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XXII.

Die eigene Erfahrung ist doch immer die beste, ja vielleicht die einzige Lehrerin.

Wir lesen eine herrliche Maxime, und glauben sie verstanden zu haben, und in unser Leben hinüber nehmen zu können, als ob das so leicht sei, als ob wir nicht erst mit unserem Herzblut jede Wahrheit bezahlen müßten, als ob nicht zwischen theoretischer Einsicht und praktischer Bethätigung eine Kluft läge, die erst mit Anstrengung aller unserer Kräfte in harter Arbeit ausgefüllt werden muß. Wenn es so leicht wäre, die Wahrheit zu lehren, so hätten wir lauter Heilige; aber für das Kind ist das: Liebe deinen Nächsten! ein leerer Schall; und es wird, während es die Worte nachplappert, dem Bruder den Apfel beneiden, den er in der Hand hält; und der Mensch wird so lange in der Theorie seinen Nächsten lieben, und ihn praktisch stündlich hassen, verachten und verfolgen, bis er den Haß und die Liebe durchgekostet, und am Ende gefunden hat, wie bitter der Haß, und wie süß die Liebe ist; bis ein reiches Nachdenken ihn über die Welt und die Menschen aufgeklärt hat; bis er begreift, daß die Tugend die Gesundheit, und die Sünde die Krankheit ist; daß er dem scheltenden Bruder so wenig zürnen kann, wie der Wärter dem Fieberkranken, der ihn mit Schmähreden überhäuft; bis er klar und deutlich sieht, daß kein Mensch aus freien Stücken sündigt, und daß jeder tugendhaft sein würde, wenn er könnte. –

Der Mensch wird ewig so lange den Splitter in seines Bruders Auge sehen, bis die Furcht, vor dem Balken, den er im eignen Auge hat, blind zu werden, ihn über sich selbst nachzudenken zwingt. –

»Geh' hin! gestehe ihr Deine Liebe! und wenn du mit wankenden Knieen und gebrochenem Herzen zurückkommst, so will ich Dir sagen, wer Du bist.« –

Wer ich bin? Lord Vere – ein Narr! ein blöder Thor! – Still, Georg!

»Was kann denn die Sonne dafür, daß die Blumen verwelken und das Gras verdorrt?« –

Laß nur den Kopf nicht hangen! Treibe die Wurzeln tief in die feuchte, schwarze Erde, wohin ihr Strahl nicht dringt; und trotze ihrer Gluth! –

Hätte Georg sich nicht noch eben vorher im Drachenblut gebadet, wer weiß, ob ihn der furchtbare Schlag, der ihn getroffen, nicht zerschmettert hätte; und auch so schon traf er ihn hart genug. Er stand da, wie einer, vor dem sich die Erde plötzlich aufthut, und sein Theuerstes verschlingt; wie der Kaufmann, der vom Strande aus das stolze Schiff sinken sieht, das ihm die Schätze Indiens bringen sollte. –

»Ist der Mensch toll?« »Ich glaube, Mylord!« – die Worte klangen in seinem Ohre; er sprach sie langsam nach, wie einen tiefsinnigen Spruch, dessen Meinung man nicht gleich zu fassen vermag. Er sah sie vor sich stehen, – bleich, mit zuckenden Lippen, kalt; er hörte die Stimme, die so ruhig und fest die Worte sprach: »ich glaube, Mylord!« –

Er hatte gewähnt, daß jede Brust nur in der Himmelsluft athmen könnte, die er in jenem Augenblicke entzückt mit vollen Zügen einsog; und er sah jetzt, wie wohlig es den Menschen ist, in den feuchten Nebeln da unten, in dem dumpfen Brodem der Erde. Es ekelte ihn. –

»Schaudert dich, Freund? Sei wie der gute Arzt, der vor der ekelhaften Wunde nicht zurückbebt, wie die feigen, unwissenden Verwandten!«

Georg hatte sich wohl in dem Drachenblut gebadet; aber es war noch nicht in alle Poren eingedrungen. Er loderte nicht in Zornesgluth auf; er fühlte nur einen dumpfen, unerträglichen Schmerz. Die herrliche Marmorstatue, die er so oft mit Entzücken angeschaut, lag in Trümmern zu seinen Füßen; – er war mit lechzender Lippe, mit fiebernden Schläfen gerannt durch die heiße Wüste nach einem herrlichen Feeenreich voll schattiger Palmen-Wälder und schimmernder Palläste, die sich spiegelten in einem blauen See; er hatte im voraus die Wollust empfunden, sich stürzen zu können in die klare Fluth, sich baden zu können in den kühlen Wellen – und die Spiegelung war versunken, und der gelbe Wüstensand brannte um ihn her.

Er fuhr empor; er wollte fort – zurück in den Wald – es trieb ihn aus der Halle – es war ihm, als sei das wüste Chaos um ihn das Bild seiner letzten Tage. Er raffte eben die Papiere zusammen, als die Thür sich öffnete, und der Herzog mit schnellen Schritten auf ihn zutrat.

