Walter Scott
Ivanhoe
Walter Scott

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Fünftes Kapitel.

Der Pilger löschte die Fackel aus und warf sich angekleidet auf das harte Lager, das ihm in einer engen Kammer angewiesen worden war. Er schlief oder verharrte vielmehr in liegender Stellung, bis der erste Sonnenstrahl durch das vergitterte Fenster fiel, dann sprang er auf, verrichtete seine Frühandacht und ging darauf in die Kammer Isaaks des Juden, die, wie er sich vorher erkundigt hatte, neben der seinen belegen war.

Der Jude lag in unruhigem Schlummer. Die Kleider, die er am Abend ausgezogen hatte, waren sorgfältig zusammengelegt, als wollte er verhüten, daß sie ihm über Nacht gestohlen würden. Sein Gesicht war von Angst verzerrt, Hände und Füße zuckten krampfhaft, als wollten sie den drückenden Alp von ihm abwehren. Außer einigen Rufen auf hebräisch ließen sich auf normännisch-englisch – der damaligen Landessprache – deutlich die folgenden Worte vernehmen: »Um des Gottes Abrahams willen! schonet eines elenden armen Mannes! Ich bin arm, ich habe nicht einen Pfennig, und wenn Ihr mir auch mit dem Eisen die Glieder streckt, geben kann ich Euch doch nichts!«

Der Pilger wartete nicht, bis das Traumbild des Juden vorüber war, sondern er stieß ihn mit seinem Pilgerstabe leicht an; aber dieser Stoß wurde, wie es sich in der Regel so fügt, zu einem Teile seines erträumten Grausens, der Alte fuhr auf, riß ein paar seiner Kleider an sich und raffte die übrigen mit dem Griffe eines Raubvogels zusammen. Die schwarzen stechenden Augen heftete er mit dem Ausdruck wildesten Entsetzens und gräßlicher Angst auf den Pilger.

»Fürchte dich nicht vor mir, Isaak,« sagte der Pilger. »Ich komme zu dir als Freund.«

»Der Gott Israels lohn's Euch,« sagte der Jude. »Mir träumte – doch gepriesen sei der Vater Abrahams: es war nur ein Traum.« Dann faßte er sich und setzte in ruhigem Tone hinzu: »Und was begehret Ihr zu so früher Stunde von dem armen Juden?«

»Ich will dir nur sagen, wenn du nicht sogleich dieses Haus verlässest und eilig deines Weges gehst, so droht dir ernste Gefahr.«

»Heiliger Mann,« erwiderte der Jude, »wem könnte denn daran liegen, einem armen Tiere wie mir nachzustellen?«

»Du wirst am besten wissen, aus welchem Grunde,« sagte der Pilger. »Das aber steht fest, als der Templer gestern abend die Halle verließ, sprach er mit seinen osmanischen Sklaven sarazenisch – ich verstehe diese Sprache leidlich – und er hat ihnen den Auftrag gegeben, dem Juden aufzulauern, ihn gefangen zu nehmen und auf das Schloß des Philipp von Malvoisin oder des Reginald Front-de-Boeuf zu schleppen.«

Das Entsetzen, das den Juden bei dieser Nachricht überkam und seine Geisteskräfte zu vernichten drohte, läßt sich nicht beschreiben. Die Arme fielen herab, das Haupt sank auf die Brust, die Knie schlotterten, jeder Nerv und jeder Muskel seines Leibes schien zusammenzuschrumpfen und er sank zu den Füßen des Pilgers hin, nicht wie jemand, der niederkniet, um seine Demut zu bezeigen oder Mitleid zu erlangen, sondern wie zu Boden gestreckt von einer unsichtbaren Gewalt, gegen die es keinen Widerstand gab. »Gott meiner Väter!« rief er aus und hob die gefalteten Hände, während er das graue Haupt am Boden liegen ließ. »Träume sind nicht ohne Vorbedeutung. O, heiliger Moses, o gesegneter Aron, nicht vergebens hast du mich das schauen lassen! Schon fühle ich ihre Eisen zerfetzen meine Sehnen, schon fühle ich ihre Martern schauern über meinen Leib, wie die Sägen und eisernen Eggen über die Männer von Rabbah und über die Städte der Kinder Ammons!«

»Steh auf, Isaak, und höre mich an,« sagte der Pilger, den die Verzweiflung des Juden mit Verachtung erfüllte. »Ich sage dir, ich will dir zur Flucht verhelfen. Verlaß auf der Stelle dieses Haus, solange noch die Leute vom Feste des gestrigen Abends ausschlafen. Ich geleite dich auf geheimen Pfaden durch den Wald, die ich hier besser kenne als ein Förster. Und ich werde dich nicht eher verlassen, als bis ich dich der Obhut eines Ritters oder Barons, der zum Turnier zieht, anvertraut habe. Du bist wahrscheinlich in der Lage, dir seine Bereitwilligkeit zu erkaufen.«

