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II.

War es das Bild des schönen Mädchens, das ihn an diese Stelle bannte, war es das Heer von Gedanken, das diese Erscheinung in ihm aufregte – der junge Mann stand lange Zeit auf demselben Platze; er stand noch, als schon lange die Reiterin in dem dichten Gebüsch verschwunden war; als schon lange das kleine Fenster im Thurme aufgehört hatte zu schimmern und zu blitzen; als schon lange die Nebel auf den Gründen vor ihm in weißen Streifen zogen. Erst der Nachtwind, der in den Wipfeln über ihm anfing zu rauschen, weckte ihn aus seinen Träumereien. Der Hund sprang vor ihm her mit freudigem Bellen, als er sich jetzt in den Wald zurück links wandte, und einen schmalen gewundenen Pfad einschlug, der ihn bald auf einen freien Platz führte, in dessen Mitte, unter dem Schutz uralter Buchen, die Försterwohnung lag, ein geschmackvolles, mit Epheu beranktes Häuschen, mit einem Garten vor der Thür; ein Bild tiefen Friedens; eine Stelle, wie sie Liebhaber der Einsamkeit in der Wirklichkeit aufsuchen, oder in der Phantasie erträumen.

Ein junges Mädchen kam ihm in der Pforte des Gartens entgegen. Sie reichte ihm die Hand, die er freundlich drückte und festhielt, während sie dem Hause zuschritten, von dem ihnen aus den Fenstern des Wohnzimmers das Licht entgegenschimmerte.

»Warum sind Sie so spät gekommen, Georg?« fragte das Mädchen mit sanftem Vorwurf, »die Mutter ist so unruhig gewesen; sie hat mich angesteckt mit ihrer Ungeduld – ich habe mich geängstigt und weiß nicht warum, und gewiß ohne Grund.«

»Ganz ohne Grund, Helene,« sagte der junge Mann. »Ein Abenteuer ist mir begegnet, aber kein fürchterliches – ein Abenteuer, das jeder junge Ritter gern aufgesucht hätte, und das auch ungefährlich zu bestehen war.«

Sie traten in's Zimmer. Eine alte Frau mit silbergrauen Haaren saß an dem Tische und hatte in der Bibel, die vor ihr aufgeschlagen lag, gelesen. Jetzt stand sie auf und ging den Eintretenden entgegen, faßte den jungen Mann bei der Hand und führte ihn näher zum Lichte, sah schweigend und forschend mit ihren tiefliegenden, grauen Augen in sein Gesicht, und fuhr ihm mit der Hand über die Stirn, als wollte sie einen Zug verwischen, der ihr nicht gefiel: »Dich hat heut' ein böser Blick aus falschen Augen getroffen,« sagte sie.

»Nein, Mutter,« erwiederte der Jüngling heiter, »in ein Paar schöner Augen habe ich geschaut, und freundlich genug haben sie mich angeblickt.«

»Du weißt nicht, was Du sprichst;« sagte die Alte. »Wenn die Lüge ungestraft lügen will, bindet sie die Schönheit als Maske vor – dann laufen die armen Menschen sicher in's Garn. Wen hast Du gesehen, Georg?«

»Lady Clara Vere de Vere, Mutter;« antwortete der Jäger.

Sie ließ seine Hand fahren; schweigend ging sie zum Tisch, klappte leise die Bibel zu, nahm sie und eins der beiden Lichter, die auf dem Tische brannten, und ging an den erstaunten jungen Leuten vorbei schweigend zur Thür; winkte dem jungen Mädchen, das mit klopfendem Herzen dagestanden hatte und ihr jetzt folgen wollte, zu bleiben und ging hinaus.

»Was heißt das? Helene,« fragte Georg, »was hat nur die Mutter?»

»Warum nannten Sie den unglücklichen Namen!« sagte Helene fast weinend – »die gute Mutter! Es ist heute der erste August, Lorenz' Todestag. Gerade an dem Tage reiste Lady Clara vor vier Jahren mit ihrem Vater von hier fort; jetzt bringt derselbe Tag sie wieder und mit ihr die Erinnerung an jene trübe Zeit. – Sein Sie nicht traurig!« fuhr das junge Mädchen fort, als Georg mit düsterem Blicke vor sich niederschaute, »der Tag ist heute schon trüb genug, das Herz mir schon schwer genug gewesen. Was kann denn Lady Clara zu des armen Lorenz' Tod? Wie konnten Sie wissen, daß sich für die Mutter mit ihrem Namen so schmerzliche Erinnerungen verbinden? Kommen Sie, Sie müssen rechtschaffen hungrig sein; – ich will Ihnen Ihr Abendbrod besorgen.«