Der Herzog war kein böser Mensch; er war nur ein schwacher, eitler Mann. Er hatte vorher in der Ueberraschung das beleidigende Wort ausgestoßen; er hatte im ersten Augenblicke einen glücklichen Nebenbuhler vor sich zu sehen geglaubt, und das in der Stunde, als er Lady Vere nachgeeilt war, um ihr die ganze Herrlichkeit seiner fürstlichen Liebe zu offenbaren. Jetzt kam mit der Besinnung auch die Ruhe wieder. Die Sache war ja so undenkbar, daß er über seine eifersüchtige Regung lachen mußte. Er konnte sich nicht ganz in Georg's Lage versetzen; aber er hatte ein dunkles Gefühl, daß dem jungen Manne schlimm zu Muthe sein müßte; ja, der Gedanke durchfuhr ihn, der arme Schelm könnte sich ein Leid anthun. –

So trat er auf Georg zu und sagte:

»Ich that Unrecht, verletzende Worte gegen Sie zu gebrauchen. Sie sind hart genug bestraft. Die Worte thun mir leid; Sie selbst thun mir leid. Ich habe Lady Vere gebeten, die Sache sich nicht zu Herzen zu nehmen. Ich bin überzeugt, sie wird Ihnen vergeben.«

»Wie gut sie ist!» sagte Georg.

»Ja wohl!« fuhr der Herzog fort; »aber es versteht sich wohl von selbst, daß nach einem solchen Auftritte Lady Vere auch die Möglichkeit einer ferneren Berührung mit Ihnen zu vermeiden wünscht, und daß sie Herrn Allen ersuchen muß, seine, im Uebrigen so schätzbaren Dienste Anderen zuzuwenden.«

Georg hörte kaum, was der Herzog sagte. – Er wollte fort; er wußte nicht, wie er den gutmüthigen Schwätzer los werden sollte.

Der volle Eckel über all' dies eitle Treiben überkam ihn wieder. Der ganze Wahnsinn dieses Standpunkts, von dem aus man ihn behandeln wollte wie einen Schulknaben, der einen dummen Streich gemacht, grinste ihn an wie eine häßliche Fratze, wie ein verrücktes Zauberstück mit Flügelrossen und Kobolden und anderen Herrlichkeiten für den Pöbel.

Es sagte aus ihm heraus: »Wie gut, Mylord, daß unsere gemeinsame Stammmutter Eva keine Lady Vere war! der Umstand hätte uns sonst vielleicht um das Vergnügen dieser Unterredung gebracht.«

Der Herzog verstand ihn nicht ganz; er fühlte nur, daß der Andere ihn verspotte und ihm an seine Würde rühre. Das war zu viel! Was fiel dem unverschämten Menschen ein, daß er nicht demüthig die Verzeihung annahm, die man ihm gutmüthig genug entgegenbrachte? Konnte er nicht dankbar sein, daß man ihn nicht züchtigte, wie er es verdiente? –

Er sagte mit einem Fluch: »Machen Sie nicht, daß mich meine Güte gereut! Bei Gott! Sie scheinen so wenig Anstößiges in Ihrem verrückten Betragen zu finden, daß es mich wahrhaftig nicht wundern sollte, wenn Herr Allen, der Forstverwalter. an eine Verbindung mit Lady Vere de Vere dächte!«

»Nein, da sei Gott vor!« lachte Georg wild, »das wäre ja eine fürchterliche Sünde, der sich ein so armer Teufel bei Leibe nicht schuldig machen darf. So wissen Sie denn, mein Bester, wenn Sie das vielleicht beruhigt, daß es kein Paria war, der die freche Hand nach der Braminentochter ausstreckte, daß es ein Sohn des Lichts war, wie Ew. Herrlichkeit, der sehen darf nach den Töchtern der Erde, wie sie schön sind; daß Lady Vere sich nicht weggeworfen hätte, wenn sie die Hand annahm, die ihr Lord Vere antrug. Lord Vere! Pah! da liegt die Lordschaft und die ganze Herrlichkeit!« – und er stieß ihm verächtlich die Papiere zu, die noch auf dem Tische lagen, an dem sie standen.

O Georg! da war dir doch wohl ein Lindenblatt auf die Schulter gefallen, und hatte da eine böse, verwundbare Stelle gelassen! Was ging der Herzog dich an? Was ging ihn der ganze Handel an? Was konnte es dir sein, ob er dich für einen übermüthigen Knecht hielt; oder für einen Tollhäusler; oder für was er wollte! –

Georg bereute das Wort, so wie er es gesprochen. Er hatte den kläffenden Hund verjagen wollen, und sah zu seinem Schrecken, daß er das arme Thier todt geschlagen habe. Aber das Wort war heraus; und der erstaunte Herzog hatte die Papiere ergriffen. Er brauchte nur einen Blick in ein paar Documente zu werfen, – das Verhältniß Georg's zu dem verstorbenen Lord fuhr ihm durch den Kopf; es ward ihm in einem Augenblicke klar, daß er hier vor einem Familiengeheimnisse stehe; daß Georg der Sohn des alten, wunderlichen Lord Vere sei.

