Johannes Scherr
Novellenbuch. Erster Band
Johannes Scherr

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Viertes Kapitel.

»Der Weg von Freundschaft bis zur Liebe.« – Der gute Genius und der durch ihn herbeigeführte »Moment des befreiten Herzens«. – Ein Donnerschlag und eine Anekdote.

Damals blieben die Briefe – kaum glaublich für das an Dampf- und Telegraphengeschwindigkeit gewöhnte Geschlecht unserer Tage – Briefe, welche mit der Post von Weimar nach Rudolstadt und umgekehrt gingen, manchmal nicht weniger als vier Tage unterwegs. Zum Glück aber für befreundete Menschen, welche das rege Bedürfnis der Mitteilung hatten, gab es eine »Botenfrau«, welche schneller ging, als der Postwagen fuhr.

Diese gute Botenfrau hatte im Winter 1788-89 gar viele Botschaften zwischen dem Lengefeldschen Hause in Rudolstadt und der Wohnung Schillers in Weimar auszurichten, gar viele Briefe und Bücherpakete hin und her zu tragen. Es ist überhaupt »erstaunend«, um ein beliebtes Wort jener Zeit zu gebrauchen, wie sehr die Menschen des achtzehnten Jahrhunderts zum Briefwechseln aufgelegt waren. Uns Epigonen bleibt dazu nicht mehr Zeit genug. Oder sollten wir uns irren? Wird dem zwanzigsten Jahrhundert aus dem unsrigen auch eine solche Masse von gedruckten Briefwechseln beschert werden, wie uns aus dem achtzehnten? Mag sein, aber wir fürchten, was den Gehalt angeht, dürfte ein großer Unterschied fühlbar werden. Und doch wieder werden die Briefwechsel des neunzehnten Jahrhunderts vor denen des achtzehnten etwas voraushaben, das staatsbürgerliche Moment.

In Wahrheit, man müßte es »erstaunend« finden, wie die Bannerträger des deutschen Geistes im achtzehnten Jahrhundert fast durchweg so gar keine Beziehung zum Staate gewinnen konnten, wenn man nicht wüßte, daß es damals in Deutschland gar kein staatliches Leben gab. Das Deutsche Reich war nur eine Leiche des Mittelalters, und wenn alle edlen und strebsamen Geister vor dem widerwärtigen, Leichengeruch in die reinere Region der Ideale sich emporflüchteten, wer kann es ihnen verargen? Der Deutsche hat ohnehin wenig politisches Geschick. Er ist dazu viel zu wenig schlecht. Was Wunder, daß Männer, welche das Deutschtum in seiner höchsten Potenz darstellten, und noch dazu unter den angedeuteten Umständen, darauf ausgingen, für ihren Genius ein Gebiet zu suchen, welches sich von der gemeinen Wirklichkeit scharf abhob? Während jenseits des Rheins die schwarzen, schicksalsschwangern Wolken sich auftürmten, deren Elektrizität so bald in einem welthistorischen Gewitter sich entladen sollte, wandelten unsere Dichter und Philosophen in den Ätherhöhen der Idee und hielten jene Vorzeichen einer ungeheuren Katastrophe kaum einiger flüchtigen Seitenblicke wert. Und doch war hier wie dort der Geist des Jahrhunderts gleich tätig. Hier wie dort machte er Revolution, und wenn auch die deutsche nur im »Reich der Träume« vor sich gegangen, so war sie dafür eine zehnmal intensivere als die, welche tatsächlich in Frankreich sich abspielte. Keiner der großen Helden oder der großen Verbrecher der französischen Revolution ist auch nur bis an den Fuß jener Gletscherhöhe der Gedankenkühnheit gelangt, von welcher aus der kleine hagere Mann da hinten in Königsberg, welcher sozusagen nie aus den Toren seiner Vaterstadt herausgekommen, Immanuel Kant, den Himmel erstürmte. Wir scheinen nicht dazu bestimmt, die Saaten, welcher unser Genius aus dem Boden trieb, einzuheimsen. Aber was tut das am Ende? Der Welt wird die Ernte vom deutschen Gedankenfeld doch zugute kommen. Hellas ging unter, aber heute noch sind die Hellenen die Mitbürger aller wahrhaft gebildeten Menschen. Wann die Gloire der Franzosen wie ein Feuerwerk verpufft, wann die Seeherrschaft Englands zur fernen Sage geworden sein wird, dann immer noch wird die Menschheit von den Gastgeschenken zehren, die ihr Lessing und Kant, Goethe und Schiller hinterlassen haben. Diese Namen werden dann vielleicht verweht sein, aber nimmer wird im Wirbelsturm der Jahrtausende der Hauch des Geistes ihrer Träger verwehen.

Doch wir müssen zu unserer guten Botenfrau zurück, welche soeben in Schillers Zimmer getreten ist und aus ihrer mächtigen Ledertasche zwei Briefe hervorgezogen hat.

