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18

An demselben Tage erhielt Schwester Magda einen Anruf aus der Villa Herwegh.

Irene ließ sie an den Fernsprecher bitten.

Sie hatte bis zur Mittagsstunde gewartet, wo sie die Schwester für einige Zeit dienstfrei vermutete, und legte Wert darauf, sie persönlich zu sprechen.

»Sind Sie selbst da, Schwester? Ja? Ach, wie lang haben wir uns nicht gesehen! Sie machen sich ja so furchtbar selten bei uns. Warum nur? Sind Sie heute abend frei? Wollen Sie nicht zu uns kommen? Ich würde so schrecklich gern mit Ihnen sprechen. Sie wissen ja nicht, wie mir zumute ist! Ich brauche einen Menschen, der so gut ist wie Sie. Bitte, bitte, kommen Sie! Nein, ich will Ihnen nichts vorjammern, und wenn ich Ihre Hand fühle, werde ich es auch gar nicht nötig haben. Also, darf ich mich freuen? Vielen, vielen Dank und auf Wiedersehen!«

Magda hatte geantwortet, daß sie von sechs Uhr an frei sei, und Irene hatte ihr noch gesagt, daß eine Viertelstunde später der Wagen sie abholen würde. Das genüge doch zum Umkleiden? Sie solle nur keine Umstände machen.

Irene hatte nicht sehen können, daß eine blasse Frau mit dunkelgeränderten Augen am Apparat stand; sie hatte in der eigenen Erregung die Beklommenheit der Stimme nicht gehört; sie hatte nicht merken können, wie diese Frau mit sich rang, ehe sie ihr Ja antwortete, und daß sie unfroh und bekümmert den Dienstraum verließ.

Pünktlich stand der Wagen vor der Tür und brachte Magda nach der Parkstraße. Sie hatte ihre Schwesterntracht abgelegt und stieg schlank und ernst die Stufen zur Villa empor.

Irene kam ihr lebhaft entgegen und griff stürmisch nach ihren Händen. Die letzten Ereignisse hatten das kühle, beherrschte Mädchen sehr angegriffen, und sie wäre in der weichen Stimmung ihrer Hilflosigkeit der Schwester am liebsten um den Hals gefallen. Aber eine letzte Scheu behinderte die vertrauliche Annäherung.

Sie hatten sich längere Zeit nicht gesehen. Der jähe Tod des Doktors, das Verhör und die mancherlei aufregenden Erörterungen hatten die Freude an harmloser Geselligkeit zerstört. Dazu kam als letzter schwerer Schlag die Verhaftung Hermsdörffers, die die ganze Familie wie ein eigenes, persönliches Unglück betroffen hatte.

Sie saßen bald um den Abendtisch, die drei Frauen allein. Der Hausherr nahm offenbar seine geschäftliche Gebundenheit als willkommenen Anlaß, den Erörterungen über das Mißgeschick der letzten Zeit zu entgehen.

Das Gespräch stand unter der niederdrückenden Stimmung der Ereignisse. Man sprach nicht viel; man suchte und fand im Gesicht des anderen Frage und Antwort. Man tastete sich aneinander heran; man hütete sich, zuviel zu sagen, um den anderen nicht zu verwunden. So sprach man mit stummen Worten mehr und eindringlicher als mit einem hörbaren Gespräch.

Frau Herwegh war jetzt genesen. Aber die Schwäche, die durch das lange Lager zurückgeblieben war, vor allem die Aufregung der letzten Wochen machten sie noch immer hinfällig und zu einer alternden, müden Frau.

Sie ging zeitig schlafen, bat aber Magda herzlich, zu bleiben. Irene habe sie so lange vermißt, sagte sie; sie habe immer so viel von ihr gesprochen; sie habe sonst niemand, dem sie sich anvertrauen dürfe. Den meisten sogenannten Freunden gegenüber könne sie das nicht. Die seien neugierig, aber nicht mitfühlend, sie verletzten durch ihre Aufdringlichkeit. Manche freuten sich im stillen über das Unglück der anderen, weil es sie selbst nicht betraf und ihnen den sonst Beneideten gegenüber eine gewisse Überlegenheit gab.

Die beiden waren allein. Vor ihnen standen die Teetassen, doch sie nippten nur flüchtig an dem Getränk. Das Gebäck blieb unberührt. Eine Schachtel Zigaretten führte ein verschämtes Dasein.

Das Mädchen war schlafen geschickt worden.

»Haben Sie morgen in der Frühe Dienst, Schwester?« fragte Irene.

»Es geht, ich fange um acht Uhr an. Ich schlafe ohnehin wenig.«

»Ich glaube es Ihnen. Wann wird diese Folter für uns vorüber sein? Für mich nicht eher, als bis man den Mörder gefunden haben wird. Aber wir Frauen können ja nichts dazu tun.«

»Warum sagen Sie nicht: bis man Herrn Hermsdörffer freiläßt? Sie wissen doch, daß er schuldlos ist? Einen Unschuldigen leiden sehen, ist schwerer, als einen Toten ungerächt. Und wissen Sie denn, daß es sich um einen Mörder handelt?«

»Wie sollte es sonst sein? Ich habe mich immer und immer wieder gefragt, wer es getan haben könnte. Wem hat er denn etwas zuleide getan? Er hat vielen geholfen; wem sollte er um Gottes willen geschadet haben? So geschadet, daß es nur der Tod auslöschen kann? Warum töten sich die Menschen? Sie töten sich im Zorn, aber der Doktor hat doch niemand erzürnt, man kann es sich wenigstens nicht denken. Die anderen morden sich um Geld. Ich weiß nicht, ob der Doktor welches hatte; aber man weiß ja, daß er nicht beraubt worden ist.«

Magda sieht plötzlich auf, und ihre Augen treffen die Irenes. Irene wird von dem Blick seltsam gefesselt; es ist ihr, als sei die dienende Demut, die sonst darin gelegen hatte, verschwunden und als sei ein Zug von Selbstbewußtsein darin aufgestanden, den sie an ihr nicht kennt.

