Walter Scott
Ivanhoe
Walter Scott

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechzehntes Kapitel.

Die Reisenden waren am Saume eines Waldes angelangt und wollten nun den dichten Forst durchqueren, der damals sehr unsicher war, weil sich eine große Zahl Geächteter, durch Knechtung und Armut zur Verzweiflung getrieben, in so zahlreichen Horden in den Waldungen herumtrieb, daß die zu jener Zeit noch wenig ausgeübte Polizei nichts gegen sie ausrichten konnte. Cedric und Athelstane hielten sich aber, trotzdem es schon sehr spät war, für völlig sicher, da sie außer Gurth und Wamba zehn Diener bei sich hatten. Auf die beiden ersteren glaubten sie nicht rechnen zu können, weil der letztere ein Narr und der erstere ein Gefangener war. Außerdem rechneten Cedric und Athelstane ebensosehr auf ihren Namen und ihre Abkunft wie auf ihren Mut. Die Geächteten, die durch die Strenge der Forstgesetze zu solcher Not und ihrem Räuberleben verurteilt waren, bestanden in der Mehrzahl aus sächsischen Bauern und Yeomen, die Eigentum und Person ihrer Landsleute respektierten.

Als die Reisenden ein Stück weitergeritten waren, wurden sie durch mehrfache Hilferufe erschreckt. Sie eilten nach der Stelle, von wo es herkam, und fanden zu ihrer Verwunderung neben einer am Boden stehenden Sänfte ein junges Mädchen in reicher jüdischer Tracht. Ein alter Mann, der an seinem gelben Hute auch als Jude zu erkennen war, ging mit Gebärden tiefster Verzweiflung auf und ab. Er rang die Hände, als wenn ihm ein großes Unglück zugestoßen wäre. Cedric und Athelstane fragten, was ihm geschehen sei. Der Jude wußte weiter nichts zu erwidern, als daß er alle Erzväter des alten Testaments zum Schutze gegen die Kinder Israels aufrief, die dahergekommen wären, ihn mit der Schärfe des Schwertes zu erschlagen. Als sich endlich der erste Schreck gelegt hatte, begann Isaak von York (denn er war es) zu erzählen, daß er in Ashby eine Wache von sechs Mann gedungen habe, um einen kranken Freund wegzuschaffen. Bis Doncaster hätten sie ihn bringen sollen. Nun seien sie glücklich bis hierher gekommen, da hätten sie gehört, daß eine Bande Geächteter im Walde streife, und da wären die Gedungenen ohne weiteres ausgerissen und hätten auch die Pferde mitgenommen. Nun wäre der Jude nicht nur jedes Schutzes beraubt, sondern es sei ihm auch die Möglichkeit zu fliehen genommen worden, und er und seine Tochter säßen nun hier, jeden Augenblick gewärtig, von den Strolchen überfallen, ausgeraubt und am Ende gar ermordet zu werden.

»Wenn Eure Ritterschaft erlauben,« sagte Isaak im Tone tiefster Demut, »daß die armen Juden unter Euerm Schutze weiterreisten, so schwöre ich bei unseren Gesetzestafeln, nie seit unserem Exil hat ein Sohn Israels Wohltaten empfangen, die so tief im Herzen dankbar gefühlt worden seien.«

»Du Hund von einem Juden!« sagte Athelstane, dessen kleinliches Gemüt geringfügige Dinge, besonders Beleidigungen, nicht vergessen konnte, »weißt du noch, wie du uns auf der Tribüne zu Ashby frech gegenübergetreten bist? Ficht oder flieh! Oder tu dich mit den Räubern zusammen, wie du willst. Nur verlange von uns keinen Schutz, noch daß wir dich mitnehmen. Wenn die Geächteten nur solche ausplündern, die wie du alle Welt ausplündern, dann nenn ich sie die ehrlichsten Leute von der Welt.«

Cedric stimmte dem harten Urteil seines Gefährten nicht bei. »Wir tun besser,« sagte er, »wir lassen dem Juden zwei Diener und zwei Pferde, die sie zum nächsten Dorfe bringen. Das macht für uns nichts aus. Mit denen, die uns bleiben, und mit Euerm guten Schwerte, edler Athelstane, wird es uns ein leichtes sein, über zwanzig solcher Landstreicher Herr zu werden.« Erschrocken über die Nachricht, daß soviel Geächtete in der Nähe seien, bekräftigte Rowena nachdrücklich den Vorschlag ihres Vormundes. Rebekka erhob sich plötzlich, als Rowena so für sie sprach, ging durch die Reihen der Diener bis zu dem Zelter der sächsischen Lady und küßte den Saum ihres Kleides – wie es im Orient Sitte ist, wenn man sich an Vornehmere wendet. Dann warf sie den Schleier zurück und bat die Lady, im Namen Gottes, den sie beide fürchteten, und im Namen des verkündeten Gesetzes, an das sie beide glaubten, sie möge Mitleid mit ihnen haben und sie unter ihrem Schutze reisen lassen.