»Lassen Sie nur, Helene»; sagte Georg, »ich bin nicht hungrig. Ich will auf mein Zimmer und arbeiten. Lord Vere's unerwartete Ankunft ist mir grade jetzt unbequem, wo die Rechnungen über die neuen Arbeiten noch nicht abgeschlossen sind.«

»Bleiben Sie hier, Georg;« bat das Mädchen »ich will Ihnen Ihre Papiere holen; sind es die, in denen Sie heute Morgen schrieben? Ich will so still sein, und Sie gewiß nicht stören! – Lachen Sie nicht! Ich weiß nicht, was mich heute Abend ängstigt. Zur Mutter darf ich nicht; und die alte Barbara ist eine so traurige Gesellschaft mit ihrem Spinnrade und ihrem nickenden Kopfe.«

So sprechend fing sie an, den Tisch abzuräumen, wobei ihr die alte Dienerin, die jetzt eintrat, half; Georg sprang hinüber, seine Schreibereien zu holen, und bald saßen die jungen Leute an dem großen eichenen Tische in der Wohnstube einander gegenüber, Georg mit seinen Rechnungen, Helene mit einer Handarbeit beschäftigt.

War es die Wanduhr, die ihren einförmigen Schlag tickte; oder der Nachtwind, der draußen in den alten Buchen rauschte; oder das Bellen der Hunde im Dorf, das durch die stille Nacht aus dem Thale herauftönte; oder der Duft der Nelken, der durch das offene Fenster strömte, oder die Schwüle im Zimmer, – was Georg am Arbeiten hinderte – er legte bald die Feder aus der Hand, und das junge Mädchen, das von Zeit zu Zeit schweigend zu ihm hinblickte, sah, daß es nicht Rechnungen waren, was ihn beschäftigte.

»Ist sie schön, Georg?« fragte Helene und ließ ihre Arbeit in den Schooß sinken.

Der junge Mann fuhr aus seiner Träumerei empor. »Wer, Helene?« fragte er verwirrt.

»Lady Vere,« sagte Helene lächelnd. »Wenn schöne Augen auch weiter keinen Schaden bringen, so hindern sie doch am Arbeiten, wie ich merke.«

»Dann könnten Ihre Augen so gut die Wirkung haben, als die Lady Vere's;« erwiederte Georg, sich zu ihr hinüberbeugend und sie freundlich ansehend.

Helene schüttelte den Kopf. »Nein, nein Georg;« sagte sie. »Meine Augen haben Sie noch nie am Arbeiten oder Essen und Trinken, oder wozu Sie sonst Lust hatten, gehindert. – Sind Sie auf dem Schlosse gewesen? Wie kommt es, daß Lord Vere schon heute gekommen ist, da er doch erst nächsten Monat kommen wollte? Wo haben Sie Lady Vere gesehen? Was ist das für ein Abenteuer, von dem Sie vorhin sprachen?«

»Heißt das Ihr Versprechen halten?« fragte Georg lächelnd. »Glauben Sie, daß ich Cäsar bin, und Rechnungen revidiren und Fragen beantworten kann zu einer Zeit?«

»Hätten Sie mir hübsch erzählt, Georg, aus freien Stücken, wie es Ihre Schuldigkeit war, so würde ich Sie nicht mit Fragen zu belästigen brauchen.«

»Sein Sie nicht bös, Helene;« sagte der junge Mann aufstehend, und auf sie zutretend. »Kommen Sie, es ist so schwül im Zimmer; lassen Sie uns in den Garten gehen! Ich will Alles beichten. Binden Sie sich ein Tuch um den Kopf – so – nun kommen Sie!«

Sie wandelten eine Zeitlang Arm in Arm in dem Garten zwischen den Beeten auf und ab; aber die Blumen dufteten so betäubend, daß sie aus der Pforte auf den breiten, kiesbestreuten Weg traten, der hier durch den Wald in manchen Krümmungen auf der Höhe der Hügel hinlief, bis er Schloß Vere gegenüber in's Thal hinabführte.

