Johannes Scherr
Novellenbuch. Erster Band
Johannes Scherr

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Viertes Kapitel.

Ein Brief, woraus der Leser erfährt, daß es hartnäckige Träume und starke Zauber gibt, worin ferner vom Sankt Labatus gehandelt und schließlich ein Stück Alpenwelt aufgerollt wird.

Spät am andern Tage schied der Dichter von dem alten Freidenker und Humoristen. Konnte er auch die Denkweise desselben im ganzen und großen nicht teilen, ja widerstrebte sie entschieden dem warmen Enthusiasmus seiner Seele, so ward er doch auch wieder angenehm berührt durch die humane Jovialität des greisen Epikureers, der hier in Waldeinsamkeit seiner Auflösung in die Elemente oder, wie der Mann sich ausdrückte, seinem Erwachen aus dem wunderlichen Lebenstraume mit gleichmütiger Heiterkeit entgegensah.

Beim Nachhausekommen fand er ein Briefpaket vor, welches der Freund in der nahen Stadt, der seine ganze Korrespondenz vermittelte, geschickt hatte. Da war nun große Freude in der stillen Dichterklause. Ein Brief von der Schwester Christophine wurde zuerst geöffnet. Alle auf der Solitude waren wohlauf. Der Vater habe, schrieb Christophine, den »Fiesko« gelesen und sich den Anschein gegeben, als müßte er über manches darin bedenklich den Kopf schütteln. Tags darauf habe er aber gelegentlich verlauten lassen, es sei doch wohl was an seinem Jungen, dem Fritz.

Beruhigt über die Zustände im elterlichen Hause, öffnete Schiller einen dickleibigen Brief, dessen Adresse die Hand des Sammetdoktors verriet. Der alte Herr schrieb aber nur kurz, Stuttgart stehe noch immer auf dem alten Flecke, Petersen und Kapff seien noch immer gleich durstig, auch habe sich, soviel er wisse, keine Madame und keine Mamsell um des entwichenen Poeten willen weder im Resenbach noch im Neckar ertränkt. Das beigeschlossene Schreiben, hieß es weiter, habe ihm Scharffenstein zur Besorgung übergeben.

Nach diesem beigeschlossenen Schreiben griff der Dichter mit freudiger Hast. Es war von William Raleigh und aus Genf datiert. Das Datum war aber schon mehrere Monate alt.

Der Amerikaner schrieb:

»Der Traum ist zerstoben, der Zauber gebrochen. Sagte ich, teurer Freund, nicht so zu Dir, damals unter der Klosterlinde von Lorch? Wohl, ich erinnere mich auch, daß ich daran glaubte. Wie sich doch die Menschen belügen! Wenn ich Dir sage, daß der Traum zurückgekehrt und der Zauber mit verstärkter Macht wirksam geworden, wirst Du vielleicht mit geheimer Befriedigung an die selbstgefällige Art und Weise zurückdenken, womit ich mir einst, euch deutschen Träumern gegenüber auf meine Männlichkeit und transatlantische Verständigkeit etwas zugute tat.

Triumphiere immerhin! Ich gestehe Dir, ich war ein Tor, daß ich mich selber belügen wollte. Und wisse: ich lasse mich dahintragen von der Flut der Leidenschaft, ungewiß, wohin sie mich reißen wird.

Ein Wort erklärt Dir alles: ich habe Lauretta wiedergesehen!

Du weißt, in welcher widerwärtigen Stimmung ich das alte Schwabenland verließ. Ich wollte mir womöglich diese Stimmung mittels einer Wanderung durch die Schweizeralpen, deren Schönheit mir Freund Sammetdoktor so verlockend geschildert hatte, aus der Seele wischen, um dann in Gottesnamen als der alte ruhige Mensch über den Ozean heimzukehren. Aber es sollte anders kommen. Man entgeht seinem Schicksal nicht. Das ist sehr trivial, aber sehr wahr.