»Nicht für mich allein flehe ich,« sagte sie, »auch nicht für diesen armen alten Mann. Ich weiß, es ist in den Augen der Christen ein geringes Vergehen, ja fast ein Verdienst, unser Volk zu berauben und zu mißhandeln, und es gilt ihnen gleich, ob mitten in der Stadt oder auf weitem Feld oder in der Wildnis. Aber um eines Menschen willen, der vielen, ja Euch selber teuer ist, ersuche ich Euch, laßt den armen Kranken, der der sorgsamsten Pflege bedarf, unter Euerm Schutze reisen. Wenn ihm ein Unglück widerführe, den letzten Augenblick Euers Lebens würde es Euch verbittern, daß Ihr mir versagtet, worum ich Euch bat.«

Die edle, feierliche Weise, in der Rebekka diese Bitte vortrug, verlieh ihren Worten im Ohr der schönen Sächsin besonderen Nachdruck.

»Der Mann ist alt und schwach,« sagte sie zu ihrem Vormund, »das Mädchen jung und schön, ihr Freund krank und in Lebensgefahr, wir dürfen sie, obwohl sie Juden sind, nicht in dieser Not im Stiche lassen, wenn wir Christen sein wollen. Wir wollen zweien unserer Saumtiere das Gepäck abnehmen, das können die Leibeigenen tragen, dann kommen die Maultiere vor die Sänfte, und dem alten Mann und seiner Tochter können wir zwei Handpferde geben.«

Cedric erklärte sich gern damit einverstanden, und Athelstane stellte nur die Bedingung, daß sie im Nachtrab reiten sollten. »Dort mag sie Wamba mit seinem Schilde von Schinken beschützen,« setzte er hinzu.

»Ich habe meinen Schild auf dem Kampfplatze gelassen, wie es auch manchem besseren Ritter ergangen ist,« erwiderte der Narr. Athelstane wurde puterrot, denn er selber hatte ja dieses Mißgeschick am letzten Tage des Turniers gehabt. Rowena, der dieser Witz gefiel, rief, um die Grobheit ihres gefühllosen Verehrers wieder gutzumachen, der Jüdin zu, sie solle neben ihr reiten.

»Das würde sich für mich nicht schicken,« antwortete Rebekka bescheiden. »Eine solche Gesellschaft würde meiner Beschützerin nicht zur Ehre gereichen.«

Inzwischen war das Gepäck schnell umgeladen worden, das bloße Wort Geächtete machte jeden noch einmal so flink und behende, zumal die Dämmerung schon hereinbrach.

In diesem Wirrwarr wurde Gurth vom Pferde gehoben, er bat den Narren, ihm die Bande ein wenig zu lockern, und Wamba lockerte sie ihm vielleicht mit Absicht so sehr, daß es Gurth ein leichtes war, die Arme ganz von den Fesseln freizumachen und in das Gebüsch zu gleiten, wo er unbemerkt verschwand. Die Packerei verursachte viele Umstände, daher dauerte es eine geraume Weile, bis die Flucht Gurths entdeckt wurde. Es war überdies bestimmt worden, daß er für den Rest der Reise hinter einem der Diener hergehen sollte, und daher war man der Meinung, daß ihn noch einer seiner Gefährten im Gewahrsam habe. Als sich dann die Diener zuflüsterten, Gurth sei verschwunden, da waren alle eines plötzlichen Angriffes von Geächteten so unmittelbar gewärtig, daß man sich nicht weiter darum bekümmerte, ob Gurth noch da wäre oder wohin er entronnen sei.

Der Pfad, auf dem jetzt die Gesellschaft ruhig weiterritt, war so schmal, daß immer nur zwei nebeneinander reiten konnten. Es ging durch ein schmales, von einem Bach durchströmtes Tal; die Ufer des Wässerchens waren sumpfig und mit Zwergweiden bewachsen. Cedric und Athelstane verhehlten sich nicht, wie gefährlich ein Angriff an dieser Stelle sein müsse, während sie an der Spitze ihres Gefolges dahinritten. Aber keiner von ihnen war in militärischen Dingen so erfahren, daß er der Gefahr noch in anderer Weise als in großer Eile vorzubeugen verstanden hätte. Ohne Ordnung in ihrer Truppe drangen sie daher vor, und kaum war ein Teil des Zuges über den Bach hinüber, so wurden sie in der Front, in den Flanken und im Rücken mit einer Wucht und Gewalt überfallen, der sie in ihrer mangelhaften Verfassung unmöglich wirksamen Widerstand leisten konnten. Der Schrei: »Ein weißer Drache! – Sankt Georg für lustig England!« war ihr Schlachtruf und er kennzeichnete sie als sächsische Geächtete. Von allen Seiten drangen Feinde herbei, der Angriff war so wild und stürmisch, daß ihre Anzahl weit größer erschien, als sie in der Tat war.