Als Isaak vernahm, daß Hoffnung auf Flucht vorhanden war, raffte er sich zollweise vom Boden empor, als er aber die letzten Worte des Pilgers hörte, schien ihn das alte Entsetzen von neuem zu lähmen, er fiel abermals auf sein Angesicht und jammerte: »Ich die Mittel haben, die Bereitwilligkeit irgendwessen zu erkaufen? Es gibt ja nur ein Mittel, sich bei einem Christen in Gunst zu setzen, und wie soll ich armer Jüd davon können Gebrauch machen? Sie haben mich schon geschunden und ausgebeutet, daß ich arm bin wie Lazarus! Junger Mann! Um des großen Vaters willen, der uns alle geschaffen hat, den Juden wie den Heiden, hintergeh mich nicht! Verrate mich nicht! Ich habe gar keine Mittel, die Bereitwilligkeit eines Christenbettlers zu erkaufen, und wäre sie um einen Scheckel feil!«

»Und wärest du beladen mit dem ganzen Reichtum deines Volkes,« versetzte der Pilger, indem er seinen Mantel von dem flehentlichen Griffe des Juden losriß, als fürchte er, daß ihn seine Berührung unrein machen könnte, »was hülfe es mir, dich auszurauben? – In diesem Kleide habe ich gelobt, arm zu bleiben, und dieses Kleid vertausche ich nur gegen ein Roß und einen Harnisch! Du mußt nicht denken, daß mir etwas daran gelegen sei, mit dir zusammen zu sein, oder daß ich einen Vorteil von dir zu ziehen beabsichtigte – wenn du willst, so bleib hier: vielleicht nimmt dich Cedric der Sachse in seinen Schutz.«

»Weh!« rief der Jude. »Der läßt mich nicht in seinem Gefolge ziehen, denn der stolze Sachse schämt sich des armen Juden. Allein aber getrau ich mich nicht durch das Gebiet des Malvoisin und des Front-de-Boeuf. Junger Mann, ich will mit dir gehen! Laß uns eilen, laß uns gürten die Lenden, laß uns flüchten! Hier ist mein Stab – was zauderst du?«

»Ich zaudre nicht,« war des Wallfahrers Antwort, »ich muß nur erst dafür sorgen, daß wir überhaupt auch von hier wegkommen.« Und er führte ihn in die anstoßende Kammer, wo Gurth, der Schweinehirt, schlief.

»Steh auf, Gurth!« rief ihm der Pilger zu. »Mach das Hintertor auf, du sollst den Juden hinauslassen.«

Gurth, der zwar ein niedriges, aber immerhin wichtiges Amt bekleidete, fühlte sich durch den vertraulichen und zugleich befehlenden Ton gekränkt.

»Den Juden hinauslassen?« sagte er, indem er sich auf die Ellenbogen stützte und ihn argwöhnisch ansah. »Will er mit dem Pilger zusammen zu Fuß weg? Der Jüd und der Pilger müssen beide warten, bis das Haupttor aufgemacht wird.«

»Ich denke, du wirst mir diese Gunst nicht abschlagen,« versetzte der Wallfahrer in befehlendem Tone. Mit diesen Worten neigte er sich über den Hirten, der liegen geblieben war, und lispelte ihm etwas ins Ohr, und wie vom Schlage getroffen, fuhr Gurth auf. Der Wallfahrer gab ihm mit dem Finger einen warnenden Wink und setzte dann hinzu: »Hüte dich, Gurth, du warst sonst immer klug! Ich sage dir, mach die Hintertür auf, bald hörst du mehr.«

Gurth gehorchte ihm in Eile.

»Mein Maultier, mein Maultier!« rief der Jude, als sie die Pforte durchschritten hatten.

»Hol ihm seinen Maulesel, und hörst du, Gurth,« sagte der Pilger, »gib mir auch einen, damit ich neben ihm reiten kann, bis wir aus den Grenzen sind. Ich schicke dir das Tier bestimmt wieder zurück. Und höre –« Und er flüsterte Gurth abermals etwas ins Ohr.

»Gern solls geschehen,« sagte der Hirt, ging sogleich den Auftrag auszuführen und war auch mit den Eseln gleich wieder da, und die Reisenden schritten auf einer Zugbrücke, die nur zwei Bohlen breit war, über den Graben hinüber. Kaum waren sie bei den Maultieren angekommen, so band der Jude hastig und mit zitternden Händen ein kleines, in blaues Tuch gewickeltes Päckchen am Sattel fest.

