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III.

Als kaum die Sonne am nächsten Morgen herauf war, saß Georg schon munter an seiner Arbeit. – Diesem jungen Manne genügten wenige Stunden Schlaf. Er glich in der Schnellkraft seines geistigen und physischen Lebens jenen herrlichen, feingebauten arabischen Pferden mit den Muskeln von Stahl, die den Wüstensand durchfliegen, über die schroffen Felsen klimmen, denen die kärglichste Nahrung genügt, und die wenig Zeit bedürfen, um sich zu verschnaufen.

Die ernste, fast traurige Stimmung, in die ihn die Ereignisse und Gespräche des gestrigen Abends versetzt hatten, war verschwunden, wie das Dunkel vor den Strahlen der Sonne; er lachte dem jungen Morgen entgegen, wie die Lerche ihm entgegen jubelte, die bei Einbruch der Nacht sich still auf ihr Nest gesenkt. Die Feder, die er gestern Abend verdrossen aus der Hand gelegt, flog jetzt schnell und behend über das Blatt hin – er wollte noch, ehe er auf das Schloß ging, so viel schaffen, als sich noch schaffen ließ, wenngleich der Abschluß der Arbeiten, den er gewünscht hatte, durch die plötzliche Ankunft des Lords unmöglich wurde. –

»Wenn er mir so freie Hand läßt, wie mein Lord« – dachte der junge Mann, während er den Stand der Arbeiten noch einmal überschaute, »doch das ist nicht möglich! Wie wußte er so klug und bestimmt anzuordnen, wo er die Sache verstand; mit welcher Bescheidenheit und Rückhaltslosigkeit vertraute er, was ihm fremd war, geschickteren Händen – doch was war ihm fremd? er wußte Alles, er fand sich in Alles.«

Die Verehrung und Liebe, mit der Georg Allen an dem verstorbenen Lord gehangen hatte, und nun sein Andenken heilig bewahrte, glich fast einem Cultus. Wie der katholische Christ seinen Heiligen an allen wichtigen Ereignissen seines Lebens Theil nehmen läßt, so konnte die Seele dieses jungen Mannes kein Fest feiern, ohne daß Lord Vere dazu geladen war.

In seinen glänzendsten Träumereien, und gerade da am deutlichsten, schaute er Lord Vere's ernstes, seelenvolles Auge – in seinen geheimsten Unterredungen, die er mit Gott und der Natur pflog – und gerade da am vernehmlichsten, hörte er Lord Vere's tiefe, freundliche Stimme. – Nie hatte Georg Allen dem, der ihn persönlich beleidigt, lange zürnen können; aber seine Gutmüthigkeit und sein Langmuth waren kurz zu Ende, wenn auch nur das leiseste Wort des Tadels den verunglimpfen wollte, in dem er stets seinen Freund und Lehrer, seinen Herrn und Vater verehrt und geliebt hatte.

Es war ein sonderbarer Mann gewesen, dieser Lord Vere Die Einen hatten ihn für einen Narren gehalten, die Anderen ihn wie einen Heiligen verehrt; er hatte über den Spott der Einen freundlich gelächelt und die Verehrung der Anderen ernst zurückgewiesen. Keiner seiner Diener hatte je ein rauhes Wort von ihm gehört; die Kinder im Dorf sprangen dem alten Mann entgegen und liebkosten ihm, wenn er vorüber schritt; und die Meisten sagten, daß er kein Herz im Busen trage, und daß er ein Heide sei. Freilich, Niemand konnte sich erinnern, ihn je in der Kirche gesehen zu haben, und in den Hütten der Armen und Kranken sah man ihn selten, denn er schlich hin wie ein Dieb, und wie ein Dieb kaum anders, als in dunkler Nacht; aber Georg, der mit ihm, den oft der Schlaf floh, manche Mitternachtsstunde unter ernsten Gesprächen herangemacht; Georg, auf dessen Arm gelehnt er durch die Wälder und Fluren gewandelt war; Georg, der seit dem Augenblicke, als der Lord vor vier Jahren, gegen den Rath der Aerzte, die lange Reise nach Frankreich, Deutschland, Italien und dem Orient angetreten, und von der er nicht zurückgekehrt war, ihn kaum auf eine Stunde verlassen hatte; – wußte, daß dieser Heide in seinem tiefsten Herzensgrunde fromm und demüthig war, wie ein Kind.