Karoline schrieb unter anderem:

»Ein großes Prinzip der Duldung ist mir der Gedanke, daß die Menschen zu dem geboren werden, was sie sind, und nicht fliegen können, wenn ihnen die Natur keine Flügel gegeben hat. So wie es Zedern und Gänseblumen geben muß, so muß es auch verschiedene Menschenarten geben, glaube ich. In unserem Herzen deucht es mir doch ein schöner Irrtum, daß wir die Gänseblumen mit gleicher Liebe wie die Zedern umfassen möchten; er deutet mir auf das Dasein einer schönheitsreicheren Welt, deren Ahnung unseren inneren Sinn ergriffen hat. Glücklich macht diese überfließende Kraft des Herzens nicht immer, und doch ist wieder kein Glück ohne sie. Ach, das Regen der Flügel der Psyche, die an ihre Hülle stoßen – wie klar drückt das Bild unsere Existenz aus!«

In Lottes Brief hieß es:

»Ich beobachte mich so gerne, wie so alles von außen auf mich wirkt und die Saiten meiner Empfindungen anschlägt. Wir hängen doch recht von kleinen Zufällen ab, und doch ist mir wieder nichts klein in der Welt, weil alles ineinander verflochten ist und zum großen Ganzen gehört. Ich vergesse gerne mein Ich, wenn ich an den großen Zusammenhang des Ganzen denke. Wie wird man sich selbst da so klein! Und es ist doch wieder so in unserer Natur, daß wir gerne alles auf uns zurückführen. Unstreitig aber sind es schönere Gefühle, wenn man nicht bloß auf sich sieht: wie weit und groß wird da der Geist!«

Wie schon so oft, brachten auch diesmal die Briefe der beiden Schwestern dem Dichter ihr ganzes Wesen wohltuend nahe. Scheinbar war der Ton in beiden Episteln der gleiche; beide Freundinnen philosophierten, aber wie sie es taten, das begründete den großen Unterschied, der dem Dichter so viel zu schaffen machte.

Denn sagen wir es nur gleich, sein Verhältnis zu den Schwestern hatte den seltsamsten Dualismus der Neigung in ihm hervorgerufen, einen Dualismus, welchen er, solange ihm derselbe nicht in seiner ganzen Schärfe klar geworden, durch ein seltsamstes Auskunftsmittel versöhnen zu können wähnte. Er dachte sich die Möglichkeit eines gemeinsamen Lebens mit den Freundinnen, die Möglichkeit eines idealen Doppelverhältnisses, welches freilich nur in den Gedanken eines Mannes von Schillers Seelenhoheit ein ideales bleiben konnte. Begreiflich und verzeihlich ist diese psychologische Verirrung von seiten eines Dichters, welchen sein Genius rastlos trieb, um die gemeine Wirklichkeit der Dinge den »goldnen Duft des Ideals« zu weben; aber wäre dieser Irrtum realisiert worden, hätte er realisiert werden können, Deutschland und die Welt hätten es zu beklagen gehabt, denn Schiller müßte an dieser Realität furchtbar schnell zugrunde gegangen sein. Charakteristisch für das Jahrhundert ist es jedoch immerhin, daß in einem seiner hellsten und edelsten Geister für eine Weile die Reminiszenz einer romantischen Monstrosität erwachen konnte, wie sie die mittelalterliche Sage von den Grafen von Gleichen erzählt.

Es währte einige Zeit, bis sich der angedeutete Zwiespalt in dem Dichter so weit entwickelt und geklärt hatte, daß wenigstens eine Entscheidung nach dieser oder jener Seite hin möglich ward. Gibt es doch gar hartnäckige Illusionen der Phantasie.

Der Schwung von Karolines Geist zog den Dichter mächtig an. Es war in dem Wesen der jungen Frau etwas dem seinigen Verwandtes: eine Kühnheit der Anschauung, welche, mit einem Fußtritte der Verachtung die Erde hinter sich lassend, zum Äther aufstrebte. Es war ihm Freude, die Freundin auf diesen Flügen zu begleiten und sie zu weiteren zu ermuntern. Sein eigener Idealismus fühlte sich so sympathetisch von ihrer Begeisterung getragen. Ihr Geist verstand den seinigen so ganz, und wie man mit duftenden Spezereien auf den Altären die heiligen Flammen nährt, so nährte sie mit den Huldigungen einer geistreichen Schwärmerei das Vestafeuer seiner Seele.

Aber – wunderliche Menschen, die wir sind! – mitten aus den Rosen des Freundschaftsenthusiasmus, welche Schiller der Freundin streut, blickt oft ein Etwas hervor, das, wenn es kein skeptischer Dorn ist, einem solchen wenigstens sehr ähnlich sieht. Ob der Dichter zuweilen schon ein Gefühl davon gehabt, daß Karoline, namentlich dann, als sie später als Schriftstellerin aufgetreten, von einer gewissen blaustrümpfigen Starkgeisterei und ästhetisierenden Koketterie, aller ihrer unbestreitbaren großen Vorzüge und Tugenden ungeachtet, keineswegs ganz frei war, ob der Dichter so ein Gefühl gehabt, steht dahin. Aber etwas scheint ihn unter dem Schleier sittlicher Hoheit, welcher über die Freundin gebreitet war, dennoch geschreckt zu haben: gerade das Außerordentliche in Karolines Wesen. Das fürchtete er, denn die Überzeugung, daß eine Frau, die ein außerordentliches Wesen sei, ihn nicht glücklich machen könne, lehrte ihm stets wieder.