Der Herzog stand wie erstarrt. Ein Europäer, der in einem tätowirten Wilden plötzlich einen Landsmann entdeckt, kann nicht mehr überrascht sein. Aber es war durchaus keine freudige Ueberraschung. – Sein Kopf war nicht der hellste; aber er ahnte, daß Georg's Verhältniß zu Lady Vere doch wohl ein anderes gewesen sein möchte.

Er wurde scharfsichtig in seiner eigenen Angelegenheit.

»Ich bin aufs höchste überrascht,« sagte er »in Ihnen den Sohn des verstorbenen Lords zu sehen. Ich verstehe die ganze Sachlage noch nicht, aber ich nehme keinen Augenblick Anstand, es als gewiß anzunehmen, da Sie es mich versichern, der Sie offenbar diese Papiere genau kennen. – Es ist das ein gar seltsamer Handel.«

»Lassen wir diesen seltsamen Handel ruhen, Mylord!« sagte Georg, der retten wollte, was noch zu retten war. »Sie haben vorhin ein Wort bereut, haben es freilich hernach wiederholt; – ich bereue auch dieses Wort, was ich so eben sprach, ich werde es aber nicht wiederholen. Ich wollte nicht als ein Narr vor Ihnen erscheinen, und ward es erst recht. – Versprechen Sie mir, keinem Menschen, wer es auch sei, das Geheimniß mitzutheilen! Es darf nicht außerhalb dieses Saals gehört werden. Ich bitte Sie dringend, Mylord, versprechen Sie mir das! Ich will Ihnen jede Aufklärung geben, die Sie wünschen können; – aber nicht hier, nicht jetzt! Ich kann nicht länger bleiben.«

»Gewiß, gewiß, wünsche ich weitere Aufklärung. Ich gebe Ihnen mein Wort, daß ich mit Niemanden von der Sache sprechen werde, als bis Sie selbst darüber entschieden haben. Aber mein Gott, seit wann wußten Sie es denn? Verzeihen Sie, daß ich mich weiter in Ihr Geheimniß dringe; aber es geht mich näher an, wie Sie glauben. Sie wissen nicht, daß ich – daß Lady Vere mir – sie weiß ja von nichts – sie hat Sie zurückgewiesen, ohne Zweifel; aber Sie würden kein Geständniß gewagt haben – wenn nicht – Gewiß! Sie hatten andere Rechte! gestehen Sie, Sie forderten nichts, als worauf Sie schon gegründete Ansprüche hatten.«

»Sie hörten es ja selbst,« – sagte Georg ungeduldig, »Lady Vere glaubt ja, ich sei toll.«

»O nein, nein! – Jetzt verstehe ich erst die Scene aus Romeo und Julia! das war« –

»Schauspielertalent, – Schauspielertalent – nichts weiter! Nein, nein, Mylord! Ihr erstes Wort soll gelten. Ich war toll! Wer heißt mich, Ton und Blick vor Gericht ziehen? wer heißt mich, auf so luftigen Fundamenten mein Haus bauen? Es ist natürlich, daß es mir über dem Kopf zusammenfällt.«

»Und Sie wollen nicht versuchen« –

»Nie! das Fundament, auf dem ich baute, so luftig es war, – für mich war es Fels. Ich verlange nimmer ein festeres! ich kenne kein festeres! Verzeihen Sie mir, ich spreche in Räthseln, und doch kann ich Ihnen nicht deutlicher werden, so gern ich es wollte. – Die Gesellschaft versammelt sich unten im Saal. Gehen Sie, Mylord, man wird Sie vermissen! Vergessen Sie für den Augenblick, daß es einen anderen Lord Vere giebt, als Ihren guten Wirth, und mögen Sie nie – Kommen Sie morgen, wenn Sie können, nach meinem Hause; ich würde Sie hier nicht ungestört sprechen können.« –

Draußen war es dunkel geworden. Der Mond stieg, wie eine ungeheure Feuerkugel, dem Balkonfenster gegenüber über den Wald empor, und warf sein fahles Licht auf die erregten Gesichter der beiden jungen Männer. –

Der Herzog war in tiefes Sinnen gesunken. Er sah mechanisch zu, wie Georg die Papiere ergriff und zu sich steckte; wie er eins der Bilder von der Wand nahm, und unschlüssig wog, als wolle er es mitnehmen, dann aber wieder an seine alte Stelle hing; und er erwachte erst, als Georg wieder auf ihn zutrat.

Sie gingen schweigend zusammen aus dem Saal, und die Thür schloß sich hinter ihnen.


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