»Wäsche zum Wechseln, weiter nichts,« murmelte er und schwang sich mit einer Gewandtheit, die man seinem Alter nicht mehr zugetraut hätte, auf seinen Esel und legte sorgfältig Kleider und Reisemantel so zurecht, daß das Päckchen von ihnen verdeckt wurde. Langsamer saß der Wallfahrer auf, er reichte Gurth zum Abschied die Hand, die dieser voll Ehrfurcht küßte.

Dann starrte der Hirt den Reisenden nach, bis sie im Walde den Blicken entschwunden waren. Diese aber ritten, getrieben von der Angst des Juden, mit einer Eile, von der sonst alte Leute keine Freunde sind. Der Pilgrim, dem jeder Weg und Steg in diesem Walde vertraut zu sein schien, führte ihn auf unbekannten Pfaden, und mehr als einmal ergriff den Juden der Verdacht, in einen Hinterhalt gelockt zu werden. Seine Furcht war allerdings begreiflich. Denn den fliegenden Fisch ausgenommen, gab es damals auf der Erde, in der Luft und im Wasser kein Lebewesen, das so unausgesetzter und allseitiger Verfolgung preisgegeben gewesen wäre wie ein Jude. Unter völlig inhalt- und grundlosem Vorwande, und auf die unhaltbarsten und lächerlichsten Beschuldigungen hin waren sie jedem Ansturme der öffentlichen Wut überantwortet. Normanne, Däne, Sachse und Brite – so uneinig sie auch sonst waren – in der Verachtung, mit der sie auf das Volk der Juden blickten, stimmten sie alle überein, und es war geradezu ein Gebot der Religion, die Juden auf jede nur mögliche Weise zu hassen, zu peinigen, auszubeuten und zu vernichten.

Die Reisenden waren eine Zeitlang auf verschlungenen Pfaden dahingeeilt, als endlich der Wallfahrer das Schweigen unterbrach. »Die große, morsche Eiche hier,« sagte er, »bezeichnet die Grenze des Gebietes, das Reginald Front-de-Boeuf sein eigen nennt. Vom Besitztum Malvoisins sind wir noch weit entfernt. Nun brauchen wir keine Furcht mehr vor Nachstellung zu haben.«

»Die Räder mögen fallen von ihren Wagen,« sagte der Jude, »wie bei dem Heere Pharaos, daß sie nur langsam vorwärts kommen. Du aber, guter Pilger, geh nicht von mir! Denk an den stolzen Templer mit seinen Sarazenen, sie kümmern sich nicht darum, wem das Land gehört und was die Obrigkeit vorschreibt.«

»Unsere Wege,« erwiderte der Pilger, »müssen sich hier trennen, denn es ziemt sich nicht für einen heiligen Mann länger als nötig in der Gesellschaft eines Juden zu reisen. Was für Beistand könntest du auch von mir erhoffen, was vermöchte ein friedliebender Pilger gegen zwei bewaffnete Heiden? Du bist hier überdies nicht mehr weit von der Stadt Sheffield, wo du leicht einen Mann deines Stammes finden wirst, der dir Aufnahme gewähren wird.«

Sie machten Halt auf dem Gipfel eines schönen grünen Hügels, der Wallfahrer deutete auf die unter ihnen liegende Stadt und wiederholte: »Hier trennen sich unsere Wege!«

»So nimm denn den Dank des armen Juden,« sagte Isaak. »Freilich wirst du wohl nicht damit einverstanden sein, mit mir zu einem meiner Verwandten zu gehen, der mir etwas geben würde, daß ich dir deinen Dienst vergelten könnte.«

»Ich habe dir ja schon gesagt, daß ich keinen Lohn verlange. Wenn du auf der langen Liste deiner Schuldner einen armen Christen hast, dem du um meinetwillen Kerker und Fesseln ersparen kannst, so bin ich für den Dienst, den ich dir heute morgen erwiesen habe, reichlich belohnt.«

»Halt, halt,« unterbrach ihn Isaak, indem er sein Gewand ergriff, »mehr noch muß ich tun – ich muß noch etwas für dich selber tun. Gott weiß es, ich bin ein armer Teufel von einem Juden – ein Bettler seines Stammes ist der Isaak – doch verzeihe mirs, wenn ich erraten habe, was dir jetzt am innigsten am Herzen liegt.«

»Wenn du das Rechte ratest,« antwortete der Wallfahrer, »so weißt du auch, daß du mir das nicht verschaffen kannst, und wärest du auch so reich, wie du dich für arm ausgibst.«

»Mich ausgeben für arm!« rief der Jude, »o, glaube mir, ich spreche die Wahrheit, ich bin eine arme, ausgeraubte, verschuldete Kreatur – alles, alles haben sie mir genommen – Geld, Gut und Schiffe. Aber ich kann dir sagen, was du jetzt gern haben möchtest, ich kann dirs vielleicht auch verschaffen. Du wünschest dir jetzt ein Roß und eine Rüstung.