In Zürich angekommen, ließ ich es mir, begierig nach Zerstreuung, angelegen sein, die größte Merkwürdigkeit des Ortes kennen zu lernen, den berühmten Lavater. Ich hatte in Deutschland von der Tätigkeit und Wirksamkeit dieses Exemplar-Christen, der zugleich ein Intimus Goethes war, soviel gehört, daß es mich drängte, ihn von Angesicht zu Angesicht zu sehen. Ach, mein Freund, ich fürchte fast, es geht uns mit den berühmten Menschen wie mit den gotischen Münstern eurer Städte. Aus der Ferne gesehen, erfüllen uns diese das gemeine Häusermeer weit überragenden Kolosse mit dem Gefühle der Ehrfurcht. Kommen wir ihnen aber näher und zuletzt ganz nahe, so finden wir gewöhnlich diese Riesenbauten aufs häßlichste verunstaltet durch an sie angeklebte schmutzige Trödelbuden und übelriechende Butiken.

Sankt Lavatus hat mich leider auch an diese Erfahrung erinnert. Er steht jetzt in der Blüte seiner Jahre, und seine feinen Gesichtszüge, seine liebenswürdigen Manieren sind sehr gewinnend. Er ist ein bedeutender Mensch, keine Frage, und seine Tätigkeit ist wirklich eine mirakelhafte, wenn auch in anderer Beziehung, als er sich einbildet. Wunderbar nämlich ist es, woher er die Zeit nimmt, das alles zu tun, was er tut. Er steht seinem Amte vor, beteiligt sich an gemeinnützigen Bestrebungen seiner Mitbürger, macht Verse, schreibt erbauliche und andere Bücher, treibt physiognomische Studien, briefwechselt mit halb Europa und ist bei alledem höchst zugänglich und gesellig. Aber – nun, Du weißt, Abkunft, Erziehung und Überzeugung haben mich zu einem Christen gemacht, das heißt, ich lebe des festen Glaubens, daß die Grundlehren des Christentums, allen dogmatischen und hierarchischen Verunstaltungen zum Trotze, groß und wirksam genug seien, um alle Stürme dieser und kommender Tage zu überdauern – aber das Christentum von Sankt Lavatus, bei aller Warmbrüderlichkeit und scheinbaren Toleranz des Mannes, ist mir viel zu ausschließlich und engherzig. Ich meine wahrgenommen zu haben, daß der berühmte Mann hinter der Maske des Humanisten immer wieder den Theologen sehr deutlich hervorblicken lasse. Zweifelsohne ist es ihm in Wahrheit unbegreiflich, daß, wie er sich ausdrückte, ein Mensch leben und atmen könne, ohne ein Christ zu sein, aber warum auch anderen diese Unbegreiflichkeit mit aller Gewalt aufdringen wollen? Sobald ein Mensch in die fixe Idee verfällt, Gott habe ihn ganz spezifisch zum Gefäß der Wahrheit gemacht, wird er sich nicht lange von dem Hochmut aller derer freihalten können, welche das Heil der Welt von ihrer eigenen persönlichen Überzeugung abhängig glauben. So auch Lavater. Zudem hat ihn der Weihrauch, welcher, namentlich von Frauenhänden, tagtäglich mündlich und brieflich vor ihm angezündet wird, völlig berauscht. Seine Eitelkeit ist geradezu enorm und erschien, mir wenigstens, um so widerlicher, je koketter sie den Mantel der Demut umhängt. Man hat ihn so lange einen Apostel und Propheten genannt, bis er sich alles Ernstes für einen solchen hielt. Im übrigen hat er sich, wie ich glaube, den ersten Teil des evangelischen Spruches: ›Seid klug wie die Schlangen und einfältig wie die Tauben!‹ sehr gut gemerkt. Daher mag auch, vermut' ich, seine Wundersucht keineswegs so ganz naiv sein, wie sie sich zu geben versteht. Das hinderte jedoch nicht, daß er von mehr als einem Koryphäen der mystischen Geheimnisselei unserer Zeit greulich mystifiziert wurde, ohne sich dadurch von seinem Verkehr mit allen Wundermännern und Scharlatanen, an denen die Gegenwart so reich ist, abwendig machen zu lassen.

