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XIII.

Die Gesellschaft auf Schloß Vere war so daran gewöhnt, Sonnenschein und Vogelsang, heitere Morgen, heiße Mittage und erquickende, goldene Abendstunden unzertrennlich zu denken von ihrem Aufenthalt auf dem Lande, daß sie ernstlich überrascht war, und sich sehr ungerecht behandelt glaubte, als eines Abends eine muntere Cavalcade froh sein konnte, in dem Hause des kleinen Pastors im Dorfe ein Obdach vor dem plötzlich hereinbrechenden Regensturm zu finden, und auch am nächsten Morgen die Sonne durchaus keine Miene machte, hinter den schweren Wolken hervorzukommen, ja für einige Tage der Gesellschaft die Aufgabe stellte, wie diese ohne ihre freundliche Mitwirkung und mit einem strömenden Regen fertig zu werden vermöge. Der kleine Lord Vere war in Verzweiflung. Er sah durch die Ungunst der Witterung sein Princip im Grunde erschüttert; er glaubte bemerkt zu haben, wie sich einige Blicke mit einem unheimlich-fragenden Ausdruck auf ihn richteten, und er fuhr ordentlich zusammen, als der Herzog von Arlington am Abend des zweiten Tages sich offen mit der verzweifelten Frage an ihn wandte:

»Und nun, Mylord! was beginnen wir bei diesem unverantwortlichen Regen?« –

Er klingelte seinen Kammerdiener des Nachts mehr wie einmal heraus, um sich nach dem Stand des Wetters zu erkundigen, und legte sich verdrießlich auf die andere Seite, wenn er hörte, daß es noch immer regne, und die Mondessichel nur von Zeit zu Zeit durch die jagenden Wolken blicke.

Lady Vere war erhaben über die kleinliche Schwäche, sich durch einige böse Tage die gute Laune verderben zu lassen. Erstlich war ihr jede Veränderung als Veränderung lieb, sodann war ihr wirklich das ewig heitre Wetter nach gerade ernstlich zuwider geworden, und endlich begünstigte der anhaltende Regen, der die Gesellschaft in's Haus bannte, und die Jagd auf einige Tage einzustellen nöthigte, einen Plan, den in's Werk zu setzen sie sehnlich auf die erste passende Gelegenheit gewartet hatte. Lady Vere geduldete sich noch zwei Tage: Georg war im Schlosse gewesen; war aber nach einer kurzen Unterredung mit Lord Vere sogleich wieder fortgeritten. –

Die Damen hatten ihre Stickereien hervorgesucht und gefunden, daß einige nothwendige Schattirungen fehlten; die Herren hatten die noch nicht beantworteten Briefe beantwortet, die noch nicht gelesenen Zeitungen gelesen, und Alle kamen nun wieder aus den Gastzimmern hervor, wie Hühner unter dem Wagen, wenn sie glauben, daß es nun genug geregnet habe – und Alles versammelte sich wieder in dem Gesellschaftssaale, und man las auf allen Gesichtern: es ist Zeit, daß der Feind die Belagerung aufhebt, denn unsere Vorräthe sind erschöpft. Ja, einige ungeduldige Geister beriethen flüsternd in einer Ecke einen Ausfall auf Leben und Tod, und der junge Lord F., der gefürchtete Held der Rennbahnen, sagte mit Nachdruck: »Es ist besser, einen ehrlichen Reitertod auf den schlüpfrigen Wegen sterben, als hier auf dem glatten Parquet vor Langeweile.«

»Was hindert uns« – fragte Lady Vere am dritten Abend den kleinen Kreis Auserwählter, der sich um sie schaarte und von ihr Rettung aus der Gefahr und Trost im Unglück erwartete, »was hindert uns, etwas zusammen zu lesen, vielleicht ein Schauspiel mit vertheilten Rollen, oder noch besser, gleich eins aufzuführen?«

»Aufführen!« erscholl es von allen Seiten. Der Herzog war so entzückt über diesen Vorschlag, daß er halblaut zu seinem Nachbar sagte: »bei Gott, sie hat mehr Verstand in ihrem kleinen Finger, als wir beide in unseren Köpfen!« eine Behauptung, welcher der Andere unbedenklich beistimmte, da er keine Schande darin sah, ein, wenn auch trauriges, Schicksal mit einem Herzog zu theilen.

