnitt nach dem Trennstrich im letzten Kapitel (Georg war schon einige Jahre †) hat der Autor in den späteren Auflagen gestrichen. – Anm. d. Hrsg.


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