So ein Wundermann hatte auch kurz vor meiner Ankunft in Zürich diese Stadt besucht und unserem Sankt Lavatus den größten Respekt eingeflößt, Er, der Wundermann, hieß es, sei ein sizilianischer Graf von den außerordentlichsten Kenntnissen in der Magie und nebenbei von ungeheurem Reichtum. Er habe viel mit Lavater verkehrt, diesen aber zuletzt sehr wegwerfend behandelt und zu ihm gesagt: ›Sind Sie von uns beiden der Mann, der am besten unterrichtet ist, so brauchen Sie mich nicht; bin ich's, so brauch' ich Sie nicht.‹ Dessenungeachtet konnte Lavater nicht müde werden, von dem Abenteurer – denn ein solcher ist der Mensch sicherlich – zu sprechen und ihn zu preisen.

Das geschah an Lavaters Tisch, in großer Gesellschaft. Zufällig hatte ich zum Nachbar einen Mann, der nicht mysteriensüchtig genug war, um des gesunden Menschenverstandes zu ermangeln. Er teilte daher, wie er mir sagte, keineswegs die Meinung Sankti Lavati über den Magier aus Sizilien. Die Beschreibung der Person desselben machte mich aufmerksam. Ich fragte mit größter Spannung nach mehr und immer mehr Einzelheiten, und was ich erfuhr, beseitigte in mir jeden Zweifel. Der Sizilianer war kein anderer als jener südländische Gesell, welchen wir, weißt Du? damals in der blauen Ente zu Gmünd gesehen haben und der am selben Tage, wo Lauretta aus Gotteszell verschwand, die alte Reichsstadt verließ.

Und sie, sie – Lauretta, war mit ihm in Zürich gewesen – als seine Tochter!

Begreifst Du etwas von diesem Rätsel, teurer Freund? Ich nicht. Aber das ist mir klar, daß sich das wunderbare Kind damals von dem Sizilianer aus dem Kloster entführen ließ. Sollte er wirklich Laurettas Vater sein? Aber das ist ja demzufolge, was Du mir früher über die Herkunft des Mädchens angedeutet hast, kaum möglich. Oder ist er sonst ein Verwandter von ihr? Lauretta stammt ja mütterlicherseits auch aus Sizilien.

Sie war mit dem Sizilianer häufig in Lavaters Hause gewesen und hatte den Züricher Propheten völlig bezaubert. Seiner Beschreibung nach konnte nur sie es sein, mußte sie es sein. Es lebt kein zweites solches Wesen. Außerdem hatte er einen Schattenriß von ihr genommen und sie für seine physiognomische Porträtsgalerie zeichnen lassen. Er sprach von ihr mit einem Enthusiasmus, der mich alle Schwächen des Mannes vergessen ließ. Ich beachtete kaum die aufgespannte, gesalbte, orakelnde Manier, womit er Laurettas Schönheit und Gaben pries, ich lauschte mit angehaltenem Atem und – da merkte ich, daß ich das Mädchen immer noch grenzenlos liebe.

Mein rationalistischer Nachbar äußerte sich weniger überschwenglich über dieses Thema. Er gestand zwar auch, er habe nie etwas Reizenderes gesehen als dieses junge Mädchen, aber zugleich meinte er, das Kind sei leichtfertig genug, den Sizilianer bei den Wunderkünsten, womit derselbe gläubige Toren äffe, zu unterstützen, und wäre es auch nur aus mutwilliger Freude an Possen und Schabernack. Dies sagte er mir, um den begeisterten Herrn vom Hause nicht zu ärgern, ganz leise; ich aber war töricht genug, mich darüber noch heftiger zu erbosen, als es Lavater getan haben würde. Und doch zischte es wie ein Strahl eisigen Wassers in meine Glut, als mir der rationalistische Schweizer noch den Umstand mitteilte, der Sizilianer habe in Zürich die Bekanntschaft des exzentrischen Herzogs Emil von S. G. gemacht, von dessen Sonderbarkeiten ich schon in Deutschland gelegentlich dies und das gehört hatte. Der Fürst, auf einer Schweizerreise begriffen, habe sich ganz auffallend gnädig gegen den Sizilianer und noch gnädiger gegen Lauretta erwiesen. In seinem Gefolge seien die beiden nach den inneren Gegenden der Schweiz abgereist.