»Was sollen wir spielen?« war die Frage, die von allen Seiten eben so einmüthig aufgestellt, wie verschiedenartig beantwortet wurde. »Lassen Sie uns eine Charade aufführen!« rief eine Stimme; »oder König Lear!« eine andere. Alles lachte.

»Im König Lear« sagte Herr Burn, der ausgezeichnete Parlamentsredner, leise zum Pastor, dem er die Ehre seiner geistreichen Unterhaltung öfters zu Theil werden ließ, weil der Geistliche wirklich ein vortrefflicher Kopf war – »wüßte ich nur eine Rolle zu besetzen: die Goneril, und für die Regan wäre auch gesorgt, wenn Lady Vere eine ihr ähnliche Schwester hätte.«

Lady Vere's klare Stimme unterbrach den Lärm: »Wir streiten uns um den Titel des Stücks, und sind schon mitten in der Aufführung! Was ist denn dies, wenn es nicht ›Viel Lärmen um Nichts‹ ist?«

»Sagte ich es nicht!« rief der Herzog überlaut.

»Was, Mylord?« fragte Lady Vere

»Daß ich Recht habe; oder vielmehr, daß Sie Recht haben, wie immer.«

Es ging jetzt an die Austheilung der Rollen.

Wer Beatrix spielen sollte, fragte Niemand. Den Don Pedro sollte der Herzog übernehmen; eben so leicht waren die übrigen Rollen vertheilt; nur um Benedict erhub sich großer Streit, wie um die Waffen des Peliden – diese Lanze konnte oder wollte Keiner schwingen.

»Ich wüßte nur Einen,« sagte der Pfarrer, vielleicht etwas böswillig, »aber er ist augenblicklich nicht anwesend: ich meine Herrn Allen!«

Hätte der kleine Pastor gewußt, welchen Dienst er, diesmal freilich, ohne es zu wollen, Lady Vere leistete, – und der würdige Mann sah es im Allgemeinen nicht ungern, wenn er sich die Mächtigen verpflichtete – er hätte dem neckischen Dämon, der ihm diesen Namen zuflüsterte, Dank gewußt: Lady Vere sann eben darüber nach, wie sie Georg auf eine schickliche Weise in's Spiel bringen könnte.

»Bravo, Herr Pastor!« rief sie erfreut, »das war einmal ein gescheiter Einfall!«

»Wer ist Herr Allen?« fragte der Herzog, der kein Jäger war, und Georg noch nicht kennen gelernt hatte.

»Herr Allen ist derselbe junge Mann, den Ew. Herrlichkeit Lord Vere wollten abspänstig machen: der Verwalter der Forsten.«

Der Herzog sah etwas erstaunt aus, und blickte Lady Vere fragend an.

»O,« sagte die schöne Dame lachend: »Ew. Herrlichkeit können ganz ruhig sein! Herr Allen ist, trotz seiner unscheinbaren Stellung, was wir in unserer Sprache so bezeichnend einen Gentleman nennen.«

»Was nennen Sie einen Gentleman?« fragte Ihre Herrlichkeit.