Hatte er doch diese Überzeugung, um ihrer je verlustig gehen zu können, mit allzu schmerzlichen Erfahrungen erkauft. Schon hatten früher zwei außerordentliche weibliche Wesen seine Laufbahn gekreuzt, erst Lauretta, dann Lolo. Was anderes hatten ihm, bei kälterer Überlegung, seine Beziehungen zu diesen beiden eingetragen als Schmerzen? In Lauretta hatte er den Geist der Abenteuerlichkeit, in Lolo den Geist der Leidenschaft des Jahrhunderts verkörpert gefunden, in Formen allerdings, die einen Dichter blenden mußten, ihn aber doch nicht auf die Länge bestechen konnten. Es war in Schiller bei allem Aufschwung immer eine gewisse schwäbische Bedächtlichkeit, ein idyllisch-häuslicher Sinn, von welchem man Notiz nehmen muß, um von seiner Äußerung, daß bei einer ewigen Verbindung, die er eingehen solle, Leidenschaft nicht sein dürfe, nicht überrascht zu werden. So hatte er früher dem Gedanken entsagt, in einer Verbindung mit Lauretta oder Lolo sein Glück zu suchen, und so übertrug er seine Hoffnung auf eine beglückende Verbindung von der kühn und hoch schwärmenden Karoline allmählich auf ihre sanftere Schwester.

Die Korrespondenz mit Lotte zeigte ihm, daß er bei dieser jene Ruhe finden würde, welche dem Manne von Genie nach seinen Ausflügen doppelt nötig und wohltuend ist. Auch Lotten mangelte es nicht an Verständnis für das hohe Streben des Freundes. Sie ließ sich gern und leicht von den Fittichen seines Genies mit emportragen in die Regionen idealischer Schönheit, aber zugleich wußten ihn ihre Naivität, ihre angeborene Sicherheit, das Leben zu nehmen, wie es ist, vor dem Verschwärmen und Verfliegen ins Luftleere zwanglos anmutig zu bewahren. Jeder Blick auf die Freundin, jeder ihrer Briefe mußte ihn mehr und mehr überzeugen, daß es sich an dieser Brust, in welcher ein so echt weibliches Herz schlug, sicher ruhen lassen müßte. Lotte hatte ihm einmal über den »Don Karlos« geschrieben und dabei gesagt, daß sie besonders von der Stelle angemutet worden sei, wo Posa so schön das Bild der Königin entwerfe. Der Dichter schlug die Stelle nach, und als er laut vor sich hin die Worte las:

In angeborner stiller Glorie,
Mit sorgenlosem Leichtsinn, mit des Anstands
Schulmäßiger Berechnung unbekannt,
Gleich ferne von Verwegenheit und Furcht,
Mit festem Heldenschritte wandelt sie
Die schmale Mittelbahn des Schicklichen,
Unwissend, daß sie Anbetung erzwungen,
Wo sie von eignem Beifall nie geträumt. –

da kam es über ihn, als müßte ihm, da er dieses schrieb, eine prophetische Ahnung von Lottes Bild und Wesen die Feder geführt haben.

Wo aber mehr nur die stille Macht des Gemütes als das hochwogende Begehren leidenschaftlich aufgeregter Phantasie waltet, gelangen die Empfindungen selten zu rascher und entscheidender Ergießung. Schiller konnte sich zwar durch manchen innigeren Seelenton in Lottes Briefen ermutigt fühlen, ihr die Beschaffenheit seiner Gefühle für sie mitzuteilen, aber er kam vorerst noch nicht dazu. Freilich ließ er sie merken, daß er ihr mehr sagen möchte, als seine Briefe enthielten, und er beklagte sich, daß auch die übereinstimmendsten Menschen, die »einander so schnell und leicht auffassen und so lebendig ineinander leben, doch wieder einen so weiten Weg zueinander haben, sich so nahe und doch so fern sind«. Dann biegt er wieder ab und bringt es nur so weit, die Freundin seine Stimmung erraten zu lassen, indem er ihr die unterdrückte Stelle aus dem »Don Karlos« schickt:

... Schlimm, daß der Gedanke
Erst in der Worte tote Elemente
Zersplittern muß, die Seele sich im Schalle
Verkörpern muß, der Seele zu erscheinen.
Den treuen Spiegel halte mir vor Augen,
Der meine Seele ganz empfängt und ganz
Sie wiedergibt; dann, dann hast du genug,
Das Rätsel meines Lebens aufzuklären.

Inzwischen trat jener Wechsel in der äußeren Lage des Dichters ein, welcher ihn seinen Wohnsitz von Weimar nach Jena verlegen ließ. Die »Geschichte des Abfalls der Niederlande« hatte Aufsehen erregt, und so erhielt Schiller, auf Betreiben Goethes, von dem Weimarer und den übrigen thüringischen Höfen, deren gemeinschaftliche Landesuniversität Jena war, den Antrag, dort eine Professur der Geschichte zu übernehmen. Das war freilich kein »klingender« Antrag, aber immerhin gereicht es dem achtzehnten Jahrhundert zur Ehre, daß es den Mann, welcher die Einleitung zu jenem Geschichtswerk geschrieben hatte, für berufen erachtete, ein Lehrer der akademischen Jugend zu sein. Etwas schüchtern – denn er wußte wohl, wie manchen Lerngang er noch auf dem Gebiete zu machen habe, welches er jetzt lehrend betrat – bestieg er an einem der ersten Maitage 1789 zum erstenmal die Lehrbühne, aber die Hunderte von Zuhörern, welche sein Ruf herbeigelockt, machten ihm Mut. Er setzte seinem Auditorium Wesen und Zweck des geschichtlichen Studiums in einer vortrefflichen Rede auseinander und hatte sich, zunächst über alte Geschichte lesend, bald leidlich in seine Dozentenrolle hineingefunden.