Der junge Mann erzählte sein Zusammentreffen mit Lady Vere im Walde. Helene lachte, als er zu dem Sprung über den Graben kam. –

»Das ist sie ganz,« sagte sie »wie sie noch in meiner Erinnrung lebt, stolz und eigensinnig, – Mensch und Thier und die ganze Welt soll ihr gehorchen. Sie will bewundert sein; und wäre das Theater auch nur eine Waldwiese, das Schauspiel ein Sprung über einen Graben, und das Publicum ein junger Jägersmann. –Hat sie sich verändert, Georg? Wie sieht sie aus? sieht sie aus wie eine Vere?«

»Sie sah blaß aus, aber nicht krank. Ihr Haar schien mir dunkler und ihre braunen Augen größer. Sie gleicht meinem Lord, wie ein junges Mädchen einem alten Manne gleichen kann.«

»Ihrem Lord? Clara Vere darf stolz sein! Wann hat je Jemand Ihrem Lord geglichen! – Ach, Georg! ist es nicht traurig, daß wir nicht zurückdenken können an das, was uns das Liebste war auf Erden, ohne einen blutigen Schatten heraufzubeschwören? daß mein Vater und mein Bruder, und der, an dem Sie mit so leidenschaftlicher Liebe und Verehrung hingen, Lord Vere, – Alle eines gewaltsamen Todes gestorben sind!«

»Liebe Helene;« sagte der junge Mann warm, »der Tod ist immer gewaltsam, und immer ringt das Leben aus allen seinen Kräften gegen den schonungslosen Sieger. Was thut's, ob die Parze unseren Lebensfaden langsam trennt, oder auf einmal mit scharfer Schere rasch durchschneidet? Ja Helene, ich gestehe es: der Tod erscheint mir so ein weniger fürchterliches Bild, als mit seiner abscheulichen Begleitung von Medicinflaschen, dem ganzen traurigen Apparate und der dumpfen Luft der Krankenstube – das ist mir ein Vorschmack des Grabes. Das Licht der Sonne und des Mondes ist lieb und gut – der Dämmerschein des Nachtlicht's ist grausig. – Nein –« fuhr er lebhafter fort – »als Lord Vere vor meinen Augen in die Schlucht stürzte; als ich mit Gefahr meines Lebens ihm nachkletterte; als ich unten bei dem Zerschmetterten, Sterbenden ankam; als er mich mit seinem Feuerauge, einen Moment, eh' der Tod es umflorte, so groß und voll ansah; als er seinen rechten Arm, das einzige Glied, das ihm nicht gebrochen war, um meinen Nacken schlang; als ich mich über ihn beugte, die bleichen Lippen zu küssen, die vergeblich ein Wort zu stammeln sich bemühten – nein, Helene, das war furchtbar, aber groß – das war der Tod eines Helden!«

Das junge Mädchen hatte sich eng an den jungen Mann geschmiegt, und hörte ihm zu mit pochendem Herzen. –

»Ja,« fuhr er fort, – »wer so in seiner vollen Kraft weggerissen wird, wie der Baum, den der Sturm entwurzelt – er grünt noch lange, ehe er so ganz verdorrt – sein Andenken lebt bei den Zurückbleibenden fort, als wenn der Rest von Lebenskraft, der noch nicht aufgebraucht war, den Schatten belebte. – Ihr Vater ging am Morgen aus dem Hause, ein stattlicher, kräftiger Mann – man brachte ihn am Abend zurück, eine blutige Leiche. – Sie haben mir oft selbst gesagt, es wäre Ihnen, als sei er noch nicht todt. – Die Kluft zwischen Leben und Tod ist zu groß, wir können sie nicht ausfüllen; es fehlen die Sprossen in der Leiter – die langen Fiebernächte, das allmälige Absterben – die Töne zwischen der frischen Lebensfarbe und der Todesblässe. – Freilich, Ihr Bruder, der arme Junge – er war schon lange krank, ehe er sich die Kugel einlud, die sein schönes Haupt zerschmetterte. Glauben Sie, Helene, das wüthendste Fieber hat nicht mehr Gewalt, als die stille Schwermuth, an der Lorenz krankte. Der Gedanke an Ihres Bruders frühes Ende hat für mich nichts Grausiges; – es ist mir unendlich rührend. Der schöne, stille, begabte Jüngling – wie er einherging, einsam, in sich gekehrt – er gehörte kaum zu uns übrigen Lebenden. Er sank in den Todesarm, wie die Blume, die am Morgen sich entfaltet, sinkt unter ihrer eigenen Last, die volle Aehre sich neigt unter der eigenen Schwere. – Nein, Helene, – mag der Tod uns antreten, in welcher Gestalt er will! er ist entweder immer furchtbar, oder nie; aber furchtbar oder nicht, er soll keine Macht über uns haben.«