»Das fragt mich der Herzog von Arlington!«

»Wollen Sie mir eine Definition dieses Wortes geben?«

»Das ist nicht leicht, Mylord, wenn es überhaupt möglich ist;« erwiederte Lady Vere, ihr glänzendes Auge fest auf das ausdruckslose Gesicht des Fragers heftend. »Ich wüßte nur in Bildern anzudeuten, was sich eben nur fühlen, also auch nicht scharf mehr definiren läßt. Es ist die innige Verschmelzung des Strengen und Zarten, die ja, um mit dem deutschen Dichter zu reden, den guten Klang giebt. Das Zarte, Feine, den Frauen Abgelauschte, in ihrem Umgange Herangebildete, liegt in dem, ›gentle‹; das Strenge, Feste, Starke, in dem Kampfe mit Männern Herausgearbeitete, in dem ›man‹; ›gentle‹ ist der Inbegriff aller geselligen Vorzüge, ›man‹ der Ausdruck für die Mannes- und Bürgertugend; ›man‹ ist der feurige Wein, ›gentle‹ die kunstvolle Trinkschale; ›man‹ ist die scharfe, correcte Zeichnung, ›gentle‹ das warme, weiche Colorit; ›gentle‹ mag der Sybarit sein, den ein zusammengerolltes Rosenblatt im Schlafe stört; ›man‹ der Brutus, der seine Kinder opfert, aber Perikles, der tapfre, großherzige, feine, liebenswürdige Athener ist Gentleman.«

»Das verstehe ich nicht;« sagte der Herzog.

»Ist jeder Gentleman ein Perikles?« fragte Einer aus der Gesellschaft.

»Das habe ich nicht behauptet,« antwortete Lady Vere, »ich habe nur gesagt, daß Perikles ein Gentleman gewesen ist.«

»Verstehen Sie recht;« sagte Herr Burn, »man nennt Viele Christen, ob sie gleich mit ihrem göttlichen Vorbilde nur eine sehr entfernte Ähnlichkeit haben.«

»Ganz meine Meinung!« sagte Lady Vere

»Können Sie uns nicht eine eben so geistreiche Definition von dem Worte ›Lady‹ geben?« fragte der Herzog.

»Das überlasse ich nun Ihnen, Mylord!« sagte Lady Vere mit einem bezaubernden Lächeln.

»War Aspasia eine Lady?« bemerkte der fraglustige Burn.

»Gewiß!« erwiederte Lady Vere, »es fehlte ihr nur eine Eigenschaft.«

»Die, daß sie nicht Lady Vere war!« murmelte Herr Burn.

»Der Einfall des Herrn Pastors war gut;« fing Lady Vere wieder an, »aber das Talent des Herrn Allen muß für den Augenblick anderweitig verwandt werden.«

»Wie das?« fragten Alle.

»Da die Gesellschaft mir freiwillig die Rolle einer Directrice zuertheilen zu wollen scheint,« fuhr sie mit schalkhafter Würde fort, »so bestimme ich Folgendes: Herr Burn übernimmt die Rolle des Benedict, die wie für ihn geschrieben ist, und zugleich das Amt eines Censors und Regisseurs. Wir ertheilen ihm die weiteste Vollmacht: Redensarten, Rollen, Scenen zu streichen; mit einem Worte, das Stück unseren Kräften und unserem Geschmacke anzupassen; und schieben somit die Verantwortung aller Sünden, deren wir uns gegen den Genius des größten Dichters schuldig machen, feierlich auf ihn. Die Rollen müssen zu Morgen früh ausgeschrieben, und in den Händen der Darsteller sein. Ich selbst bin im Besitz von nicht weniger als fünf Exemplaren, von denen vier aus der Sammlung des verstorbenen Lords, eines großen Verehrers von Shakspeare, stammen. Der Secretair des Lord Vere wird sich ein Vergnügen daraus machen, uns seine Nachtruhe zu opfern; wer ihm helfen will, erwirbt sich ein Verdienst um die Kunst, und den Dank der Gesellschaft.«

Diese Bestimmungen wurden mit großem Beifall angenommen; und Herr Burn empfahl sich an der Spitze seiner zahlreichen Freiwilligen, und begab sich mit ihnen in die Bibliothek; und der Wächter glaubte, der Geist des seligen Herrn gehe um, als er seit vier Jahren zum ersten Mal wieder während der ganzen Nacht Licht durch die hohen Fenster des alten Saales schimmern sah.


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