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12

Als Irene durch die langen, freudlosen Korridore des Landgerichts schritt und Zimmer Nummer 48 suchte, fing ihre Unbekümmertheit an, recht merklich nachzulassen.

Sie gab es sich selbst freilich nicht zu, redete sich vielmehr tapfer ein, daß es durchaus nichts auf sich habe, zu einer vielleicht ganz belanglosen Auskunfterteilung bestellt zu werden, und daß es mit dem Morde durchaus nichts zu tun zu haben brauche. Den Schofför hatte sie aber doch fortgeschickt; sie wollte keinen Zeugen haben, wenn sie vielleicht erschüttert oder mit verweinten Augen aus dem Gebäude träte. Die Leute redeten gar so viel.

Landgerichtsrat Karsten empfing sie, wie es seine Art Nichtangeklagten gegenüber war, höflich, sogar verbindlich.

Sein Blick umfing vorsichtig ihre Erscheinung. Sie war geschmackvoll, dezent und natürlich gekleidet und betonte in keiner Weise den Reichtum ihres Vaters. Das wirkte sympathisch. Nur auffallend blaß war sie; das mochte der außergewöhnliche Anlaß verschulden.

Er ging schnell und wie nebenbei über die vorbereitenden Erörterungen hinweg und sagte dann:

»Es mag Ihnen seltsam erscheinen, Fräulein Herwegh, daß Sie in der Mordsache Eggebrecht vor Gericht aussagen sollen. Erschrecken Sie nicht: Ihre Vernehmung steht mit der Tat nicht in unmittelbarem Zusammenhang, sie betrifft nur einiges Persönliche aus dem Leben des Doktors, da das Gericht weiß, daß er in seiner letzten Lebenszeit des öfteren in Ihrem Hause verkehrte. Ihr Herr Vater war dabei häufig nicht anwesend, und auch Ihre täglichen Besuche im Krankenhause fanden ohne ihn statt. Das Gericht ist infolgedessen der Meinung, daß Sie eher einige Aufschlüsse über den Gedankenkreis geben können, in dem sich Doktor Eggebrecht zuletzt bewegte. Die Vernehmung Ihrer Frau Mutter wurde in Rücksicht auf deren Gesundheitszustand nicht in Erwägung gezogen.«

Irene hörte ihn schweigend an. Sie öffnete ihren dunklen Pelzmantel und schloß ihn nervös wieder. Ihre Augen waren groß auf Karsten gerichtet; leise vibrierten die Flügel der schmalen Nase.

»Wünschen Sie abzulegen?« fragte der Richter.

»Nein, danke.«

Um sie ihre Befangenheit überwinden zu lassen, bat er sie, ihm zu berichten, wie sie überhaupt die Bekanntschaft des Doktors gemacht habe. Er erfuhr nichts Neues dabei, konnte aber feststellen, daß sie sich klar ausdrückte, keine Umschweife liebte und bei der sachlichen Wahrheit blieb. Das war ihm wertvoll. Denn was er sie zu fragen hatte, lag auf jenem Gebiet, wo die strenge Grenzlinie zwischen Sachlichkeit und Phantasie sich leicht verwischt und persönliche Eitelkeit und Neigung zur Schwatzhaftigkeit verhängnisvoll werden konnten. Er erreichte auch, was er beabsichtigt hatte: sie verlor die anfängliche Scheu, die sich in ihren Aussagen in allzu großer Zurückhaltung hätte auswirken können.

»Ihre Frau Mutter kehrte heim«, schloß Karsten den Bericht ab. »Doktor Eggebrecht veranlaßte, daß eine Angestellte aus dem Institut die weitere häusliche Pflege übernahm. War es sein Wunsch oder der Ihre, daß dies die Schwester Fromann war?«

»Es war unser aller Wunsch, besonders der meiner Mutter.«

»Was veranlaßte Sie zu dem Wunsche?«

»Schwester Magda war eine erfahrene, äußerst gewissenhafte Person. Ihr reifes Wesen stimmte zu dem Ernst unserer Lage. Wir schätzten sie alle hoch. Ich war auf dem Wege, sie schwesterlich liebzugewinnen.«

»Wie verhielt sich Doktor Eggebrecht dazu?«

»Er willigte gern ein. Er versprach sofort, etwaige Schwierigkeiten aus dem Wege zu räumen.«

»War das nicht auffällig? Fräulein Fromann stand doch als Pflegerin in städtischen Diensten?«

»Wir haben nichts dabei gefunden.«

»Machte diese Bereitwilligkeit nicht vielleicht den Eindruck, daß er sie etwa hätte los sein wollen?«

»Dazu wäre doch keine Veranlassung gewesen. Der Doktor lobte die Schwester selbst. Nein, wir fanden wirklich nichts Auffälliges darin.«

»Und die Schwester selbst?«

»Sie stimmte gern zu, nachdem sie erfahren hatte, daß Doktor Eggebrecht die weitere Behandlung meiner Mutter übernehmen würde.«

Der Richter schwieg ein paar Sekunden und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Die Geste wirkte wie ein Überleiten zu einem persönlichen Gespräch; sein Ton wurde um eine Schattierung wärmer.