Die sächsischen Häuptlinge wurden beide gefangengenommen, ein jeder unter verschiedenen für seinen Charakter bezeichnenden Umständen. Cedric warf seinen Speer nach dem Feinde, der ihm zuerst zu Gesicht kam. Er nagelte ihn an den Eichenstamm, an dem er gerade stand. Dann gab er dem Pferde die Sporen und sprengte gegen den zweiten an. Er riß das Schwert heraus und schlug mit so unbedachtem Ungestüm um sich, daß die Klinge in einem starken herabhängenden Aste steckenblieb und er sich so durch die Heftigkeit seiner Hiebe selber entwaffnete. Nun war er gefangen, und zwei oder drei der ihn umringenden Banditen rissen ihn vom Pferde. Athelstane war bereits in Gefangenschaft. Er war vom Pferde gehoben worden, ehe er noch sein Schwert hatte ziehen und sich zur Wehr setzen können. Das mit Gepäck beladene Gefolge, das ganz und gar den Kopf verlor, als es die Herren gefesselt sah, fiel ohne Schwierigkeiten den Räubern zur Beute, und das gleiche Schicksal erlitten Rowena, die sich in der Mitte des Zuges befunden hatte, und der Jude mit seiner Tochter, die im Nachtrab gewesen waren. Vom ganzen Zuge entkam niemand als Wamba, der bei dieser Gelegenheit weit mehr Mut bewies als mancher, der sich für viel klüger hielt. Er riß einem Diener das Schwert weg, der es eben mit zaudernder Unentschlossenheit ziehen wollte, und verteidigte sich wie ein Löwe. Er machte einen tollkühnen, allerdings vergeblichen Versuch, seinen Herrn zu retten. Als er endlich einsehen mußte, daß jeder weitere Widerstand umsonst sein würde, sprang er vom Pferde, schlüpfte ins Dickicht und entkam im allgemeinen Wirrwar. Aber der wackere Narr fühlte sich in seiner Freiheit nicht wohl und verspürte große Lust, zu seinem Herrn zurückzukehren und seine Gefangenschaft zu teilen, so sehr hing er mit aufrichtiger Treue an ihm.

»Ich habe soviel schwatzen hören, wie glücklich die Freiheit mache,« sagte er bei sich selber, »und jetzt gäb ich was drum, wenn mir 'n Weiser klarmachte, was ich damit anfangen soll.« Da rief neben ihm eine leise Stimme: »Wamba!« und im selben Augenblicke kam ein Hund herangesprungen, den er sogleich als Packan erkannte. Ebenso leise erwiderte Wamba: »Gurth!« – und der Schweinehirt stand vor ihm. »Was ist denn los?« fragte er voller Angst. »Was bedeutet das Geschrei und Schwertergeklirr?«

»Ein Ereignis, wie es heute auf der Tagesordnung steht – sie sind alle gefangen!« antwortete Wamba.

»Wer ist gefangen?«

»Mein Herr und meine Gebieterin, Athelstane und Hundibert und Oswald.«

»Um Gottes Willen! Wie ist das gekommen, und wer hat sie gefangengenommen?« fragte Gurth.

»Unser Herr war zu vorschnell mit seiner Waffe,« erwiderte Wamba, »und Athelstane war zu schlafmützig, und die anderen waren gar nicht zur Verteidigung gerüstet. Grünröcke mit schwarzen Masken sind über sie hergefallen, und nu liegen sie alle auf 'm Rasen wie Holzäpfel, die du für die Schweine abgeschüttelt hast. Ich könnte d'rüber lachen,« setzte der biedere Narr hinzu, »wenn ich nicht weinen müßte.« Und Tränen aufrichtigen Schmerzes rannen ihm die Wangen hinab. Aber Gurths Gesicht erglühte.