Ich will Dich, lieber Schiller, mit Schilderung meiner Gemütsbewegungen verschonen, welche aus dieser bedenklichen Neuigkeit entsprangen, und gebe Dir im weiteren nur eine einfache Darstellung meiner Reiseerfahruugen. Sie sind Dir, dem Dichter, vielleicht nicht ganz unwillkommen. Aber Bruderherz, Du solltest dieses wunderbare Land selber sehen. Inmitten dieser Lieblichkeit, Pracht und Majestät habe ich die deutsche Naturseligkeit, wie sie aus Goethes Werther blüht und duftet, erst recht verstehen gelernt.

Ich verließ Zürich noch am Abend des Tages, wo ich im Hause Lavaters die erwähnten Aufschlüsse erhalten, natürlich auf der Route, welche der Herzog von S. G. mit seiner Reisegesellschaft eingeschlagen. Ich ging über den Albis. O, was tut sich dem Auge für eine Herrlichkeit auf, wenn man den südlichen Abhang dieses Bergzuges, welcher längs dem anmutvollen Zürichsee aufragt, hinabsteigt. Der See von Zug ist wie die Expositionsszene des erhabenen Alpenschauspiels. Als der erste Akt mag der unvergleichliche Vierwaldstättersee bezeichnet werden. Auf diesem Boden begreift man den Schwur im Rütli und Tells Schuß.

Von der paradiesischen Landzunge von Weggis aus bin ich auf den Rigiberg hinaufgestiegen, welcher nach der Versicherung meines Gastwirts in Luzern eine großartige Rundsicht bieten sollte. Freund, das ist ein Punkt, wie es vielleicht keinen zweiten auf Erden gibt. Als ich mit meinem Führer bei der Sennhütte nahe dem Gipfel oder Kulm, wie sie ihn nennen, angelangt war nach mehrstündigem Steigen, neigte sich die Sonne gerade dem Untergange zu und goß über das grandiose, vor meinen Augen entrollte Panorama ihren goldroten Scheidegruß aus, über diese zahllosen Seen und Ströme, über die kolossalen Kuppen und Firne vom Säntis im Osten bis zur Jungfrau im Süden, über die Kette des Jura im Westen, über den Schwarzwald und die Felsenkegel des Hegau im Norden. Das grünte, glühte, leuchtete, funkelte allum – prachtvoll! Glorios! Und der Zauber verschwand nicht mit der Sonne: die Dämmerung machte die Szene noch erhabener, noch feierlicher, und besonders war die Partie der Glarner Alpen wundervoll. Ein rosenroter Duft wallte über die Schneefelder des Glärnisch, des Tödi und der Klariden hin, verschwamm langsam in den Äther, und dann ragten die Bergkolosse weißgleißend, ungeheuren Gespenstern gleich in die Nacht empor, die sich allmählich über die Lande lagerte.

Meine Seele war noch voll von dem Geschauten, als mich nach kurzem Schlafe das Alphorn zum Sonnenaufgang weckte. Hinausgeeilt in die Morgenkühle, sah ich einige Minuten lang die Welt noch chaotisch dämmernd tief, tief unter mir liegen. Jetzt rührte sich's im Osten – ein blasses Leuchten sprang auf am Saume des Himmels, verstärkte sich, wurde weißlich, gelb, grünrot, und nun kam mit einmal die Sonne in purpurner Majestät zwischen dem Säntis und dem Mürtschenstock herauf, ließ ihre roten Strahlen wie lohende Feuerpfeile von Kuppe zu Kuppe, von Firn zu Firn, von Gletscher zu Gletscher schießen und dann allmählich, wie sie selber höher stieg, an den Fels- und Schneewänden niedergleiten, bis endlich Land und Wasser, Berge und Täler, Felder und Wälder in lachendem Morgenglanze dalagen, gebadet in Licht und Glorie.