»Sie vergessen eines, mein Kind«, sagt die Schwester sehr wach und langsam, »die Liebe. Die Menschen töten sich um der Liebe willen. Aber viele verstehen das nichts und die meisten sehen ja auch nur, was vor Augen ist.«

Dann ist es still zwischen den beiden; jede ist bei ihren eigenen Gedanken.

Irene findet die Worte rätselhaft und weiß sie, soweit sie die Schwester kennt, nicht recht zu deuten. Dann hört sie sich angesprochen, auf einmal wieder herzlich und warm:

»Finden Sie nicht auch, Irene, daß die Frau in der Liebe die schwerere Last trägt?«

Sie hat den Vornamen ohne das »Fräulein« zum ersten Male gebraucht, das klang lieb und versöhnend, und von Irene weicht wieder die kleine Enttäuschung, die sie soeben überkommen hatte.

»Ob ich es finde, Schwester? Ich habe es bisher nicht gewußt, aber das Leben hat es mich gelehrt. Das muß man wohl auch erleben, um ein ganzer Mensch zu werden.«

»Darf ich fragen?«

»Fragen Sie ruhig, Schwester.«

»Sie lieben Leo Hermsdörffer nicht, Sie liebten Doktor Eggebrecht, Irene? Sie liebten ihn und wußten sich wieder geliebt. Sie wußten nicht, daß Sie ihn mit Ihrer Liebe einer anderen gestohlen haben, einer anderen, die ihm ihr Lebensglück und ihre Ehre geopfert hat. Wußten Sie es?«

Irene hat große, angstvolle Augen, und eine jähe Sorge überfällt sie. Das klang so feierlich. »Nein«, sagt sie, und ihr ist, als preßte man ihr die Kehle zusammen, »ich wußte es nicht.«

»Aber die andere hat es gewußt, denn sie mußte es sehen. Die andere hat Ihr Glück mit der Angst und der Verzweiflung ihres Herzens bezahlt, diese andere –«

»Sind Sie, Schwester!« schreit Irene auf. Von ihren Augen sind die Schleier gefallen, und sie sieht plötzlich klar. »Hören Sie auf, ich habe es ja nicht gewußt.«

Sie schlägt die Hände vor die Augen und schluchzt leise.

Magda faßt nach diesen Händen und zieht sie sie sanft herab; sie hält sie in den ihren und spricht:

»Nein, Sie wußten es nicht und konnten es in Ihrem Glück auch nicht sehen. Sie haben nichts Unrechtes getan. Sie dürfen ganz ruhig sein und sollen sich keine Vorwürfe machen. Niemand wird Ihnen gram sein, und ich, ich werde die letzte sein, die Sie schilt.«

»Sie sind gut, Magda. Wollen Sie mir verzeihen?«

»Ich habe nichts zu verzeihen. Wo keine Schuld ist, gibt es auch keine Vergebung.«

Schwester Magda kommt sich vor wie im Dienst, wo sie viel sehen und viel trösten muß. Ihre Stimme ist sanft und mütterlich, daß es Irene wie einen warmen Strom über sich kommen fühlt. Ihre Angst ist verflogen. Sie rückt näher an die Schwester heran, legt ihre Hände auf die ihren, die jetzt wieder im Schoße ruhen.

»Ich weiß nicht, weshalb, aber ich habe ein Vertrauen zu Ihnen wie zu keinem Menschen. Sie sind so gut. Wer das Glück hat, um Sie zu sein, muß es auch werden. Sie können ja gar nichts Unrechtes tun. Wissen Sie, was ich jetzt denken muß, aber seien Sie mir, bitte, nicht böse: nicht, daß er sein Leben verlor, ist das tragische Geschick unseres Doktors, sondern daß Sie nicht seine Frau werden konnten. Sie wären sein guter Engel geworden, der ihn durchs Leben geführt hätte. Ich – nein, ich hätte es nicht so sein können.«

»Irene!«

Die andere streicht ihr über die Hände.

»Ja, nennen Sie mich so. Wir sind Schwestern im Leid. Wir haben ihn doch beide geliebt, und man hat ihn uns beiden genommen. Wenn uns die Liebe zu ihm nicht vereinen konnte, so kann es die Trauer um ihn. Wollen Sie mir eine Schwester sein, darf ich du sagen?«

»Du darfst es, aber du wirst es nicht wollen.« Magda beugt sich zu ihr hinüber, und dann legt sie auf einmal ihren Arm um den Hals Irenes und lehnt den Kopf an ihre Brust.

»Verzeih mir, Schwester, verzeih mir«, sagt sie leise, aber mit Festigkeit, »ich habe ihn getötet.«


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