Das Mädchen lächelte durch Thränen zu ihm auf und sagte: »So seid ihr, ihr Männer! Mag's doch zu Ende gehen, nur schnell, nur plötzlich! Ihr wollt schaffen oder zerstören; wir erhalten: Andere und uns für Andere. Ihr bedürft des Lärms der Schlacht; der Donner des Geschützes, das Blitzen der Waffen, das Geschrei der Kämpfer muß euren Muth entflammen. Eure Tapferkeit ist oft nur ein Rausch; – in den langen Stunden der Nacht heimlich Zwiesprach mit dem Tod zu pflegen – das ertrügen eure starken Nerven nicht.«

»Laßt uns,« sagte Georg, »den Meister loben, der Alles weislich geordnet; der jedes Geschöpf für das Element gebildet hat, in dem es leben soll.«

Sie waren während des Gesprächs, ohne des Weges zu achten, durch den Wald bis an die Stelle gekommen, die häufig das Ziel ihrer Spaziergänge war, und die sie »die Warte« nannten. Es war ein kleiner Vorsprung des Berges, mit einem Gitter eingefaßt und mit Ruhebänken versehen. Hier erfreuten sie sich oft an schönen Abenden der wunderlieblichen Aussicht.

Der Hügel der zu ihren Füßen steil abfiel, – doch nicht so steil, daß nicht eine bequeme Treppe hätte hinunterleiten können, bildete noch einmal auf halber Höhe eine Terrasse, die eine schöne Kapelle trug, den Schmuck des Bergrandes, und einen lieblichen Friedhof, den eine Steinmauer einfaßte. Dann senkte sich der Hügel in das Thal, auf das Georg und Lady Vere von einem anderen Punkte hinabgesehen hatten, und das in seinem Grunde das Schloß trug.

Als die nächtlichen Wanderer auf die kleine Plattform hinaustraten, kam der Mond, dessen Strahlen sie bis jetzt nur durch die Baumwipfel hatten zittern sehen, über den Rand des Holzes herauf und goß sein bleiches Licht über die Landschaft zu ihren Füßen.

Die weißen Wände der Kapelle schimmerten hell; und ihr Wiederschein ließ den Friedhof fast in Tagesklarheit erscheinen; man hätte die goldenen Buchstaben auf den Kreuzen und Grabsteinen lesen zu können geglaubt.

An einem der Kreuze war eine Gestalt hingesunken, still, regungslos. – Helene drückte den Arm ihres Begleiters, dessen Blick weit in die Landschaft hinein zu dem Schlosse schweifte, und deutete hinab auf die Betende.

»Die arme Mutter!« flüsterte sie, »sie kann den Gedanken nicht ertragen, daß ihr Liebling hier draußen liegen soll in der kalten, feuchten Erde; sie kommt, an seinem Grabe zu beten, wie sie in der Nacht sich erhob, um sich über den Schlafenden zu beugen und seinen Schlummer zu bewachen! Kommen Sie, Georg! sie darf nicht wissen, daß wir draußen waren; lassen Sie uns zurück und sie im Hause erwarten.« –

»Ach,« fuhr das junge Mädchen fort, als sie wieder in den Wald getreten waren, und schneller dem Hause zugingen, »Georg, wie ist die Liebe einer Mutter so groß und heilig! wir sind so liebearm gegen sie, wir wissen gar nicht, was Liebe ist. Wenn ich den Kummer meiner Mutter sehe, und sehe, wie der Schmerz ihr Lebensblut trinkt; – wie sie sich nach dem Grabe sehnt, nur um mit ihren Lieben wieder vereint zu sein; wie die rasche, thätige Frau in wenigen Jahren in tiefe Schwermuth versunken, ihr braunes Haar grau geworden ist, – und wenn ich dann denke, wie ich lachen und singen kann, als wäre noch Alles beim Alten – ach, Georg, dann komme ich mir so kalt, so herzlos vor! – Sagen Sie, Georg, bin ich schlecht, daß ich so froh in die Welt sehe, bei so vielen Gründen, traurig zu sein?«

»Liebes Mädchen,« erwiederte Georg, »wir sind jung, über die Jugend hat der Kummer keine dauernde Macht. Der Bach im Gebirge schmettert den Felsen vor sich fort, der seinen Lauf hemmen will; der Fluß im Thal läßt ihn geduldig liegen. Was die Natur in uns legte, ist nie schlecht; sie handelt immer gut und weise. Wir stehen am Eingang der Rennbahn des Lebens: wie sollten wir den Ausgang erreichen, wenn uns jetzt schon der Athem fehlte?«

Sie schritten schweigend weiter, und bald saßen sie wieder in der Stube am Tisch, der Mutter harrend. –

In dem Dorfe unten im Thale verkündete die Glocke Mitternacht. Deutlich hörten sie durch die tiefe Stille trotz der großen Entfernung den hellen Ton.