Bruderherz, wenn ich jemals dahin kommen sollte, an Welt und Leben zu verzweifeln, so will ich mich dieses Sonnenaufgangs auf dem Rigi erinnern. Ein Dasein, das solche Entzückungen bietet, ist am Ende unter allen Umständen wert, gelebt zu werden.

Ich fand zu Brunnen am Vierwaldstättersee Spuren der Reisegesellschaft, die ich suchte. Sie deuteten nach dem Gotthard zu. Ich beschleunigte meine Fahrt. In Amsteg, am Fuße des berühmten Passes, erfuhr ich, daß die Gesuchten kaum eine Stunde vor meiner Ankunft daselbst von dort aufgebrochen seien. Nacheilend beachtete ich kaum die Schönheiten meines Weges, bis mich oberhalb Wasens beim Eintritt in die sogenannten Schöllenen die wilde Erhabenheit der Umgebung den Zweck meiner Hast fast vergessen ließ.

Der Saumpfad hat Dich im Zickzack in eine ungeheuere, finstere Schlucht geführt. Ringsher scheint die Welt mit Granit vermauert. Du mußt den Kopf weit in den Nacken zurücklegen, um droben ein Stückchen Himmel zu erblicken. Zu Deinen Füßen schäumt, rauscht, wütet die Reuß. Du fragst Dich: Ist das der Eingang zu Miltons Hölle? Doch Du biegst noch um eine Felsecke und dort schwingt sich vor Dir der rettende Steg, die Teufelsbrücke, über den tobenden Abgrund.

Ich aber schrak freudig zurück.

Denn auf der Brücke stand Lauretta und sah über das schmale Geländer hinweg in den brodelnden Schlund.

Es ging gegen den Mittag zu, und da bricht das Sonnenlicht mit Macht herein in diese Höllenschlucht. In gewaltigen Stürzen wirft sich der Bergstrom von Fels zu Fels. Weiß von Schaum, blitzen die Strudel aus der Tiefe und der aufdampfende Wasserstand wölbt, vom Sonnenstrahl getroffen, prachtvolle Regenbogen über dem wilden Getobe.

Aber das sah ich nur so wie im Traum. Ich beachtete auch nicht die zwei Begleiter Laurettas, nicht das Gefolge, welches jenseits der Brücke mit den Saumpferden hielt – ich sah nur sie.

O, wie war sie so schön und hold! Sie war die Sonne, welche die Höllenschlucht mit Himmelsglanz erfüllte.

Doch verzeihe, teurer Freund, diese Phantasterei dem Liebenden. Erinnere Dich der Zeit, wo Du die Lauraoden dichtetest. Freilich, ich bin kein Dichter, aber steht nicht geschrieben, zuweilen breche die Poesie aus jedem hervor wie die Träne aus der Rebe im Lenz?

Nur ein Rest von Mannesstolz hatte mich abgehalten, auf sie zuzueilen und ihr zu Füßen zu stürzen wie ein Toller. Als ich in gemessenerem Tone, aber gewiß verworren genug, meine Begrüßung vorgebracht hatte, sah sie mich lange an, so wenig Überraschung blicken lassend, als verstände sich mein Kommen ganz von selbst. Ihre Antwort auf meine Ansprache klang nicht gerade abweisend, aber auch nicht einladend, kurz, sie empfing mich wie eine Königin den Untertan empfängt, welcher an die Stufen des Thrones tritt, ihr zu huldigen. Und ich ließ mir das ganz gern gefallen. Glaubte ich doch bei alledem in Laurettas Miene den Ausdruck eines gewissen Vertrauens zu mir wahrzunehmen.