Aber Wirrsal und Verbitterung blieben doch auch nicht aus! Das steife Professorentum ließ seinen Zopf empfindlich genug vor Schillers Gesicht herumschwirren, und die Schwestern hatten häufig Gelegenheit, den Freund über Anfechtungen von jener Seite her zu trösten. Und dann drängte gerade das Verhältnis zu den Freundinnen zu einer Entscheidung. Schiller fühlte, daß es so wie bisher doch nicht wohl fortgehen könnte. Abgesehen von allem anderen, stand er jetzt in einem Alter, wo jeder rechte Mann auf die Begründung einer eigenen Häuslichkeit denkt, und er hatte vom elterlichen Hause her stets das Gefühl in sich getragen, daß einem wohl sein müßte in seinen vier Pfählen, wenn man eine darüber hinaus reichende tüchtige Wirksamkeit entfalten wollte. So fühlte er sich denn jetzt in Jena doppelt einsam und klagte, seinem Herzen fehle die »beseelende Berührung«.

Hier nun trat Karoline wie ein guter Genius vermittelnd ein. Sie hatte mit richtigem Takte das Bedürfnis einer friedlichen Häuslichkeit, die Sehnsucht nach einem ruhigen Familienleben aus dem Freunde herausgefühlt, und sofort war ihr Entschluß gefaßt. Viel, sehr viel mag dieser Entschluß sie gekostet haben, aber nachdem sie erkannt, daß er der einzig richtige sei, hielt sie ihn fest mit der ganzen Kraft ihrer Seele und brachte ihn so gewandt, wie das eben nur eine Frau kann, zur Ausführung.

Die beiden Schwestern begleiteten im Hochsommer eine Freundin zur Badekur nach Lauchstädt. Diese Freundin, Karoline von Dachröden, hatte sich kürzlich mit dem jungen und liebenswürdigen Wilhelm von Humboldt verlobt, welcher soeben seine akademischen Studien in Göttingen vollendet hatte und jetzt in Weimar und Jena Anknüpfungen zu weiteren suchte und fand. Durch seine Braut im Lengefeldschen Hause heimisch geworden, hatte Humboldt auch Schillers Bekanntschaft gemacht, und diese blühte von Tag zu Tag mehr zu jener Freundschaft auf, welche für des Dichters Bestrebungen so fördernd werden sollte. Denn damals schon rührte sich in dem jungen Humboldt jene universelle Empfänglichkeit und jener feinkritische und doch immer wohlwollende Sinn, wodurch er später ein so bedeutender Forscher und Gesetzgeber des Schönen geworden ist.

Ein Besuch des jungen Mannes in Lauchstädt lieh Karolinen einen schicklichen Vorwand, auch Schiller zu einem Ausflug dahin zu veranlassen, und als er gekommen, ging sie ohne Zögern daran, die Lösung eines Knotens zu versuchen, welcher immer verworrener zu werden drohte.

Die Schwestern wohnten im Hause des Tischlers Küchler, einem der stillsten des stillen Badeortes, wo es nur dann lauter herging, wenn zeitweilig der Hof von Weimar herüberkam, und sehr laut nur dann, wenn eine Bande Jenenser Studenten einfiel. Die Hinterseite des Küchlerschen Hauses sah auf eine einsame Wiese hinaus, welche mit Buschwerk und Bäumen besetzt war.

Auf diesen Platz blickten, am Fenster stehend, an einem tauschweren und sonnenhellen Augustmorgen Frau von Beulwitz und Schiller, welche eine lange, ernste, zum Teil leidenschaftliche Unterredung soeben beendigt hatten.

Der Dichter, vom Wiedersehen der Freundin aufgeregt, war in jenen seltsamen Dualismus zurückgefallen, dessen wir oben gedachten, und hatte mit beredsamer Zunge phantastische Zukunftspläne entworfen.

»O, meine Freundin,« hatte er gesagt, »dann wird unser Leben erst wirklich angefangen haben. Ich schreibe, aber ich weiß euch in meinem Zimmer. Sie, Karoline, sind am Klavier, und Lottchen arbeitet neben Ihnen, und aus dem Spiegel, der mir gegenüber hängt, sehe ich euch beide. Ich lege die Feder weg, um mich an euren schlagenden Herzen zu überzeugen, daß ich euch habe, daß nichts euch mir entreißen kann. Ich erwache mit dem Bewußtsein, daß ich euch finde, und mit dem Bewußtsein, daß ich euch morgen wieder finde, schlummere ich ein. Der Genuß wird nur durch die Hoffnung unterbrochen und die süße Hoffnung nur durch die Erfüllung, und getragen von diesem himmlischen Paar verfliegt unser goldenes Leben!«

»Nicht also, teurer Freund,« hatte Karoline klar und fest entgegnet, »nicht also! Warum sich in Phantasien berauschen, die uns, das Unmögliche als wirklich erscheinen lassend, nur verwirren müßten? Haben Sie mir nicht früher selbst gesagt, daß bei einer Verbindung, welche Sie dauernd beglücken soll, Leidenschaft nicht sein dürfe? Und Sie hatten recht, vollständig recht. Ich will Ihnen daher sagen, was Ihnen zu Ihrem Glücke notwendig ist: ein Wesen, welches Sie liebt, hegt und pflegt, ein Wesen, welches ganz in Ihnen aufgeht, ohne doch alle Schätze Ihres Herzens als Entgelt dafür in Anspruch zu nehmen, ein Wesen, das Ihnen Ruhe gibt, ohne um die Freiheit Ihres Geistes kleinliche Schranken zu ziehen. Ich kenne ein solches Wesen und – sehen Sie mir nur offen in die Augen, bester Freund – auch Sie kennen es und wissen, daß Sie von demselben nur Gutes zu gewärtigen haben.«

