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V.

Es war schon Nachmittag, als Georg am Försterhause ankam. Helene hatte mit dem Essen auf ihn gewartet, die Mutter das Zimmer noch nicht verlassen.

»Wissen Sie, Georg«, sagte das junge Mädchen, »daß es gerade heute sehr wichtig war, ob Sie zu Mittag zu Haus waren, oder nicht?«

»Nein, Helene, weßhalb das? hat sich etwas ereignet?«

»Ich habe davon Ihre Zukunft abhängig gemacht; ich kann Ihnen jetzt Ihr Schicksal prophezeien.

»Und das wäre?«

»Haben Sie Lady Vere gesehen?« fragte Helene als Antwort.

»Ja! was hat Lady Vere mit meinem Schicksal zu schaffen?«

»Mehr, als Sie glauben!« sagte Helene.

»Können Sie auch daraus wahrsagen, Sie liebe Zigeunerin mit den blauen Augen, daß ich Lady Vere Deutsch lehren soll?«

»O! Lady Vere! Sie werden Lady Vere noch Manches lehren, und noch Manches von ihr lernen!«

»Was denn zum Beispiel, liebe Helene?«

»Was weiß ich!« sagte Helene, fast weinend.

Es war ein wunderliches Verhältniß zwischen den Beiden.

Sie war sein Liebling gewesen von jeher. Er hatte ihr seit der Zeit, als ihn der Pflegevater zum ersten Mal mit auf die Jagd nahm, und damals war er gerade dreizehn Jahre alt, mit jener Zärtlichkeit gehuldigt, die jeder großherzige Knabe, ehe eine andere Liebe in ihm erwacht, einer jüngeren, reizenden Schwester weiht, und die in ihrer Leidenschaftlichkeit, ihrem Ungestüm, ihrer Eifersucht, ihrer Ritterlichkeit etwas unendlich Rührendes hat. Helene zu lieben, mit ihr Alles zu theilen, ihr Alles zuzutragen, von dem Vogel, den er im Walde gefangen, bis zu einem schönen Gedichte, das er gelesen, war ihm so natürlich, wie zu athmen; und er hatte sich niemals über die Natur seiner Liebe zu dem holden Mädchen Rechenschaft gegeben, wie der Mensch, der voll athmet, und dem das Herz muthig schlägt, nicht weiter über die Beschaffenheit und Lage seiner Lunge und seines Herzens nachdenkt.

Als er von seiner Reise zurückkehrte, war es ihm wenig aufgefallen, daß ihm das wilde Mädchen von vierzehn Jahren zur reizenden Jungfrau entfaltet entgegentrat. Hatte sich doch in allen alten Verhältnissen so viel Neues eingefunden; war doch seine ganze Stellung so ganz verändert! Er glaubte noch mit Helene auf dem alten Fuße zu stehen; er fand es so natürlich, daß sie ihm bei seiner Ankunft nicht entgegen gesprungen war, und ihn geküßt und geherzt hatte, wie sie es sonst gethan, wenn er aus den Ferien nach Hause kam; und als sie eines Abends das vertrauliche »Du« feierlich in das förmlichere »Sie« verwandelten, dachte er wohl nicht, daß sich ein gut Theil Ernst in den Scherz mischte. –

Waren sie doch Beide so viel älter und verständiger geworden! Er glaubte, wenn er ja einmal über das Verhältniß nachdachte, daß alle Brüder auf der Welt so gegen ihre Schwestern seien, wie er gegen Helene, und alle Schwestern gegen ihre Brüder, wie Helene gegen ihn; und nur ein einziges Mal, als Helene die alte Mutter zärtlich umarmte, war ihm der Gedanke durch den Sinn gefahren, daß der Kuß jenes ersten Abends für nun fast ein volles Jahr der erste und letzte gewesen sei. Aber liebten sie sich denn nicht wie Geschwister? und war ihre Freundschaft nicht dieselbe, ob mit, ob ohne Austausch von Zärtlichkeiten? –

Freundschaft! Geschwisterliebe! diese reizenden Mährchen, die sich Personen verschiedenen Geschlechts, die nicht Bruder und Schwester sind, nur zu gern einander erzählen, und an die sie so ehrbar glauben, wie die Kinder an die goldene Krone, mit der der König zu Bette geht, und an die drei eisernen Reifen, die der treue Heinrich um sein Herz gelegt hatte.

Glaubte Helene auch an die eisernen Reifen?