»Wamba!« drang er in ihn, »du hast 'n Schwert, dein Herz war immer besser auf 'm Posten als dein Verstand – wir sind allerdings bloß unser zwei – aber ein plötzlicher Überfall von entschlossenen Männern kann viel tun. Komm mit mir!«

»Wohin? und wozu?«

»Cedric befreien!«

»Du hast ja seinen Dienst quittiert.«

»Das hat nur solange gegolten, wie er nicht in Not war,« versetzte Gurth. »Komm mit mir.«

Eben wollte der Narr seiner Aufforderung folgen, da erschien eine dritte Person auf dem Platze, die die beiden bleiben hieß. Der Kleidung und den Waffen nach, die er trug, mußte Wamba glauben, es sei einer von den Räubern, die seinen Herrn überfallen hätten. Aber er hatte erstens keine Maske, und zweitens war er an dem prachtvollen Gehänge, das er um die Schulter trug und an dem ein kostbares Jagdhorn hing, trotz der herrschenden Dunkelheit mit Sicherheit zu erkennen, es war niemand anders als Locksley, der Yeoman, der im Bogenschießen zu Ashby den Preis davongetragen hatte. »Was hat das zu bedeuten?« fragte er. »Was redet ihr hier von Plündern, Berauben und Gefangennehmen?

»An ihren Kitteln kannst du sie erkennen, hier ganz in der Nähe,« antwortete Wamba, »sieh zu, ob's nicht die Kittel von deinen Kindern sind, denn sie ähneln deinem eigenen Wams wie eine Schote der anderen.«

»Darüber werde ich mir sogleich Gewißheit verschaffen,« erwiderte Locksley. »Und ich befehle euch, geht nicht von der Stelle, bis ich wieder da bin. Richtet euch nach mir, es soll nicht zu euerm und euers Herrn Schaden sein. – Aber wartet, ich muß diesen Kerlen so ähnlich wie nur möglich sein.«

Mit diesen Worten nahm er das Gehänge mit dem Jagdhorn ab, löste die Feder vom Hute, gab alles dem Narren, zog eine Maske aus der Tasche und ging dann auf Kundschaft indem er ihnen noch einmal ans Herz legte, daß sie warten sollten, bis er zurückgekehrt sei.

»Sollen wir bleiben, Gurth, oder sollen wir uns aus dem Staube machen?« flüsterte Wamba. »Nach meinem Narrenverstande hat der Kerl alles Diebsgerät so flink bei der Hand, daß er unmöglich eine ehrliche Haut sein kann.«

»Und mags der Teufel selber sein,« versetzte Gurth, »wir können die Sache nicht schlimmer machen, wenn wir warten. Ist's einer von den anderen, dann hat er jetzt schon längst Alarm gemacht und 's hilft uns sowieso nichts mehr; ob wir fechten oder ausreißen, kommt auf eins raus.«

Nach wenigen Minuten kehrte der Yeoman zurück. »Freund Gurth,« sagte er, »ich bin mitten unter den Kerlen gewesen und habe herausbekommen, zu wem sie gehören und wohin sie ziehen. Meiner Meinung nach werden sie gegen das Leben der Gefangenen nichts unternehmen. Es wäre der reine Wahnwitz, wenn wir drei sie angreifen wollten, denn es sind geübte Kriegsmannen, und sie haben Wachen ausgestellt, die Lärm schlagen, sobald sich irgend etwas nähert. Aber ich nehme es auf mich, binnen kurzem eine Schar zusammen zu haben, die ihnen heimleuchten soll, und wenn sie noch so sehr auf der Hut sind. Ihr seid beide Diener, und zwar treue Diener Cedrics des Sachsen, der stets die Rechte der Engländer vertritt. Nun sollen ihm englische Arme in der Not zu Hilfe kommen. Vorwärts denn! und kommt mit mir.«

Mit langen Schritten ging er durch den Wald, und Gurth und Wamba eilten hinterdrein. Wamba vermochte nicht lange zu schweigen. Er betrachtete die Jagdtasche und das Horn, die der Fremde wieder an sich genommen hatte, und sagte:

»Den Pfeil, der diesen schönen Preis gewonnen hat, hab ich fliegen sehen, sollt ich meinen, und es ist noch gar nicht mal so lange her.«

»Meine ehrlichen Freunde,« sagte der Yeoman, »wer oder was ich bin, tut nichts zur Sache; wenn ich euern Herrn befreie, so habt ihr Ursache, mich für euern besten Freund zu halten. Ob man mich nun unter dem oder jenem Namen erkannt und ob ich meinen Bogen besser spanne als ein Viehhändler, oder ob ich lieber im Mondlicht umherstreife als im Sonnenlicht – das sind alles Dinge, die euch gar nichts angehen, also kümmert euch auch nicht darum.«

»Wir haben schon die Köpfe im Rachen des Löwen,« flüsterte Wamba dem Schweinehirten leise zu, »wir wollen sie wieder rausziehen, sobald es geht.«

»Still!« sagte Gurth, »kränk ihn nicht durch deine Mätzchen, ich weiß schon, es wird alles gut gehen.«


 << zurück weiter >>