Sie stellte mich als einen alten Freund – und das Wort Freund betonte sie so liebenswürdig, daß es mich entzückte – den beiden Herren vor, welche mit mir auf der Teufelsbrücke gestanden hatten. Während wir den Steig zum Urnerloch emporstiegen, betrachtete ich mir die beiden, und so taten sie mit mir, der ihnen wahrscheinlich nicht sehr willkommen war.

Der Herzog von S. G. ist ein hochgewachsener, blonder, blasser Mensch, denn ich kann nicht Mann sagen, da sein Gesicht mit dem außerordentlich feinen Teint und den nebelhaft blaßblauen Augen ein entschieden weibisches ist. Er ging in einer wunderlichen, halborientalischen Tracht, deren seiltänzerische Barockheit gar nicht zu seinen sentimentalen Zügen stimmte. Überhaupt scheint er aus den tollsten Kontrasten zusammengewürfelt, wie denn auch seine langen, starkknochigen, muskelstarken Gliedmaßen gar nicht zu seinem weibischen Gesicht und seiner weichlichen Haltung passen. Er nahm einen Anlauf, mich sehr von oben herab zu behandeln, da ich ihn aber deutlich merken ließ, daß ich nicht der Mann sei, so etwas untertänig hinzunehmen, wurde er sehr artig, fast übertrieben. Lauretta bemerkte es, und ihre Unterlippe zog sich verachtungsvoll zusammen. Dann lachte sie und sagte: ›Durchlauchtiger Herr, das ist ein widerhaariger Republikaner von jenseits des Ozeans, der sich nicht so leicht in die Ehrfurcht hineinfindet, welche Ihre angestammten Untertanen von Rechts wegen vor Ihrer erlauchten Person empfinden. Sie müssen ihm das schon zugute halten.‹ – ›Madonna‹ entgegnete der Fürst, ›Ihre Winke sind stets Befehle für mich.‹ Nicht nur aus dieser Antwort, sondern auch aus dem ganzen Benehmen des Herzogs gegen Lauretta konnte ich unschwer den Schluß ziehen, daß sie ihn beherrschte, wie sie von jeher ihre Umgebung beherrscht hatte.

Der Conde Fenix – welch ein abenteuerlicher Name! – war eben der Italiener aus der blauen Ente und brauche ich ihn Dir also nicht erst zu schildern. Mir fiel um so mehr auf, daß ihn der Herzog mit größter Höflichkeit, ja mit Ehrerbietung behandelte, da der Mann den Stempel der Gemeinheit so entschieden auf der Stirne trug. Lauretta ihrerseits benahm sich gegen ihn mit souveräner Königlichkeit, falls Du mir diese Wortbildung gestatten willst. Er redete sie stets respektvoll mit Signora an, sie dagegen nannte ihn kurzweg Monsieur, mitunter auch Conde, aber dieser Titel klang in ihrem Munde nur wie eine Verhöhnung desselben. Scharfen Blickes hatte der Wundermann bemerkt, daß Lauretta wollte, ich sollte zuvorkommend behandelt werden, und so überschüttete er mich mit Zudringlichkeiten in seinem sizilisch-französischen Kauderwelsch. Er machte auch wiederholt das Maurerzeichen, aber ich fand nicht für gut, es zu verstehen. Der Mensch war mir im höchsten Grade verdächtig und widerlich.

›Ah, welche Überraschung!‹ rief Lauretta aus, als wir, aus dem Urnerloch hervorgetreten, plötzlich das reizende Urserental im hellen Sonnenscheine vor uns liegen sahen.

In der Tat, der Anblick dieses grünen, von blendenden Schneekuppen überragten Hochtals, durch welches sich die Reuß, bevor sie sich häuptlings in den Schöllenenschlund stürzt, sanften Laufes schlängelt, ist eine der lachendsten landschaftlichen Überraschungen, die man sich denken kann. Wir verbrachten den Rest des Tages an diesem anmutigen Orte, dessen reine Luft man mit Wollust einschlürft. Lauretta unterhielt sich fast ausschließlich mit mir, behandelte mich wirklich als einen Freund und war unbeschreiblich heiter und liebenswürdig. Aber gerade diese Liebenswürdigkeit verleitete mich zu einer großen Dummheit.