»Sie sind immer gut, Karoline,« sagte er etwas kleinlaut, »und wissen mich mit sanfter Hand zu mir selbst zurückzuführen.«

»Das ist ja, denke ich, überhaupt die Aufgabe von uns Frauen, und so will ich sie denn auch an Ihnen üben. Ich weiß, was Sie quält und drückt, lieber Freund, was Sie wünschen und ersehnen. Der peinigende Zwiespalt in Ihnen, der den Flug Ihres Geistes hemmt, muß ein Ende nehmen. Glauben Sie mir, indem ich Sie glücklich und zufrieden sehe, bin ich es auch, und so sage ich Ihnen, suchen Sie nicht mir und sich selbst zu verheimlichen, was ich längst weiß, nämlich: Sie sehen mich mit dem Auge der Phantasie an, meine Schwester aber mit dem des Herzens.«

»Wie?« rief Schiller aus, fast erschreckt durch diese Enthüllung und doch auch wieder wie von einer schweren Last befreit.

»Ja,« fuhr die Freundin fort, »so ist es. Und nicht erst seit heute oder gestern ist es so. Als Sie neulich an Lotte die Verse aus ›Don Karlos‹ sandten, wußte ich, welches Gefühl Ihr Herz erfülle.«

»Aber – Lotte?«

»O, seien Sie ruhig – ich habe in meiner Schwester Herz gelesen: es schlägt warm und innig für Sie.«

»Es wäre möglich?«

»Es ist. Und nicht erst die Verse aus ›Don Karlos‹ und die Art, wie Lotte sie aufnahm, haben mich überzeugt. Erinnern Sie sich eines Abends aus dem vorigen Sommer, lieber Freund. Sie waren von Vollstädt zu uns hereingekommen und waren Zeuge einer kleinen Störung zwischen der chère mère und Lotte geworden. Mama war weggegangen, und auch ich hatte für eine Weile das Zimmer verlassen. Als ich zurückkam, hielten Sie Lottes Hand in der Ihrigen. Sie hatten der Guten tröstende Worte gesagt, Sie hatten ihr die Hand gedrückt und – Ihr Händedruck war erwidert worden. Ich sah es wohl, und ich sah noch mehr, denn ich mußte bemerken, daß mein Kommen störend war, störend für Sie beide. Sehen Sie, das war für Sie und Lotte so ein Moment des befreiten Herzens. Warum sollte er nicht wiederkehren, heute, jetzt? Es ist eine glückliche Stunde. Sehen Sie, wie hell der Himmel und wie morgenfrisch die Erde! Es atmet in dieser Morgenfrische etwas, das die Seele löst. Lotte ist dort unter den Bäumen. Gehen Sie zu ihr, ohne Zaudern. Glückliche Augenblicke wollen benutzt sein. Gehen Sie, teurer Freund! Lassen Sie Ihr Herz sprechen, das der Schwester wird antworten.«

Und er war wirklich gegangen.

Da rührte aber doch ein heftiger Sturm die Seele Karolines auf.

»Das Opfer ist gebracht,« flüsterte sie mit bebenden Lippen vor sich hin, »und er hat es angenommen!«

Dann warf sie sich auf einen Stuhl und weinte bitterlich.

Nach einer in Schmerzen verbrachten Stunde raffte sie sich auf, trocknete ihre Tränen, vertilgte sorgfältig die Spuren derselben und ging auf die Wiese hinunter.

Sachte durch das Gebüsch schreitend, nahte sie sich auf Umwegen der Stelle, wo die Schwester seit dem Aufenthalt am hiesigen Orte gerne und oft weilte, der Bank unter dem großen Nußbaum, welcher inmitten einer Fülle von Blättergrün seinen weißen Stamm erhob.

In der Nähe desselben angekommen, bog sie die Zweige auseinander und sah den Dichter und die Schwester mitsammen auf der Bank sitzen. Schiller hielt die beiden Hände des Mädchens in den seinigen, und Lotte lehnte an dem geliebten Manne, das sanft gerötete Gesicht an seiner Schulter verbergend.

Die Herzen hatten sich befreit, die Seelen gelöst, und die beiden ergingen sich jetzt in jenem süßen Geplauder, welches dem Austausche süßester Geständnisse zu folgen pflegt.

Karoline hatte über das eigene Herz einen schweren, aber schönsten Triumph errungen. Wenn beim ersten Anblicke des Paares ein stechender Blitz, etwas wie Eifersucht, ihr durch die Brust gefahren, so war das so schnell gegangen, wie es gekommen. Mit neidloser Freude blickte sie jetzt auf die Glücklichen und hörte mit innigster Teilnahme, was sie sich alles zu sagen hatten.