Nie hatte ein Hülfesuchender seine Schwelle betreten, dem er nicht beigesprungen wäre mit Rath und That; aber er verstand nicht die Kunst, Worte zu machen, und ließ seine Handlungen für ihn sprechen.

Die müßige Klage fand kein Echo in seiner Brust. »Was nützt das eitle Jammern?« sprach er, »die Zeit der Wunder ist vorbei, hilfst Du Dir nicht selbst, kein Gott wird Dir helfen.« – »Mein Unternehmen ist schon dreimal gescheitert« – sagte man ihm. »Sieh' zu, wo der Fehler steckte;« antwortete er ruhig »und versuche es zum vierten Male.«

Aber den Menschen, wie sie lieber klagen, als handeln, ist das wortreiche Beileid lieber, als die wortkarge Hülfe. Unzähligen hatte Lord Vere geholfen, und Wenige dankten es ihm. Man hielt ihn für stolz, weil er die Menschen durchschaute, und weil der Schmeichler nichts galt vor ihm; weil sein ruhiges, ernstes Gesicht kein gefälliger Spiegel für Jedermanns Grimasse war; weil die Menschen sich ächte Menschenfreundlichkeit nicht gut denken können ohne eine geschmeidige Zunge und eine lächelnde Miene – aber Georg hatte ihn gesehen in der Gesellschaft der Großen der Erde: Lord Vere neigte sich nicht tiefer vor dem Großwürdenträger, wie vor dem Bettelmann; vor der Herzogin, wie vor ihrem Kammermädchen, und dankte dem Fürsten, der ihm eine Gunst zu erweisen glaubte, nicht wärmer, wie dem zerlumpten Buben, der ihm den Stock aufhob.

Er hatte durch bessere Bewirthschaftung seiner großen Besitzungen, besonders der Forsten, wobei ihn Georg nach Kräften unterstützte; – durch neu angelegte Fabriken; dadurch, daß er alte Werke in besseren Betrieb brachte, seiner Grafschaft unendlichen Nutzen geleistet, den Reichthum vermehrt, die Thätigkeit der Menschen geweckt und in neue Bahnen geleitet – und doch galt er im Allgemeinen für nichts viel Besseres, als für einen Leuteverderber.

Er hatte sich geweigert, zum Bau eines neuen Grafschaftsgefängnisses beizusteuern, indem er sagte, daß das alte schon zu groß sei; und den Herren, die, um seinen Beitrag entgegenzunehmen, zu ihm kamen, geantwortet:

»Ich habe unter meinen Leuten der Diebe mehrere. Der Eine hat mir vor einiger Zeit eine Summe gestohlen, die ich Ihnen nicht nennen will, um mir nicht vollends den Credit zu verderben. – Daß die Leute stehlen, ist schlimm; ich sehe aber nicht ein, was dadurch besser wird, daß ich sie in's Gefängniß schicke. Die sinnreiche Definition der Strafe: als das Recht des Unrechts, habe ich in diesem Sinne nie verstehen können. Wenn ich die armen Menschen aus dem Dienste jagte, würden sie Andere bestehlen, die den Schaden weniger leicht tragen könnten, wie ich. Ich habe sie verpflichtet – und nur unter dieser Bedingung werde ich ihrer schonen – in meinem Dienste zu bleiben, und wenn sie ihrem bösen Hange nicht widerstehen können, nur mich zu bestehlen. – Sie können aber hier auch Niemandem weiter schaden, wie mir. – Wenn die Leute stehlen, so drückt sie der Schuh irgendwo. Entweder sie haben selbst für bescheidene Ansprüche nicht genug, – und sie thun es aus Noth; oder sie haben genug – und das ist bei mir der Fall – und sie stehlen, um irgend welchen thörichten Begierden fröhnen zu können. Ich will ihnen die Seelenkrankheiten, an denen diese Unglücklichen leiden, nicht nennen; genug: ich kenne diese Krankheiten und ich halte sie für heilbar. Der beste Arzt ist der, welcher so viel wie möglich dafür sorgt, daß die Leute gar nicht krank werden.«

Die Welt sagte: Schloß Vere sei eine Diebeshöhle, und Lord Vere sei in seiner Jugend ein Taugenichts gewesen, und wenn er gegen die Verbrecher so milde sei, werde das schon seine guten Gründe haben.

Lord Vere sagte lächelnd: es hat auch seine guten Gründe.

Diesem Manne verdankte Georg, wie er gern behauptete, Alles – im Sinne der Leute freilich, Nichts.

