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16

Auch Herbert Thiessen war nicht wenig erstaunt, als er eine Vorladung zur Befragung durch den Untersuchungsrichter in Händen hielt.

Unwillkürlich ging er die letzten Wochen durch, wo er gesündigt haben könnte.

Hatte er eine Verkehrsvorschrift übertreten? War er Zeuge eines Unfalls gewesen? War sein Gewissen in Steuersachen rein? Hatte er – nein, er fand nichts, fand, daß er ein tadelloser Mitbürger war ... Was wollte man also von ihm?

Er telefonierte die Gerichtsschreiberei an und erfuhr, daß es sich um eine Vernehmung in der Mordsache Eggebrecht handelte.

War das möglich – Eggebrecht! Der war schon seit vielen Wochen tot, war ein paar hundert Kilometer von Hamburg entfernt ermordet worden; man wußte nicht, von wem – was sollte er damit? Schuß ins linke Auge – und plötzlich kam ihm ein Gedanke, bizarr – verrückt – sollte man etwa gar glauben –? Nein, das war nicht möglich, so toll konnte keine Kombination sein, so was gab es nicht – und zudem wußte man ja auch von nichts! Es war ein barer Irrsinn! Aber er ging doch mit seltsamen Gefühlen zum Termin.

Eine elegante Erscheinung, fand Karsten, als der Mann bei ihm eintrat: gepflegtes Äußeres, dabei in keiner Weise gesucht, dunkle, würdige Kleidung, die einen ersten Schneider verriet, tadellose Manieren – in allem ein sympathischer Mensch. Eine Brille vor den Augen, deren rechtes Glas normal und deren linkes geschwärzt und gänzlich undurchsichtig war. Die Operation! Die linke Augenhöhle war seitlich durch einen schwarzen Schutz verdeckt, das tote Auge war unsichtbar. Immerhin, schade um den Menschen!

Bei Feststellung der Personalien erfuhr der Richter, daß Thiessen unverheiratet war. Das war ihm nicht verwunderlich. Nicht, daß es nach seiner Meinung dem weiblichen Geschlecht an Opferbereitschaft mangelte; aber es schien ihm ganz zu diesem Charakter zu passen, daß er dieses Opfer überhaupt nicht forderte. Jedenfalls hatte das zunächst nichts mit der Sache zu tun.

Herr Thiessen wußte nicht, daß der Richter da vor ihm eigens um seinetwillen nach Hamburg gekommen war; er wußte auch nicht, was er alles um seine Person schon zusammengetragen hatte. Landgerichtsrat Karsten sagte, wie er bei Vernehmungen in Sachen Eggebrecht schon manchmal begonnen hatte: daß die Vorladung zur Vernehmung noch lange keinen unmittelbaren Zusammenhang des Befragten mit der Mordaffäre bedeute, sondern daß es sich um Aufklärung der persönlichen Verhältnisse des Getöteten handle, vorwiegend um den Verkehr, den er gepflegt hatte, um Befragung aller Personen, die ihm in der letzten Zeit seines Lebens nähergetreten waren.

»Das Gericht hat festgestellt, daß Sie sozusagen einer der wenigen sind, zu denen Doktor Eggebrecht freundschaftliche Beziehungen unterhielt, wenigstens in der Zeit seines Hamburger Aufenthalts. Auch darüber hinaus scheint diese freundschaftliche Verbindung nicht gänzlich gelöst gewesen zu sein. Wollen Sie sich also über diese persönlichen Beziehungen ausführlich äußern?«

»Gewiß. Wir stammen beide aus Köln, haben dort zusammen das Gymnasium besucht. Wir freundeten uns an, denn unser beider Verhältnisse waren einander ähnlich. Eggebrechts Vater war Staatsanwalt, der meinige Bankdirektor; wir waren beide die einzigen Kinder. Eggebrechts Vater starb, während der Sohn das Gymnasium besuchte; dieser schloß sich darauf noch näher unserer Familie an.

Die Verschiedenheit unseres späteren Studiums trennte uns dann und brachte uns, wie das bei jungen Menschen wohl natürlich ist, auseinander, bis wir uns später unvermutet in Hamburg wiedertrafen. Ich hatte Anstellung bei einem Elektrizitätswerk gefunden, Eggebrecht war Assistenzarzt in der Städtischen Klinik.