»So ist es denn wahr, teuerste Lotte?« sagte der Dichter, die ganze Treuherzigkeit seiner Seele in den Augen. »Karoline hat richtig in Ihrer Seele gelesen?«

»Sie wußten es wohl, Teuerster,« entgegnete sie, »und schon lange mußten Sie es wissen können. Warum sollte ich mich verstellen, Ihnen gegenüber verstellen? Ja, Karoline hat in meiner Seele gelesen. Sie lebten darin, ach, wie so ganz! Glänzend und hell steht der Gedanke, zu Ihrem Glücke beitragen zu dürfen, vor mir. Kann es treue innige Liebe, so ist der warme Wunsch meines Herzens erfüllt, Sie glücklich zu sehen.«

»Ich werde es sein, Geliebte, denn du wirst mir angehören und mit liebevoller Hand die Wolken von unserem Himmel scheuchen. O, wie schwer ist mir mein Geheimnis dir gegenüber geworden! Oft, als wir in Rudolstadt täglich uns sahen, nahm ich meinen ganzen Mut zusammen und kam zu dir mit dem Vorsatz, dir mich zu entdecken, aber dieser Mut verließ mich immer. Ich glaubte Eigennutz in meinem Wunsche zu finden; ich fürchtete, daß ich nur meine Glückseligkeit dabei im Auge hätte, und dieser Gedanke scheuchte mich zurück. Konnte ich dir nicht werden, was du mir warst, so hätte mein Leiden dich betrübt, ich hätte die schöne Harmonie unserer Freundschaft durch mein Geständnis zerstört, ich hätte auch das verloren, was ich hatte, deine reine und schwesterliche Freundschaft. Dann gab es wieder Augenblicke, wo meine Hoffnung auflebte, wo die Glückseligkeit, die wir uns geben konnten, mir über alle Rücksichten erhaben schien, wo ich es sogar für edel hielt, ihr alles übrige zum Opfer zu bringen. Du konntest ohne mich glücklich sein, aber durch mich nie unglücklich werden. Du konntest dich einem andern schenken, aber keiner konnte dich reiner und zärtlicher lieben als ich. Dieses fühlte ich lebendig in mir, und darauf baute ich meine Hoffnungen, bis sie dann wieder erblaßten vor der Zurückhaltung und Kälte sogar, welche ich oft an dir mir gegenüber wahrzunehmen glaubte.«

»Und ist es mir nicht ähnlich ergangen, Geliebter? Wie oft ergriffen mich diese Gefühle, und ich durfte sie dir nicht sagen. Auch wenn ich gewiß gewesen wäre, ob ich dir das sei, was du mir. Wohl empfand ich, daß dich meine scheinbare Kälte oft abgestoßen haben könnte, Teurer, Lieber. Meine Anhänglichkeit an dich konnte ich dich nicht so, wie ich wünschte, fühlen lassen. Meine natürliche Scheu vor jedem Schein von Zudringlichkeit mag wohl eine der Ursachen davon gewesen sein. Während du im vorigen Sommer unter uns lebtest, kam mich so oft ein starkes Mißtrauen gegen mich selbst an. Der Gedanke, daß dir Karoline mehr, soviel mehr sein könnte als ich, die Vorstellung, daß du mich zu deinem Glücke nicht nötig hättest, zog mich auch mehr in mich zurück. Die Menschen, die mehr Zutrauen zu sich selbst haben, sind wohl glücklicher. Zuweilen möchte ich auch so sein, aber ich hatte, als ich noch klein war, einen Hang zur Eitelkeit, der mich, wenn er mir geblieben wäre, recht unerträglich hätte machen können. Da ist es nun doch wohl besser, ich bin zu furchtsam und zu bescheiden als zu eitel.«

»Wie schön diese Bescheidenheit dich kleidet, Teuerste! Aber deine Liebe ist ja, alles, was du brauchst, und ich will sie dir leicht machen durch die meinige. Ach, das eben ist das höchste Glück in unserer Verbindung, daß sie auf sich selbst ruht und in einem einfachen Kreise sich ewig um sich selbst bewegt. Karoline ist mir näher im Alter und darum auch gleicher in der Form unserer Gefühle und Gedanken als du, meine Lotte. Aber ich wünschte nicht um alles, daß du anders wärest, als du bist. Und sieh, was Karoline etwa vor dir voraushat, mußt du von mir empfangen. Deine Seele muß sich in meiner Liebe entfalten, und mein Geschöpf mußt du sein. Deine Blüte muß in den Frühling meiner Liebe fallen. Hätten wir uns später gefunden, so hättest du mir diese schöne Freude weggenommen, dich für mich aufblühen zu sehen.«

»Wie gut du bist, Friedrich, und wie gern ich deine frohen Hoffnungen teile! O, es wird eine schone Zeit sein, wenn wir erst ganz füreinander leben. Wievieles wird sich nach und nach im ungestörten Beisammensein entwickeln, wievieles werden wir noch aneinander finden, was uns näher und enger verknüpfen kann. Deine Liebe macht mich so glücklich, so ganz glücklich. Ich will es zu verdienen suchen, redlich zu verdienen suchen, dieses Glück. Reich in deinem Geiste wird der meinige sich freuen, dem Fluge deines Genius zu folgen. Welche Aussicht auf die Zukunft! Wie so hell und lachend steht nun mein künftiges Leben vor mir! Aber wir dürfen nicht selbstsüchtig sein, Teurer. Wenn diese Stunde dich beglückte, wie mich, so komm, daß wir die schwesterliche Hand dankend drücken, die uns so liebevoll zusammengeführt hat.«

»Daran erkenne ich wieder meine gute, zärtliche, selbstsuchtslose Lotte. Daß du und Karoline so gut zusammenstimmen, hat mich immer tief gefreut. Ist es doch so selten, daß Schwestern, die von früher Kindheit an in soviele Kollisionen kommen, bei entwickeltem Charakter einander etwas sind. Eure beiderseitige Harmonie ist ein schöner Genuß für mich, und ich vereinige euch in meinem Herzen, wie ihr euch selbst vereinigt habt. Ja, komm, wir wollen zur Schwester.«