Du begreifst leicht, lieber Schiller, daß mir viel daran liegen mußte, wenigstens einigermaßen über das Verhältnis Laurettas zu dem Grafen und dem Herzog ins klare zu kommen. Aber ich griff es sehr ungeschickt an, indem ich damit begann, zu ihr zu sagen: ›Mein teures Fräulein, in welcher Gesellschaft mußte ich Sie wiederfinden!‹ – Sie sah mich stolz an und versetzte: ›Was geht es Sie an, mein Herr, wenn ich mir meine Gesellschaft wähle, wie es mir beliebt?‹ Von diesem Augenblicke an war alle Vertraulichkeit zu Ende, und Lauretta wies alle weiteren Annäherungsversuche von meiner Seite entschieden zurück.

Wir übernachteten in Andermatt. Von einer ganz ungewöhnlichen, bleiernen Müdigkeit befallen, suchte ich am Abend mein Lager und erwachte am andern Morgen erst, als die Sonne schon hoch am Himmel stand. Lauretta und ihre ganze Reisegesellschaft war schon in aller Frühe fort, wie man mir sagte. Und sie hatte kein Wort, kein Zeichen für mich zurückgelassen. Der Kopf schmerzte mir, ich fühlte mich halb krank. Ein schlimmer Verdacht stieg in mir auf. War meine gestrige Müdigkeit, mein ganz ungewöhnlich langer und tiefer Schlaf vielleicht nicht ganz natürlich gewesen?

Der Wirt konnte oder wollte mir über die Richtung der Reisegesellschaft Laurettas keine Auskunft geben. Aber es konnte dieselbe, da sie nicht zurückgegangen, nur zwei Richtungen eingeschlagen haben, aufwärts zum Gipfel des Gotthard und von dort abwärts nach Italien, oder aber das Urserental entlang dem Furkapasse zu. Im Dorfe Hospenthal scheidet sich der Weg. Dort sagte mir der Wirt, die Reisenden, nach welchen ich mich angelegentlich erkundigte, hätten den Weg nach Realp eingeschlagen, um von da über die Furka und Grimsel zu gehen. Wahrscheinlich hab' ich dem Manne ein zu voreiliges Vertrauen geschenkt. Schon die Beeilung, womit er mir ein frisches Saumpferd antrug, hätte mich stutzig machen können. Aber ich ward es nicht, um so weniger, als Lauretta tags zuvor davon gesprochen, daß sie das Berner Oberland besuchen wollte.

So zog ich denn weiter, über Realp, die Furka hinan, hinein in die eigentliche Gletscherregion. Bei meinem Vorrücken in derselbe ist es mir sonderbar ergangen. Enthält die Luft, die man auf jenen den Dunst und Quark des Alltagslebens so hoch überragenden Höhen atmet, wirklich ein Element der Befreiung, das einem die Leidenschaften in der Brust schweigt und Schmerzen und Kummer von der Seele löst? Ich muß es wohl glauben. Die Größe, die erhabene Stille dieser Natur läßt auch das größte Menschenleid klein, so unbeachtenswert klein erscheinen und weist den lärmenden Tumult unserer Gefühle und Wünsche nicht rauh gebieterisch, aber dennoch unwiderstehlich zur Ruhe. Als ich das Urserental verließ, haderte ich mit Gott und der Welt und mit mir selber und fühlte mich höchst unglücklich. Nachdem ich einen Tag in der wundervollen Wildnis gewandert, kam ich mir vor wie über alles, was mich quälte, wie über mich selbst hinausgehoben.