Die Eltern Georg's starben, als sie mit einem nicht unbedeutenden Vermögen, das sie sich in Amerika schnell erworben, nach England zurückgekehrt waren, kurz nach ihrer Ankunft rasch hintereinander. Sein Pflegevater, dessen Obhut die Verwandten ihr einziges kleines Kind und die Verwaltung seines Vermögens anvertrauten, hatte sich des armen, so früh verwaisten Knaben treulich angenommen. Er hatte ihn auf Anrathen des Lord Vere, der sich in ihm einen tüchtigen Diener heranbilden wollte, zusammen mit seinem eigenen Sohne Lorenz bei einem würdigen Geistlichen, einem tüchtigen Gelehrten, in derselben kleinen Seestadt, in der Georgs Eltern gestorben waren, auf eigne Kosten erziehen lassen. –

Als der Jüngling in das Haus seiner Pflegeeltern zurückkehrte, nahm er zwar die Stelle eines Privatsecretairs bei Lord Vere an; aber seine ausgezeichneten Kenntnisse, und sein unberührtes Vermögen hätten ihn auch jede andere Laufbahn, mit gewisser Aussicht auf Erfolg, einzuschlagen berechtigt.

Von dem Augenblicke freilich, wo Georg in die Dienste des Lords trat, war er an diesen wunderlichen Mann, wie durch einen Zauberbann gefesselt. Keinem Menschen hätte auch ein strebsamer, talentvoller Jüngling williger Dienste geleistet, wie ihm, weil er bald einsehen mußte, daß er sich damit selbst den größten Dienst leistete.

Lord Vere ließ den jungen Mann an allen seinen vielen Entwürfen und Arbeiten den umfassendsten Antheil nehmen. Er selbst war kein zu verachtender Gelehrter, und in den Natur- und mathematischen Wissenschaften galt er allgemein für eine Autorität. Der unermüdliche Jüngling kannte bald keinen größeren Stolz, als Lord Vere bei seinen Arbeiten helfen zu können. Was aber das Beste war, und was der hochsinnige Georg mit Bewunderung erkannte: er hatte in Lord Vere einen Mann vor sich, dessen Denken mit seinem Handeln im vollkommensten Einklang stand, einen Menschen, aus ganzem Holz geschnitten, wie sie das einfachere Alterthum häufiger erzeugte, und wie sie in der wechselvollen Temperatur unsers modernen Lebens nur spärlich gedeihen. –

Georg war schon draußen gewesen. Er hatte seinen Leuten Befehle für den Tag ertheilt, dem Knecht das Pferd zu satteln befohlen, und stand in seiner Stube zum Ausritt fertig, als ein wohlbekanntes Pochen an seiner Thür sich vernehmen ließ.

»Nur herein, Helene!« sagte der junge Mann.

»Schon auf, Georg?« sagte sie, den Kopf hereinsteckend, »schon auf und davon?« fuhr sie eintretend fort. »Sie müssen besser geschlafen haben, wie ich. Ich hörte die Mutter die halbe Nacht ruhelos nebenan auf und abgehn; ich habe mich nicht geregt, aber geschlafen habe ich auch nicht.«

»Sie sehen blaß aus, armes Mädchen! Unser Gang gestern Abend hat Sie zu sehr angegriffen; der bleiche Mond und der kalte Nachtthau schaden so frischen Blumen. Wo ist die Mutter?«

»Auf ihrem Zimmer, gehen Sie nicht zu ihr, sie will Niemand sehen.«

»Ich muß fort, Helene. Schaffen Sie die Mutter heiter; aber werden Sie es nur erst selbst! Sie wissen, ich kann Sie nicht traurig sehen.«

»Sind Sie zu Mittag wieder hier?«

»Ich weiß nicht. Ich habe heute viel zu thun; – ich muß mich tummeln – ich will sehen.«

»Reiten Sie auf's Schloß, Georg?«

»Auch das, liebe Helene.«

Der junge Mann saß auf, und ritt davon.

Georg hatte recht: er konnte Helene nicht traurig sehen, ohne es selbst zu werden. Sie war eine so frische, freie Natur; ihr blaues Auge blickte so fröhlich in die Welt; ihr Lachen klang so silberhell! ja ihre Stimme hatte einen so frohen, heiteren Klang – das Wirbeln der Lerche, die in den blauen Aether aufsteigt, war nicht verlockender zum Frohsinn. Es hatte für Georg immer etwas unendlich Schmerzliches, wenn dieser helle Morgenhimmel einmal umwölkt war. Es kam ihm dann fast wie eine Sünde vor, froh zu sein; es war ihm, als wäre die Welt aus dem rechten Geleise.