»Sie ist hier,« sagte Frau von Beulwitz, aus dem Gebüsch hervortretend, »sie ist hier, um sich mit euch zu freuen und euch, ihr Teuren, und diese Stunde zu segnen, in welcher gute Götter das Rätsel eurer Herzen so schön gelost haben.«

»O, meine teure Karoline, o, meine geliebte Lotte!« rief der Dichter hochbewegt aus. »Wie eine Glorie schwebt eure Liebe um mich, wie ein seliger Duft überkleidet sie mir die ganze Natur. Nie noch habe ich so wie jetzt empfunden, wie frei unsere Seele mit der ganzen Schöpfung schaltet, wie wenig diese doch für sich selbst zu geben imstande ist und alles, alles von der Seele empfängt. Nur durch den Menschen wird sie mannigfaltig, nur dadurch, daß wir uns erneuen, wird sie neu. Wie oft schon ging mir die Sonne auf, wie oft hat meine Phantasie ihr Seele und Sprache verliehen. Aber nie, nie bis heute hab' ich in ihr meine Liebe gelesen. Gestirn des Tages, empfange das Jubelopfer meines beglückten Herzens!«

Er führte die errötende Braut der Schwester zu, deren Arme auch ihm sich öffneten, und so standen die drei guten Menschen

– »in der schönern Welt,
Wo aus nimmer versiegenden Bächen
Lebensfluten der Dürstende trinkt
Und, gereinigt von sterblichen Schwächen,
Der Geist in des Geistes Umarmungen sinkt.«

Vielleicht ist es dem Menschen gut, daß solche Momente eben so selten als kurz sind. Er ist doch lange nicht ätherisch genug organisiert, sie auf die Länge zu ertragen, und müßte daher eigentlich – obgleich er es nicht ist – jedem Zufall dankbar sein, welcher ihn aus den olympischen Höhen wieder in die Niederung der Wirklichkeit zurückversetzt.

Die Annäherung rascher Schritte löste die Gruppe unter dem Nußbaum.

Wilhelm von Humboldt kam über die Wiese daher, und wenn die drei nicht selber zu bewegt gewesen wären, hätten sie an dem jungen Manne eine ungewöhnliche Aufregung wahrnehmen müssen. Er hielt einen offenen Brief in der Hand und rief den Freunden schon von weitem zu:

»Da schickt mir Professor Schulz aus Paris ein ganzes Gewitter mit wetterleuchtenden Blitzen und weltgeschichtlichen Donnerschlägen. Der Sturm ist zum Ausbruch gekommen, die brütende Schwüle hat sich entladen. Freuen Sie sich, teurer Freund, die Geister, welche Ihr Posa beschworen, sind rührig am Werke. Am vierzehnten Juni hat das Volk von Paris die Bastille erstürmt!«

Das war in der Tat ein weltgeschichtlicher Donnerschlag. Aber solche Donnerschläge sind doch recht störend, wenn sie so plötzlich in ein Idyll der Liebe hereinfallen.

Karoline war zuerst fähig, dem Eindruck der großen Neuigkeit, welche in jenen Tagen Millionen von Herzen wie eine Verheißung besserer Zeit durchzitterte, von ganzem Herzen sich hinzugeben und demselben enthusiastischen Ausdruck zu verleihen.

»Welch ein Glückstag,« sagte sie. »Soweit es Menschen von freiem Geiste und fühlender Seele gibt, muß diese Zertrümmerung eines Monumentes finsterer Despotie als ein Vorbote des Sieges der Freiheit über die Tyrannei erscheinen.«

Lotte, obgleich sie, wie alle empfänglichen Gemüter in Deutschland, den Anfängen der Staatsumwälzung in Frankreich bisher mit Teilnahme gefolgt war, enthielt sich der Zustimmung zu dieser Äußerung; denn sie blickte auf den Geliebten und sah, daß dieser von der Neuigkeit keineswegs freudig überrascht war. Sie hatte schon angefangen zu halten, was sie versprochen: in seinem Geiste zu leben.

Wilhelm von Humboldt zeigte schon damals in seinem Auftreten und Gebaren eine Mäßigung und Selbstbeherrschung, welche den künftigen Staatsmann in ihm erraten ließ. Dennoch war er durch das große Ereignis, welches in Paris stattgefunden, höchlich erregt. Sein in Beobachtung und Beurteilung politischer Phänomene und Probleme bereits geübter Geist sagte ihm, daß der Bastillensturm und die damit verknüpften Vorgänge eine französische nicht nur, sondern europäische Katastrophe von unberechenbarer Tragweite ausmachten. Daher konnte er sich denn auch nicht in die Kälte finden, womit Schiller die Nachricht aufgenommen hatte.

Und doch hätten Humboldt und Frau von Beulwitz, welche die Verwunderung des ersteren teilte, bei ruhiger Überlegung begreifen müssen, daß Schiller – auch abgesehen davon, was er heute erlebt hatte – durch die Pariser Neuigkeiten weit mehr ernst und sorgenvoll als froh gestimmt werden mußte.