Auch mein Vater war unterdessen gestorben: ich lebte unverheiratet bei meiner Mutter. Unsere Freundschaft lebte wieder auf, und unsere persönlichen Beziehungen wurden noch enger, als Eggebrecht auch noch seine Mutter verlor und nun ganz allein stand. Wir waren viel beisammen; er verkehrte ständig in unserer Familie, bis er plötzlich Hamburg verließ, um seine letzte Stelle anzutreten. Unsere Beziehungen wurden wieder lockerer; sie beschränkten sich auf gelegentliche Kartengrüße. Zu längeren schriftlichen Ergüssen waren wir wohl beide nicht geschaffen, hatten wohl auch nicht genügend Zeit dazu.«

Er schwieg. Karsten war sehr aufmerksam den Ausführungen gefolgt. Sie sagten ihm zunächst nicht viel Neues; er hörte bestätigt, was die Nachforschungen ergeben hatten. Aber er hörte doch auch Lücken heraus, das stand außer Frage; sie mußten unmerklich durch das weitere Verhör ausgefüllt werden.

»Sie sagten, daß er Hamburg ›plötzlich‹ verließ«, setzte er nach kurzer Pause ein und lehnte sich, um der Befragung den Anschein zwangloser Unterhaltung zu geben, behaglich in seinen hohen Stuhl zurück, »das läßt vermuten, daß es mit Ihnen von der Absicht eines Stellenwechsels vorher nicht gesprochen hat?«

»So ist es in der Tat. Wir waren beide, meine Mutter und ich, erstaunt, als er uns eines Tages vor die fertige Tatsache stellte. Wir konnten auch nicht umhin, ihm unser Befremden darüber auszudrücken.«

»Und was gab er Ihnen zur Antwort?«

»Nichts Bestimmtes. Es sei eben etwas schnell gegangen: die Stelle bedeute für ihn eine Verbesserung. Er habe schnell zugreifen müssen, aber vor der Lösung nicht darüber sprechen wollen, um keine unnötige Unruhe in unseren Verkehr zu bringen.«

»Hatten Sie nicht dabei den Eindruck, daß das eine etwas matte Begründung war?«

»Ich glaube wohl.«

»Sie wissen es nicht? Was haben Sie sich sonst dabei gedacht?«

»Daraufhin – nichts mehr.«

»Nichts? Mußten Sie nicht auf den Gedanken kommen, daß ihm irgend etwas den Aufenthalt in Hamburg verleidet hatte, oder – war über Ihre persönlichen Beziehungen etwa ein Schatten gefallen?«

Thiessen sah überrascht auf. Was wußte dieser Mann? Wie kam er zu dieser seltsamen Frage?

»Über das erste weiß ich nichts zu sagen, und von dem zweiten kann durchaus keine Rede sein«, antwortete er mit Bestimmtheit. »Unsere Freundschaft war die reifer Männer und konnte durch die kleinen Zwischenfälle des Lebens nicht getrübt werden. Ich darf wohl sagen, daß wir gegenseitig zu jedem Opfer bereit gewesen wären.«

Hatte er zuviel gesagt? Thiessen biß sich auf die Lippen; er hätte dieses letzte Wort gern wieder eingefangen. Dieser Mann mit dem klugen Gesicht fragte ihn ohnehin recht viel. Es war doch durchaus nicht nötig und sah ihm doch auch gar nicht ähnlich, mehr zu antworten, als wonach er direkt gefragt wurde. Zu dumm! Wie ungeschickt man doch in solchen Lagen werden konnte!

Doch es war zu spät zur Umkehr. Der Landgerichtsrat verblieb zwar in seiner scheinbar nachlässigen Haltung und bei seiner Miene persönlicher Unberührtheit, aber er setzte sofort bei der kleinen Blöße ein:

»Sie deuten dabei auf Ihren – Unfall hin? Darf ich Sie bitten, sich darüber auszusprechen?«

Thiessen hatte das Gefühl, eine Niederlage erlitten zu haben, eine ganz geringfügige zwar, aber für einen Menschen von feinem Empfinden doch merklich genug. Er ärgerte sich. Die Niederlage durfte nicht vergrößert, sondern mußte möglichst ausgeglichen werden.

»Ich möchte darüber schweigen«, sagte er nach sekundenlanger Pause. »Das betrifft meine rein persönlichen Verhältnisse. Ich sehe keinen Zusammenhang mit der Angelegenheit, zu der ich vernommen werden soll.«

Der Richter runzelte fast unmerklich die Stirn und beugte sich ein wenig vor.