»Die Fromann zog zu Ihnen. Kam der Doktor oft?«

»Im Anfang fast täglich. Wir ließen ihn, wenn sein Dienst zu Ende war, im Wagen holen.«

»Er blieb manchmal länger, als es seine ärztliche Pflicht erforderte?«

Welche Frage! Irene war peinlich berührt; sie fühlte, daß sie rot wurde, und sah vor sich nieder.

»Das kam ganz von selbst und war doch selbstverständlich«, sagte sie leise. Sie legte die Hände ineinander, es wirkte wie eine flehende Gebärde.

»Gewiß, es war selbstverständlich«, lenkte Karsten zustimmend ein, als hätte seine Frage keine weitere Bedeutung gehabt. Die Wirkung seiner Worte auf das Mädchen schien ihm gänzlich entgangen zu sein. »Sie waren ihm ja zu Dank verpflichtet. Es mag in solchen Fällen öfters vorkommen, daß sich daraus ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt, oft Beziehungen zur Familie entstehen, sogar engere Bande sich anknüpfen. Fräulein Herwegh, wollen Sie darüber Auskunft geben, wie weit in Ihrem Falle diese – Beziehungen gegangen sind?«

Irene fühlte fast einen Stich. Eine kalte, grausame Hand tastete nach ihrem Herzen, und sie erschrak vor der Unerbittlichkeit des Lebens. Was tat man ihr an, woher nahm man das Recht zu diesem Vorgehen? Waren das nicht Fragen an den Schuldigen? Seit wann fragte man auch Schuldlose so?

Aber sie fand nicht den Mut zur Abwehr und sagte nur mit gedrückter Stimme:

»Ich war, als Doktor Eggebrecht in unser Haus kam, so gut wie heimlich verlobt.«

Karsten hatte sich voll in der Gewalt und ließ seine Ueberraschung nicht merken. Er saß noch immer zurückgelehnt in seinem Stuhl und sah äußerlich ruhig auf das Mädchen, das offensichtlich mit großer Erregung kämpfte. Er ließ ihr jedoch keine Ruhe, diese Erregung zu überwinden, sondern fragte sofort, anscheinend ohne Interesse:

»Mit wem?«

»Mit einem Geschäftsfreund meines Vaters, Herrn Leo Hermsdörffer.«

Die Sache geht voran, dachte der Richter. Man stieß auf bekannte Namen, der Ring schloß sich. Er wollte eine neue Frage stellen und überdachte sie eben, damit sie wie absichtslos und nicht verletzend wirkte, da fuhr sie ungefragt fort:

»Die schwere Krankheit meiner Mutter und die tägliche Sorge um ihr Leben ließen uns alle Eigenwünsche vergessen. Ohne daß wir darüber sprachen, war es für alle selbstverständlich, daß persönliche Interessen zu ruhen hatten. Und dann –«

»Bitte: und dann?«

»Dann – kam eben Doktor Eggebrecht.«

»Dann kam Doktor Eggebrecht, und es kam, wie es kommen mußte. Das ist der Lauf der Welt und ihr ewiges Gesetz. Heute wie vor tausend Jahren, nur die Personen sind andere. Verlieren wir keine nutzlosen Worte, suchen wir keine unnötigen Begründungen oder Entschuldigungen. Was machte Ihr – – wie verhielt sich Herr Hermsdörffer? Blieb er fern?«

»Nein.«

»Er blieb bewußt nicht fern. Er gab Sie nicht auf. Kam es zu einer Aussprache?«

»Es kam nicht dazu.«

»Hat Ihnen Doktor Eggebrecht erklärt, daß er Sie liebte, daß er Sie zu seiner Frau machen wollte?«

»Nein.«

»Sie wußten es. Eine Frau weiß das auch ohne Worte.« Seine Stimme klang unausweichlich. »Wie gedachten Sie mit Leo Hermsdörffer auseinanderzukommen?«

Ihre Augen blickten hilflos, gepeinigt unter den Fragen. »Ich habe mich nie damit beschäftigt.«

»Sagen Sie mir noch: Wie mag es sich Doktor Eggebrecht gedacht haben?«

»Ich glaube, daß er überhaupt nicht daran gedacht hat.«

»Möglich. Er war eine Natur, die nichts tragisch nahm. Immerhin hat das auch seine Grenzen. Er muß doch gewußt haben, daß es zwischen Ihnen und Hermsdörffer Beziehungen gab, die er nicht ohne weiteres übersehen konnte. Sehen Sie, Leo Hermsdörffer blieb nicht fern, obgleich er merken mußte, was sich vorbereitete. Er nahm den Kampf auf. Geschah es oft, daß beide Herren gemeinsam in Ihrem Hause Besucher waren?«