Wir haben früheren Ortes auszuführen oder wenigstens anzudeuten versucht, daß unseres Dichters Idealismus kein gemachter, sondern ein gefühlter, ein gelebter gewesen sei. Er gab sich in seinen Dichtungen stets so, wie er wirklich war. Auch sie sind, wie die Goetheschen, Bekenntnisse. Seine Werke sind zugleich Schillers Bildungsgeschichte. Sieben, ja nur drei Jahre früher hätte ihn eine geschichtliche Tatsache wie der Bastillensturm unzweifelhaft in Feuer und Flammen gesetzt. Nun aber war die revolutionäre Periode seines Lebens und Dichtens schon vorüber. Er hatte an der Hand der Geschichte den Verlauf der menschlichen und staatlichen Geschicke ruhiger ansehen und beurteilen gelernt. Der Ungestüm subjektiver Willkür, der jugendliche Sturm und Drang lag ihm schon fernab, er konnte sich die Freiheit nicht mehr als eine anarchische, sondern nur noch als eine schöne, das heißt, organisierte vorstellen, und ihm schien, nie würden die Völker auf dem Wege der Revolution das gewinnen, was sie nur auf dem Wege »ruhiger Bildung« erreichen könnten. Man kann dieses Ideal, welches bekanntlich auch Goethe hegte, ein einseitiges nennen, wie denn alle Ideale im Grunde einseitig sind und sein müssen, aber man muß es fest im Auge halten, wenn man unsern Dichter nicht unrichtig beurteilen will. Sein ganzes Dichten und Trachten war auf Verkündigung und Anbahnung schöner Menschlichkeit gerichtet, er war ein befreiender Geist, nicht aber ein revolutionärer. Nur der Unverstand kann diese Begriffe in einen zusammenwerfen wollen, Schiller hat den Unterschied durch einen Vers in seinem Gedicht von den Künstlern prägnant ausgedrückt. Er will die Gesellschaft:

Frei durch Vernunft, stark durch Gesetze – und hierin liegt schon der Ausschluß alles Gewaltsamen. Bei alledem aber bleibt die Frage offen, ob ein tieferes und liebevolleres Eingehen in die Tatsachen der Wirklichkeit Schillers Stellung zur französischen Revolution nicht wesentlich hätte modifizieren müssen. Das Verständnis der geschichtlichen Notwendigkeit, aus welcher gewaltsame Umwälzungen entspringen, ist unserem Dichter keineswegs in dem Grade verschlossen geblieben, wie es Goethe blieb, aber doch hat auch Schiller auf die unausweichlichen Störungen der »schönen Harmonie«, welche sein Idealismus anstrebte, durch notwendige weltgeschichtliche Katastrophen ein allzu großes Gewicht gelegt.

Humboldt gab nach dem empfangenen Briefe eine lebhafte Schilderung des großen Ereignisses und sagte zum Schluß:

»Sie sehen ernst, teurer Freund, und diese Vorgänge scheinen Sie eher zu verstimmen als zu erfreuen.«

»Ich will es nicht leugnen,« versetzte der Dichter. »So sehr ich einerseits mit diesem heroischen Aufschwung einer Nation sympathisieren möchte, ebensosehr kann ich trübe Ahnungen nicht unterdrücken. Der Bastillensturm erscheint mir als ein Symptom, welches unzweideutig auf die Republik hinweist.«

»Und das könnte Sie mißmutig machen, lieber Freund?« fragte Frau von Beulwitz erstaunt.

»Mißtrauisch, ja,« entgegnete Schiller. »Die Baumaterialien zu einer modernen Republik sind noch nicht vorhanden, und es ist die Frage, ob sie es jemals sein werden. Jede Nachahmung der antiken Republik aber wird und muß an unseren viel zu komplizierten sozialen Verhältnissen scheitern. Und dann, ein so sittlich verwahrlostes Volk, wie die Franzosen, namentlich in den ausschlaggebenden gebildeten Ständen, sind, ist entschieden unfähig, wahrhaft republikanisch zu fühlen und zu handeln.«

»Aber,« warf Humboldt ein, »es ist doch viel guter Fond in diesem Volke, etwas Gutmütiges und wieder Schwungreiches, selbst in den Verzerrungen seiner Leidenschaft. Schulz schreibt mir da eine Anekdote, die zugleich komisch und charakteristisch ist. Er selbst ist der Held des Abenteuers, wobei er gelegentlich mit hätte ausgeheult werden können. Er war dabei, als Camille Desmoulins im Palais Royal das Volk zum Aufruhr stachelte. Als die aufgereizte Menge herausströmte, wurde er mit fortgerissen, und da man ihn für einen Engländer hielt, wollte ihn ein Trupp zum Anführer haben. Man drang ihm eine Flinte auf, und er mußte mit, gern oder ungern. Unterwegs gabeln sie noch andere auf, welche aber das Mitgehen verweigern, weil sie Fremde seien. Comment, sagte ein zerlumpter Kerl zu ihnen, vous ne ferez rien pour l'humanité? Schulz benutzte den entstandenen Wortwechsel, um sich still im Gedränge zu verlieren und seine Flinte von sich zu werfen.«

Die Schwestern lachten, und der Dichter lächelte bei der Vorstellung von den Nöten eines friedlichen deutschen Gelehrten im Strudel der Revolution. Auch in der weltbürgerlichen Phrase des Pariser Proletariers lag etwas Versöhnendes, und so löste sich die drückende Spannung, in welche der Donnerschlag die kleine Gesellschaft versetzt hatte, in Heiterkeit auf.


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