»Das Volk hat Recht;« sagte Georg »dies ist die Geisterstunde. Aber es ist nicht Schuld der Geister, daß sie diese Stunde wählten, wie die Glocke nichts dafür kann, daß wir sie nicht hier oben auch während des Tages hören, Sie kommen zu uns so spät, weil sie wissen, daß wir vorher doch für sie nicht zu sprechen sind. Es sind Bittsteller, die bescheiden den Anderen Platz machen, die trotzig und vielgeschäftig sich zu uns drängen, und den ganzen Tag uns nicht zu Athem kommen lassen. Aber wenn die lärmende Menge sich verlaufen hat, es jetzt still geworden ist, und sie glauben dürfen, daß wir nun endlich allein sind, dann klopfen sie leise an, und schlüpfen in's Zimmer, und setzen sich zu uns, und schauen uns an mit liebevollen, treuen Augen; erzählen uns ernst von hohen, heiligen Dingen, und plaudern traulich mit uns von vergangenen schönen Stunden. Und wenn der Hahn dann kräht, so entweichen sie; – sie wissen, ihre Zeit ist um; wir würden sie ja fortschicken, wenn sie länger blieben.

»Gewiß!« sagte Helene. »Das Andenken an die lieben Todten würde weniger schattenhaft sein, wenn wir weniger flatterhaft wären, wie die leise Stimme des Gewissens laut genug spricht, wenn wir nur aufmerksamer lauschen wollten. – Sie mögen recht haben, Georg! Der Leichtsinn, dessen ich mich vorhin anklagte, mag ein nothwendiger sein; aber ich wollte, die alte Liebe brauchte nicht erst zu verwelken, ehe wir uns an dem Duft der neuen erfreuen können.«

»Es ist im Menschenleben, wie in der Natur, liebe Helene! warum wollen wir denn immer etwas voraus haben vor den Lilien auf dem Felde.«

»Er sank in den Todesarm, wie die Blume, die am Morgen sich entfaltet, sinkt unter der eigenen Last;« sagte das Mädchen sinnend. »Ja, Georg, Lorenz war nicht geschaffen für die heiße Sonne des Mittags, für die rauhe Luft des Abends. Jene geheimnißvolle, träumerische Blume, die während der Nacht ihren prachtvollen Kelch entfaltet, um am Morgen schon zu sterben, ist das Sinnbild seines Lebens. – Eine Ahnung seines frühen Todes hat Lorenz wohl schon als Knabe gehabt. Ich habe ihn nie lachen hören; ich habe nur um seine feinen Lippen ein leises Lächeln spielen sehen. In Allem, was er sprach und schrieb, klang dieser schwermuthsvolle, klagende Ton mit an; bald stärker, bald schwächer, aber immer deutlich vernehmbar. Ich bat ihn einst, als Sie mit Lord Vere uns verlassen hatten, mir etwas recht Heiteres zu dichten, so etwas, worüber ich lachen müßte; denn wahrhaftig ich weinte, als Sie fort waren, mehr als billig. Er versprach es mit seinem wunderbaren, traurigen Lächeln, und am anderen Tage brachte er mir das Märchen, das ich Ihnen immer einmal vorlesen wollte; ich glaube, jetzt ist der rechte Augenblick dazu. Ich sage Ihnen vorher, es ist zum Weinen lustig.« –

Das junge Mädchen stand auf, und nahm aus einem Kästchen, das ihre Schätze enthielt, eine graue Locke von ihres Vaters Haar, und eine braune vom Haar ihres Bruders, Georgs Miniaturbild, das er ihr aus Paris geschickt, und die Briefe, die er ihr von seiner Reise geschrieben, einige Blätter; sie setzte sich wieder zu Georg, und halb las sie und halb erzählte sie ihm das folgende

Märchen.

Die Schwalben sind kluge Thierchen, wie Jedermann weiß. Sie sind nicht wie andere Vögel, die an dem Orte, wo sie ausgebrütet sind, auch leben und sterben, sondern sie sehen sich hübsch um in der Welt, und achten fleißig darauf, wie's anderswo zugeht. Die alten Schwalben schicken die jungen fort vom Hause in ferne, ferne Länder, daß sie da bauen lernen und viele andere Kunstfertigkeiten, und zurückkommen als weitgereiste kluge Leute. Die Reise dorthin müssen sie so oft machen, bis sie es verstehen, recht aus dem Grunde, und so ziehen sie fort und kehren wieder, und der Mensch nennt das »Wandern,« und glaubt, sie thun es, weil es ihnen zu kalt sei im Norden, aber wer sich darauf versteht, weiß es besser.