Der Trübsinn der Mutter war ihm nicht halb so peinlich. Er ehrte ihren stillen Schmerz; sein, wie Helenens Sinnen war nur, wie sie die gute Mutter dem Leben wiedergewinnen könnten. Aber alle ihre herzlichen Bemühungen konnten ihr nichts als ein schmerzliches Lächeln entlocken. Sie litt es nicht, daß Georg und Helene an ihrem Kummer Theil nahmen.

»Euch steht die Welt offen,« sagte sie »Ihr sollt fröhlich sein; ihr lernt den Schmerz noch früh genug. Laßt mich allein: ihr wißt nicht, was ich weiß.«

Sie sprach nie über den Tod ihres Gatten oder ihres Sohnes; sie wollte nicht, daß in ihrer Gegenwart davon gesprochen würde, aber man sah es nur allzu deutlich, daß sie nichts anderes beschäftigte, als der Gedanke daran, Tag und Nacht. –

Ihr Trübsinn, dem sie sich oft auf ganze Tage so sehr überließ, daß selbst Georg und Helene ihre Einsamkeit nicht stören durften, hatte den jungen Mann öfters für ihren Verstand bange gemacht. Aber es beruhigte ihn dann wieder, wenn in anderen Zeiten die Mutter Wochen lang still und fleißig im Hause schaffte; wenn ihr Helene vorsingen und spielen durfte, wenn er von seinem Lord, und von seinen Reisen erzählen mußte; wenn sie die jungen Leute zu einem Spaziergang ermunterte, oder eine Arie zusammen einzuüben, und auf alle Weise ihr Glück befördern half.

Dazu kam, daß in der alten Frau die Eindrücke ihrer jungen Jahre wieder erwachten; daß sie in der Erinnerung wieder wandelte auf den weiten schottischen Heiden, wo sie ihre Kindheit verlebt hatte, daß die düsteren Sagen und der finstere Aberglaube ihrer Heimath wieder in ihr lebendig wurden; und die sonst so aufgeklärte und heitere Frau dem geheimnißvollen Schauer einer übernatürlichen Welt sich willig hingab und ihren Offenbarungen lauschte. Daraus erklärte sich Georg auch ihr seltsames Wesen am gestrigen Abende; aber wie sein klarer Sinn kein Verständniß hatte für diese düsteren Regionen, so beunruhigte es ihn wenig.

Er wußte selbst nicht, was ihn heute Morgen noch heiterer, wie gewöhnlich stimmte, als er die bekannten Pfade durch den duftigen Wald ritt. – Die rasche Bewegung, der Morgenwind, der mit den Zweigen spielte, und Thautropfen auf ihn niederregnen ließ, die Sonnenstrahlen, die durch das Laub zitterten und bunte Schatten auf seinen Weg streuten; – er athmete mit vollen Zügen die wonnige, kühle Waldesluft ein; – ihm war so wohl, so leicht;– es mußte ein Zauber im Walde sein! –

Er wollte nach einem Platz reiten, wo er heute eine neue Arbeit beginnen ließ, und eine Menge Leute ihn erwarteten, und er war erstaunt, als er plötzlich, weit von seinem Wege ab, auf der Wiese im Walde, auf derselben Stelle hielt, wo gestern Clara Vere ihr Pferd angehalten hatte. Er sah nach der Seite, von der sie gekommen; es war ihm, als müßten die Büsche sich wieder theilen, als müßte die schöne Dame wieder hervorreiten auf ihrem schwarzen, schäumenden Renner. Er mußte lachen über sein Träumen am hellen Tage – er ritt weiter zu den Arbeitern; dann zu anderen Stellen, die er hatte sehen wollen, aber er hielt sich nirgends lange auf; – er war so ungeduldig, von Lord Vere seine Pläne und Entwürfe gebilligt zu sehen, daß er schon viel früher, als er gedacht hatte, an der Stelle ankam, wo auf dieser Seite, der Kapelle gegenüber, der Weg von den Hügeln hinab nach Schloß Vere führte.

Es war noch so früh, daß er das schnaubende Pferd anhielt, um zu überlegen, ob er schon jetzt seinen Besuch machen konnte, und einige Zeit unentschlossen in das Thal hinabsah.


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