Erstaunt sah ihn der Pilger an.

»Hat dir das der böse Feind eingegeben?« fragte er hastig.

»Woher ich es weiß, kann dir ja einerlei sein,« versetzte der Jude lächelnd. »Ich weiß es, und ich kann dir behilflich sein.«

»Doch bedenkt – mein Stand und mein Gelübde.«

»Euch Christen kenne ich,« unterbrach ihn der Jude. »Die Edelsten unter Euch greifen aus abergläubischer Buße zu Stab und Sandalen und wandern zu Fuß nach den Grabstätten toter Leute.«

»Lästere nicht, Jude!« fiel ihm der Pilger ernst ins Wort.

»Verzeiht!« entschuldigte sich Isaak. »Unbesonnen hab ich da gesprochen. Aber gestern abend und heute morgen sind Euch Worte entschlüpft, wie aus dem Kieselsteine Funken stieben, und sie haben mir das innere Metall verraten. In Euerm Busen ist die Kette eines Ritters versteckt und ein Sporn von Gold. Als Ihr Euch heute früh über mein Lager neigtet, hab ich sie schimmern sehen.«

Der Wallfahrer lächelte und sagte: »Wenn man deine Kleider, Isaak, mit ebenso scharfem Blick durchsuchte, was würde man da wohl alles finden?«

»Still davon!« entgegnete der Jude erbleichend und zog, wie um der Unterredung ein Ende zu machen, aus seinem Gürtel das Schreibzeug, breitete ein Stück Papier auf seinem gelben Hute aus und begann zu schreiben, ohne von seinem Maultier herabzusteigen. Als er fertig war, übergab er den Zettel, der hebräische Schriftzüge trug, dem Pilger und sagte:

»In der Stadt Leicester kennt alle Welt den reichen Juden Kirgath Jairam aus der Lombardei, an den gebt diesen Zettel ab. Er hat zu verkaufen sechs mailändische Rüstungen, die schlechteste darunter ist gut genug für einen König – und er hat auch zehn prächtige Rosse, das schlechteste darunter könnte besteigen ein König, wenn er ausreitet, um zu kämpfen für seinen Thron. Er wird Euch wählen lassen unter ihnen, er wird Euch versehen mit allem, was Ihr haben müßt zum Turnier. – Wenn es vorüber ist, werdet Ihr ihm alles unversehrt wieder zustellen, sofern Ihr nicht Geld genug habt, den Wert dem Eigentümer zu bezahlen.«

»Ei, Isaak,« sagte der Pilger lächelnd. »In solchem Waffenspiele fallen Waffen, Roß und Rüstung des Besiegten dem Sieger anheim – und wenn ich nun Unglück habe und verliere, was ich weder bezahlen noch irgendwie ersetzen kann?«

Der Jude schien ein wenig zu erschrecken über diese Möglichkeit, aber er nahm all seinen Mut zusammen und erwiderte: »Nein – nein – nein! Der Gott meiner Väter wird mit dir sein und deine Lanze wird haben Kraft wie der Stab Mosis.«

Der Jude wandte sein Maultier, aber der Pilger hielt ihn noch zurück. »Du weißt nicht, was du alles wagst, Isaak,« sagte er. »Das Pferd kann stürzen, die Rüstung kann beschädigt werden; denn bei mir gibts für Roß und Mann keine Schonung. Und dann machen deine Stammesbrüder doch auch nichts umsonst, es muß etwas für den Gebrauch bezahlt werden.«

»Macht nichts, macht nichts!« versetzte der Jude, bei dem die besseren Gefühle diesmal die Oberhand behielten. »Laßt nur gut sein! Wird was beschädigt, so soll es Euch nichts kosten. Wenn üblich ist Leihgebühr, Kirgath Jairam wird es Euch erlassen, ist doch der Isaak sein Vetter. – Nun lebt wohl und hört, junger Mann,« setzte er hinzu, sich noch einmal umwendend, »wagt Euch nicht zu weit ins Gewühl – nicht etwa weil Ihr die Rüstung und das Pferd nicht beschädigen sollt – sondern aus Rücksicht auf Euer eigen Leben und auf Eure gesunden Glieder.«

»Dank der Fürsorge!« sagte lächelnd der Wallfahrer. »Ich nehme Eure Freundlichkeit an.«

Damit trennten sie sich und schlugen verschiedene Wege nach Sheffield ein.


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