Da lebte denn auch einst eine junge Schwalbe, die konnte die Zeit nicht erwarten, bis sie in die schöne, weite Ferne sollte; aber die Alten wollten's noch nicht, weil sie noch zu jung sei; denn die Flügel, sagten sie, müßten erst länger werden. –

Da mußte sie sich nun freilich gedulden, aber desto fleißiger übte sie sich im Fliegen, des Abends, rund herum um den alten Kirchthurm, wo die Alten wohnten, und wohin die Anderen auch kamen und sich erzählten von ihren Reisen, – denn das thun die Schwalben, wenn sie zwitschernd in der Abendluft umherkreisen. Endlich im nächsten Jahr durfte sie fort. Die Alten gaben noch viele Ermahnungen für die Fahrt über's Meer, aber die Schwalbe hörte kaum darauf, so sehnte sie sich in die blaue Ferne. Leichten Schwunges flog sie von dannen, fort über Berg und Thal, über Stadt und Land, über Wiesen und Felder und Wälder. –

Wie staunte sie, als sie die große Welt erblickte; so hatte sie sich's doch nicht träumen lassen, als sie noch in dem alten Gemäuer wohnte, dicht unter dem kleinen, epheuumrankten Fensterchen, das die Abendsonne immer so schön vergoldete. So flog sie mehrere Tage lustig fort. An einem Abend nun, als die Sonne eben unter den Horizont sank, und ihre letzten Strahlen die Kuppen der Berge scheidend küßten, und die Schwalbe hoch in der Luft sich umsah, wo sie heute Nacht ausruhen könnte von der langen Reise, – da sah sie unter sich zwischen den Bergen ein Thälchen, so zauberisch lieblich, daß sie flugs die Schwingen senkte und sich hinabließ in's kleine Thal.

Und da saß sie auf einem Baumaste und schaute hinein mit den klugen Augen, und mit jedem Augenblicke deuchte es ihr lieblicher und schöner. Schroffe, moosbekleidete Felsen schlossen es ringsum ein, daß nicht der Fuß der lärmenden Menschen so leicht eindringen konnte in das trauliche Plätzchen; zwischen den Felsen wuchsen stattliche alte Bäume, die wiegten ihr Haupt ernsthaft im Abendwinde, und wisperten untereinander gar angelegentlich und heimlich; aber das Allerlieblichste und Schönste war eine kleine reine Quelle, die recht im Herzen des Thal's lag; und das merkte die Schwalbe auch, daß die Quelle der Liebling war des ganzen Thal's, denn die Winde kamen und gaukelten über sie hin und küßten sie, wenn sie vorüberflogen, und die Blumen, die am Rande wuchsen, bebten vor Wonne, der Holden so nah zu sein, und die knorrigen, verwitterten Bäume selbst schauten freundlich in ihr klares, reines Wasser, und flüsterten, wie sie so schön sei.

Das Alles hörte die Schwalbe recht wohl, denn in der Natur spricht Jedes seine Sprache – wer sie nur verstände! – Und als sie noch so saß und sah und lauschte, da kam ein Fink geflogen. Wie der den fremden Wanderer erblickte, setzte er sich höflich zu ihm und fing an, Complimente zu machen, denn der Fink ist ein gutmüthiger, lustiger Kauz. Und ward auch zutraulich und sagte, die Schwalbe sei sicher gekommen, um die liebe kleine Quelle zu sehen und von ihrem reinen Wasser zu trinken, und war des Lobes voll von der kleinen Quelle; und weiter vertraute er ihr, er habe einen lieben Freund, einen Wiedehopf, der sei ein geschickter Baumeister, und auch eine Freundin, eine Lerche, die wohne dicht nebenan auf der Wiese bei ihrem Verwandten, einem Wachtelkönig, der eine vornehme Wachtel zur Frau habe, und des Abends kämen sie gewöhnlich hier zusammen, und freuten sich an der kleinen Quelle. Und kaum hatte der Fink das so hingezwitschert, da kam die Lerche vom Felde geflogen – das war ein recht freundliches, liebes Geschöpf; und bald kam auch der Wiedehopf, der sah ernst und würdig aus, und wenn er seine Tolle aufsträubte, beinahe böse – sonst war er herzensgut.