Ach! der eine war wohl schon gesprungen, als Georg, von der südlichen Sonne gebräunt, ein Mann, zurückgekehrt war von der Reise, zu der er als schlanker Jüngling ausgefahren; als er sie in seinem Arm gehalten und freundlich und forschend mit seinem treuen Auge, das so viel fester und ernster blickte, ihr in's Aug' gesehen; und heute Morgen, als sie, in der Ungeduld über sein langes Ausbleiben, ein Buch aus seiner Stube holen wollte, und, ohne eine Zeile zu lesen, lange Zeit in seinem Arbeitssessel geträumt hatte, und an Lady Vere gedacht hatte, und sein aufgeregtes Wesen von gestern Abend; – da war mit dem tiefen Seufzer auch wohl der zweite Reifen gesprungen, und das Herz schlug höher, wenn auch nicht leichter.

Das Weib ist in solchen Angelegenheiten unendlich feinfühlender, als der zartfühlendste Mann. – Jedes Genie ist ja bekanntlich ein geborner Kunstrichter, und jedes Weib ein Genie, wo es liebt, und eine geborne Richterin in der Liebe, und Aphrodite und die Musen sind sich von jeher freundlich begegnet.

Die Mysterien der Liebe und die der Kunst erklären sich oft gegenseitig, und die Kunst ist der geheimnißvolle Tempel, zu dem die Liebe die Vorhalle ist. Nur der Eingeweihte tritt in das Allerheiligste; nur ihm löst sich das große Weltengeheimniß ganz, das dem Betenden in der Vorhalle in dunklen Träumen und räthselhaften Bildern dämmernd und nur auf Augenblicke theilweise sich offenbart. Aber nur die Vorhalle führt in den Tempel, und der Künstler ist erst der rechte Künstler, wenn er durch das heilige Feuer der Liebe geläutert ist, und dem gewöhnlichsten Sterblichen, wenn er liebt, zeigen sich wundervolle Gesichte, und er fühlt sich dem Allerheiligsten näher.

Und Helene Locksley war kein gewöhnlicher Geist, ob sie gleich weniger gut zu sprechen wußte, wie Lady Vere, und wohl gar ganz still war, gerade, wenn sie am lebhaftesten und tiefsten fühlte. Sie hatte mit Georg gelernt, und Georg mit ihr. Er hatte ihr nach und nach fast Alles mitgetheilt, was die Freude seiner Seele und das Mark seines innersten Lebens war. Helene verdankte ihm viel, und glaubte ihm Alles zu verdanken. Sie war seine liebe, gelehrige Schülerin; er war stolz, sie zu lehren; sie war stolz darauf, von ihm zu lernen; und sie merkte in ihrer Bescheidenheit nicht, daß die Schülerin oft den Lehrer lehrte. Er war ihr starker Hort, an den sie sich schmiegte, wie die Rebe an den Ulmbaum.

Ihr Vertrauen zu ihm war grenzenlos: sie hätte ihm geglaubt, wenn auch nach einigem Bedenken, daß die Mohren weiß seien, wenn er es sie ernstlich versichert hätte, und sie wäre an seiner Seite unbedenklich in jede Gefahr gegangen, und hätte sich sicher geträumt, wie das Kind an der Mutterbrust.

Wie ganz anders war dies Verhältniß zu dem Starken, Kühnen, als das zu ihrem träumerischen, geliebten Bruder gewesen war! Hier war ihr ein Maßstab gegeben für das Gefühl, das sie für Georg hatte. Es war nicht blos, daß es stärker war, – nein – nein – das Gefühl selbst war ein anderes, tiefer, geheimnißvoller.

Wußte Helene, daß sie Georg liebte? das nun gerade nicht; vielleicht ahnte sie es nur erst. Noch hielt der dritte Reif um ihr Herz.

War sie eifersüchtig auf Lady Vere? Was wußte sie denn von Lady Vere? was hatte er ihr denn von ihr gesagt? O, so wenig! aber die Augen der Liebe sehen so scharf! und es wollte ihr nicht gefallen, daß sie mit Lady Vere Georg's Unterricht theilen sollte – es war ihr nie in den Sinn gekommen, daß so etwas überhaupt auch nur möglich sei.

Und Georg? warum war er heute gegen Helene aufmerksamer und liebevoller, wie je? warum sah er so forschend in ihr liebes Gesicht, das heute so nachdenklich war? und warum fiel es ihm heute zum ersten Male auf, daß in ihrem warmen, sonnigen Teint einige Sommersprossen sich zeigten? warum war ihm ihr Auge nie so wundervoll blau vorgekommen? O! Helene hatte Recht: Georg würde noch viel lernen von Clara Vere


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