»Darüber zu entscheiden, welche Dinge hier zur Sprache kommen, ist Sache des Richters«, sagte er mit zurechtweisender Ruhe. »Ich muß Sie aufmerksam machen, daß Sie dem Gericht gegenüber zu jeder Auskunft verpflichtet sind.«

Herbert Thiessen überlegte verdrossen einen Augenblick, ob er den Tadel widerspruchslos hinnehmen oder sich in einen Wortwechsel über seine Verpflichtungen einlassen sollte. Aber er sagte sich, daß er der Amtsperson gegenüber ohne Zweifel im Nachteil sei, und antwortete so sachlich und leidenschaftslos, als ihm irgend gelang, doch nicht ohne einen leise anklingenden Triumph:

»Auch wenn ich mich durch Darlegung der Verhältnisse – kompromittiere?«

»Den Begriff ›kompromittieren‹ kennt das Gesetz in diesem Zusammenhänge nicht«, fuhr Karsten mit unerschütterter Ruhe und schnell zurückgewonnener Verbindlichkeit fort. »Sie haben lediglich dann das Recht, Ihre Aussage zu verweigern, wenn Sie sich durch sie einer strafbaren Handlung bezichtigen müßten.«

»Mich – oder andere?«

»Nur Sie selbst.«

»Gut, ich werde antworten. Von einer strafbaren Handlung kann keine Rede sein. Ich möchte auch den Verdacht einer solchen nicht aufkommen lassen. Ich hatte mir durch ungeschickte Handhabung mit einer Waffe versehentlich eine Schußverletzung beigebracht. Die Kugel streifte mein linkes Auge und durchschlug den Knochen an der Schläfe. Ich kam in die Klinik. Doktor Eggebrecht ließ es sich nicht nehmen, mich zu behandeln, obgleich er in der Frauenabteilung tätig war. Es war eine schwere Verletzung, das Auge ging verloren – Sie sehen es ja.«

Das sehe ich zunächst nicht, dachte Karsten mit sachlicher Unerbittlichkeit; ich sehe nur, daß Sie es verschlossen tragen. Aber ich will mich nicht überzeugen, denn ich glaube es. Laut sagte er:

»Es tauchen da verschiedene Fragen auf, zum Beispiel: Welcher Art war die Waffe, und wem gehörte sie? Welche Veranlassung bestand zu ihrer Beschaffung oder, wenn sie schon vorhanden war, zu ihrer augenblicklichen Verwendung? Und wie kam es überhaupt zu dem Unglücksfall? Wie ist er dann vor sich gegangen?«

Thiessen nickt zustimmend.

»Ich will Ihnen ausführlich berichten. Wir lebten damals in Hamburg in einer häßlichen Zeit. Raubgesindel, Lumpenpack beherrschte die Straße. Ein Bekannter von uns war in der Nacht auf offener Straße beraubt worden. Sie nahmen ihm Barschaft und Uhr ab und zogen ihm den Überrock vom Leibe. Ein anderer wurde gezwungen, bei einem Umzug der Kommunisten die rote Fahne vorzutragen. Als er es uns empört erzählte und hinzufügte, das könne eines Tages auch uns passieren, davor sei in diesen Zeiten kein anständiger Mensch sicher, sagte Eggebrecht, was ihn beträfe, so sei das ausgeschlossen. Noch heute wolle er sich eine Waffe kaufen, um jeden auf der Stelle niederzuknallen, der ihn zu vergewaltigen versuche. Man könne ihn ja dann nach bewährter Methode zu Tode trampeln, aber er habe doch seine Ehre gerettet. Er erbot sich, mir ebenfalls eine Waffe zu besorgen, und ich bat ihn darum. Zu unserm nächsten Beisammensein brachte er dann auch zwei Browningpistolen mit, beide mit sechs scharfen Patronen geladen. Es waren zwei ganz gleiche Waffen; eine davon war für mich bestimmt und wurde mein Eigentum.‹

Der Richter war zu tief durch die Schule der Beherrschung gegangen, um sich merken zu lassen, wie lebhaft ihn die Sache zu interessieren begann. Als Thiessen eine kurze Pause machte, drängte er ihn nicht; er ließ es bei dem Anschein einer unverbindlichen Unterhaltung verbleiben.


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