Da wurden alle bald vertraut mit einander, als hätten sie sich schon lange gekannt, denn die einfachen Kinder der Natur sind nicht so wie die kalten, harten Menschen, die sich erst Jahre kennen müssen, ehe sie Vertrauen zu einander fassen. Nein, Lerche, Fink und Wiedehopf sagten gleich, daß sie den kleinen Wanderer recht lieb hätten, und die Schwalbe – nun die hatte sie schon darum gern, weil sie so viel von der Quelle zu erzählen wußten.

Als es nun Nacht geworden, sagte die Lerche, es sei Zeit zum Schlafengehen, denn sie müsse bei Zeiten wieder auf. Da wollten nun alle den Wanderer zu sich nach Hause nehmen, aber der ernste Wiedehopf sagte: die Lerche könne ihn nicht beherbergen, denn sie wohne beim Wachtelkönig und der vornehmen Wachtel, und der Fink sei ein lustiger Patron und wohne selbst unbequem; er aber habe in einem hohlen Baumast ein schönes Haus mit zwei Zimmern, und zu ihm solle der Wanderer kommen. Der ernste Wiedehopf behielt Recht, und so trennten sie sich und versprachen, recht bald wieder zusammen zu kommen am kleinen Quell.

Die Lerche flog aufs Feld, der Fink in den Busch, und der Wiedehopf mit der Schwalbe in seine bequeme Wohnung – und da steckte die Schwalbe das Köpfchen unter den Flügel, und träumte von der schönen, kleinen, lieblichen Quelle. –

Als am andern Morgen die Sonne eben hervorsah über die Berge und ihre ersten Strahlen durch's Waldlaub zitterten, schlief der Wiedehopf noch fest; aber die Schwalbe wachte schon und als sie hübsch und zierlich die Federn zurecht gelegt, flog sie leichten Fluges hin zur Silberquelle. Die war heut noch viel schöner, als am vorigen Abend, so klar und rein, daß man bis auf den Grund sehen konnte, und von der aufgehenden Sonne so rosig beleuchtet wie der Morgenhimmel. Da freute sich die Schwalbe so recht herzinnig, daß sie laut zwitscherte vor Lust, und mit den schnellen Flügeln schoß sie hin über die glatte Fläche, daß sie die weiße Brust und die langen Schwingen netzte, und so fuhr sie hinüber und herüber, gerade aus und im Zickzack, und sie hätte sich wohl gar ganz hineingestürzt, wenn sie nicht noch zur rechten Zeit an das kleine Fenster im Kirchthurme gedacht hätte, das die Abendsonne immer so schön vergoldete. Am Abend kam auch die Lerche vom Felde geflogen und bald der Fink und der Wiedehopf aus dem Busch; die grüßten jubelnd die Schwalbe, und der Wiedehopf sagte, er hätte seinen Gast überall gesucht, und wunderte sich, daß er den lieben langen Tag an nichts, als an die Quelle gedacht habe; aber die Lerche meinte, wenn er nur Zeit hätte, und nicht so viel bauen müßte, er thät's auch. So zwitscherten sie vergnügt mit einander, und hernach sang die Lerche ein Lied zum Lob der kleinen Quelle, darüber freuten sich Fink und Wiedehopf, aber die Schwalbe war traurig, daß sie nicht auch singen konnte; – sie hätte die Quelle noch viel schöner loben wollen; und erst, als es beinahe Nacht geworden, flogen sie alle in ihre Nester. –

Hier blieb die Schwalbe mehrere Tage und alle Tage flog sie hin zur kleinen Quelle und blieb da bis zum Abend und fuhr hin über die Spiegelfläche, hinüber und herüber, gerade aus und im Zickzack und netzte die weiße Brust und die langen Schwingen im klaren Wasser. Sie dachte kaum an die lange Reise, die sie noch zu machen hatte zum fernen Afrika – aber endlich mußte es doch einmal geschieden sein, so schwer es ihr auch wurde, und als am Abend die Anderen kamen, da sagte sie es ihnen. Die waren recht traurig und baten sie dazubleiben; aber die Schwalbe hätte es wohl von selbst gethan, wenn sie gekonnt hätte, oder doch wenigstens wiederzukommen, – als ob die Schwalbe nicht wiedergekommen wäre, wenn sie es ihr auch nicht gesagt hätten! Am anderen Morgen in aller Frühe zog die Schwalbe weiter. Lerche, Fink und Wiedehopf begleiteten sie noch ein Streckchen, und an der Waldecke, da, wo der Weg nach Afrika abgeht, trennten sie sich, und schnellen Fluges eilte die Schwalbe von dannen, und die Lerche stieg in die Höhe, um sie noch recht lange sehen zu können, und trillerte ihr einen Abschiedsgruß. – Da zog die Schwalbe wieder fort über Berg und Thal, über Wiesen und Felder und Wälder, über Flüsse und Seeen, und über ein großes, großes Meer, weit, weit fort zum fernen Afrika, wo die jungen Schwalben bauen lernen.