»Das geschah nicht häufig. Wenn sich Herr Hermsdörffer angesagt hatte, vermieden wir es, den Doktor zu bitten.«

»Und wenn es doch geschah?«

Zwei Augen sahen ihn fast flehend an, so daß er sich selbst die Antwort gab:

»– – war es peinlich, unerquicklich. Herr Hermsdörffer konnte schwer an sich halten, der Doktor wich ihm lächelnd aus?«

»Es mag so gewesen sein.«

»Die Luft war schwül, man mußte ständig Furcht vor einer Entladung haben. Man wäre Herrn Hermsdörffer dankbar gewesen, wenn er seine Besuche eingestellt hätte. Warum dachte er nicht selber daran? Seine Liebe war stärker als sein Taktgefühl.«

Irenes Blick forschte erstaunt in den ruhigen Zügen des Richters. Was wußte dieser Mann? Hatte er sie so weit in der Hand, daß er ihr die Wege ihrer Antworten vorschrieb? »Nein«, sagte sie mit befremdender Betonung, »Herr Hermsdörffer ist immer ein Mann von Takt gewesen. Zuletzt blieb er fern.«

»Zuletzt? Wie ist das zu verstehen?«

»Ich will Ihnen alles erzählen. Am Tag vor seinem Tode war Doktor Eggebrecht bei uns. Das Mädchen erzählte mir am Abend, Herr Hermsdörffer sei ebenfalls gekommen. Als er seinen Mantel abgelegt hatte, fragte er, ob Besuch da sei, und als Franziska antwortete, daß es der Doktor sei, zog er den Mantel wieder an und sagte bitter: ›Von uns beiden ist einer zuviel in diesem Hause‹ und ging wieder. Wenn ich ehrlich sein will, muß ich ihn entschieden in Schutz nehmen, Herr Landgerichtsrat.«

»Ehrlich ist das ohne Zweifel,« gab Karsten den bestimmten Ton zurück, »mit dem Inschutznehmen ist das so eine Sache. Wie steht es um Herrn Hermsdörffer nach Ihren Worten? Er verkehrt in einem Hause, er liebt die Tochter. Die Verlobung steht bevor, da wird sie durch das Unglück der Mutter verzögert. Die Mutter genest, aber ein anderer Mann erscheint auf dem Plan. Wer hat größeres Anrecht? Wessen Liebe ist stärker? Hermsdörffer ist verzweifelt; er sieht seine Liebe in Gefahr. Er verläßt das Haus mit einer Drohung. Am nächsten Tag fährt er mit seinem Wagen fort, allein, ganz gegen seine Gewohnheit ohne Schofför und ohne zu sagen, wo er nötigenfalls zu treffen ist. Am Nachmittag fährt er beim Doktor vor; er trifft ihn nicht zu Hause. Die Bedienerin sagt ihm, daß sie den Herrn nach sechs Uhr erwarte. Um halb sieben Uhr kommt der Wagen wieder, diesmal in sinnlos rascher Fahrt; man sieht ihn vor dem Gartentor halten. Eine Viertelstunde später wird der Doktor erschossen vor seiner Tür aufgefunden – – Was sagen Sie jetzt, Fräulein Herwegh?«

Irene hat erst ruhig zugehört, ohne recht zu begreifen, wo hinaus das sollte. Jetzt beginnt sie zu verstehen, und ihr Gesicht wird erschreckend weiß.

»Um Gottes willen. Sie wollen doch damit nicht etwa sagen –«

Der Richter legt den Kopf leicht zur Seite: »Ich habe noch keine Behauptung ausgesprochen; ich habe lediglich die ermittelten Tatsachen nebeneinandergestellt. Freilich, man kann daraus Schlüsse ziehen, die von außerordentlicher Tragweite sind. Wir stehen in einem Mordprozeß.«

»Aber ich kann unmöglich begreifen – Leo Hermsdörffer ist doch kein Mörder – wie können Sie das nur glauben!«

Sie drückte ihr Taschentuch auf die Augen. Es war keine Geste; es stürzte etwas in ihr zusammen, als ginge eine Welt in Scherben.

»Ich habe es auch nicht gesagt – noch nicht«, fügte er mit Betonung hinzu. »Aber es wäre nicht das erste Opfer, das um eine Frau gefallen ist.«

Als sie die Stufen des Landgerichtsgebäudes hinabstieg, suchte Irene unter den zahlreichen Wagen, die auf dem Vorplatz hielten, nach ihrem Schofför. Sie fühlte sich kaum imstande, ein paar Schritte zu gehen. Erst als sie ihn nicht fand, erinnerte sie sich, daß sie ihn mit bestimmter Absicht fortgeschickt hatte. Jetzt fehlte er ihr mit dem Wagen. Nur langsam erholte sie sich und fuhr in einer Taxe nach Hause.

Am Abend desselben Tages wurde Leo Hermsdörffer, als er von einer Geschäftsreise zurückkehrte, wegen Mordverdachts verhaftet.


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