Da ist es aber öde und traurig und sandig und heiß, und desto öfter dachte die arme Schwalbe an die liebe Quelle und ihr frisches, klares Wasser, und des Nachts saß sie auf einer Pyramide, das Köpfchen unter den Flügel gesteckt, und träumte von der kleinen, reinen Quelle.

Endlich durfte sie wieder fort aus dem häßlichen Lande, hin zu dem theuren Orte, und hin zu ihm flog sie sicheren, nie irrenden Fluges, denn die Schwalben sind treue, kluge Thierchen und vergessen nie einen Ort, wo es ihnen einmal gefiel.

Kaum ruhte sie sich einmal aus unterwegs, und endlich kam sie wieder zum kleinen Thal; aber wie erschrack sie, als sie dort die Veränderung sah, – kaum traute sie ihren Augen. Die kleine Quelle war verschwunden und Felsentrümmer hatten ihr Bett ausgefüllt. Die Blumen alle waren verwelkt, die alten Bäume rauschten eintönig und traurig, und die ganze Stätte, früher so freundlich und lachend, war trüb und öde. Und als die Schwalbe noch ganz traurig dasaß, da hörte sie die Lerche auf dem Felde klagen, und zu ihr flog sie und fragte, wo denn die kleine Quelle wäre?

Da erzählte die Lerche traurig: Einige Zeit nachdem Du fort warst, wollte der große Strom, dessen Brausen Du hier hörst, die kleine Quelle haben, und er spiegelte ihr vor, wie gut sie es bei ihm haben würde; sie sollte sich mit ihm vermählen; dann wollte er ihr viele Städte zeigen, an denen er vorbeiflöße, und das große Meer sollte sie sehen, und viele andere Herrlichkeiten und was er nicht alles der armen Quelle zuraunte, der böse Strom. Und eines Nachts da war ein furchtbares Ungewitter, daß die Erde bebte, so furchtbar, wie es selbst die älteste Krähe sich nicht erinnern kann, und wir fürchteten uns so in unseren Nestern, und als wir am anderen Morgen zur Quelle kamen, aus ihr zu trinken, wie wir's gewohnt; – da war sie fort; die eine Seite nach dem Flusse zu war durchbrochen – und in der Ferne rauschte der stolze Strom, als freute er sich, daß es ihm gelungen. Die Andern meinen, die Quelle sei dem Strom aus freien Stücken zugeflossen; ich aber glaube, er hat sich mit dem Sturm und Regen verbunden und hat sie geraubt. Der Fink hat sich bald über den Verlust beruhigt, denn er ist ein lustiger Patron; aber der Wiedehopf ist aus Kummer fortgezogen, und ich wäre ihm schon längst gefolgt, wenn ich nicht bei dem Wachtelkönig und der vornehmen Wachtel wohnte.

So sprach die Lerche; aber die Schwalbe hatte die letzten Worte kaum noch vernommen, sondern war auf und davon geflogen hin zum Strom, die Quelle zu finden; und als sie sie dort nicht fand, ist sie an's Meer gezogen und über's Meer, und weiß Keiner, wo sie geblieben ist; zum Kirchthurm, wo die Alten wohnten und zum kleinen epheuumrankten Fensterchen, das die Abendsonne immer so schön vergoldete, ist sie nie wieder zurückgekehrt.–

 

Helene faltete leise die Blätter zusammen und legte sie wieder in das Kästchen; Georg sah träumend vor sich nieder.

»Das ist eine rührende Geschichte, liebe Helene,« sagte er sinnend »und ich denke, es ist eine wahre Geschichte. Manche Züge sind mir jetzt schon klar; von andern weiß ich nicht, wie ich sie deuten soll. Die Fäden, die ich im Anfang noch verfolgen kann, schlingen sich hernach zu einem unentwirrbaren Knoten zusammen; es ist ein dunkles Räthsel und die Auflösung ist sein Tod.«

Die Pforte, die vom Hofe in das Haus führte, öffnete sich; ein leiser Schritt ging die Treppe hinauf.

»Die Mutter ist nach Hause gekommen,« sagte Helene, »gute Nacht, Georg!«

»Gute Nacht, liebe Helene, träumen Sie süß!«

Die jungen Leute gaben sich die Hand – und bald darauf war Alles still in dem kleinen Hause im Walde.


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