Ich stieg von der Höhe der Furka hinab zum Rhonegletscher, dessen ungeheure Massen vom Galenstock herabstürzen, eine im Sturze erstarrte Flut. Die kaum geborene Rhone überschreitend, klomm ich die jähe Maienwand hinan, ging über die beschneite Grimsel und herbergte im Grimselhospiz. Sieh, Lieber, das ist ein Sarg aus Granit, Eis und Schnee, der keinen Ausgang zu bieten scheint. Da ist das Leben erstarrt und der Winter sagt verächtlich zum Sommer: Hier biet' ich dir Trotz – komm an!

Folgenden Tages hinab mit dem jungen Aarestrom in das Haslital, das wie eine ungeheure schwarze Furche zwischen himmelhohen Bergkolossen sich hinwindet. Bei der Handeck donnert die Aare hinab in einen schwarzen Felsentrichter, in dessen Schlund der Blick schwindelnd sich verliert. Und von seitwärts her wirft sich der wilden Tochter der Finsteraarhorn- und Schreckhorngletscher, der silberhelle Ärlibach in den Abgrund nach, daß ihre Wasser im Sturze sich vermischen, bis sie an den Felszacken zu Atomen zerstäuben. Ist das nicht wie Liebe, wie meine Liebe? Eile ich nicht mit Hast einem Wesen nach, wild, launisch, strudelnd wie die junge Aare, um vielleicht an ihm und mit ihm zugrunde zu gehen? Ach, einlullen wohl kann die Natur die Dämonen in der Menschenbrust, aber sie töten nimmer!

Bei Meyringen, wo von allen Höhen Sturzbäche rauschen, spinnt auch der gloriose Reichenbach sein gewaltiges Silbertau aus einer Schlucht hervor, daß es blendend in der Luft hängt. Dort hinauf zum Rosenlauigletscher mit seinen wunderbar gestalteten blaugrünen Eisgrotten. Dann hinab nach Grindelwald. Auf dieser Szene, deren gigantische Kulissen das Wetterhorn, die Viescherhörner, der Eiger und zwei bis zur Talsohle herabsteigende Gletscherstrüme bilden, erlebte ich das unbeschreibliche Schauspiel eines Gewittersturmes in den Hochalpen. Laß mich schweigen darüber. Ich sage nur: mir klangen bei diesem Erlebnis die Donnertöne des 29. Psalms bebend in der Seele nach.

Von Grindelwald aus wieder bergauf zur Wengernalp. Aus den Abgründen kochten die Morgennebel auf und zerschellten an den Eisstirnen der Bergriesen. Die Sonne brach triumphierend hervor, als ich oben bei der Scheideck angelangt. Sie hatte sich entschleiert, die Königin der Alpen, und da stand sie vor mir, über allen Ausdruck klar und herrlich in ihrer ewigen Schönheit, die Jungfrau! Ein Bild, das, einmal in seiner ganzen Vollpracht gesehen, nie wieder in der Seele erlöschen kann. Du stehst geblendet, starrst entzückt, staunend, sprachlos hinüber auf die Silberhörner und bläulichen Gletschergehänge, da horch, ein Donner! Und doch ist der Himmel rein und wolkenlos. Strenge Dein Auge an. Siehst Du dort aus einer der Eisschluchten des Berges ein silbernes Gestäube hervorbrechen? Ist es ein Sturzbach, der talwärts geht? Er verschwindet – er stäubt weiter niederwärts wieder hervor – ein Donnerschlag, dumpfnachrollend – aus hundert Klüften antwortet der Widerhall wie der Chor einer äschyleischen Tragödie – Du hast eine Lawine fallen gesehen und donnern gehört!

Du mußt Dich endlich mit Gewalt losreißen, um niederzusteigen ins Tal von Lauterbrunnen. Jawohl, lauter Brunnen! Wie das plätschert und stürzt und klingt von allen Berghalden! Beim gastlichen Pfarrherrn des Tales hielt ich Rast. Sein Haus steht der schwindelnden Felswand, von welcher der Staubbach herabflattert, gerade gegenüber. Da war wenige Tage vor mir ein Reisender Dänemark eingekehrt und hatte in das Gedenkbuch des Predigers eine Schilderung des Staubbaches in deutschen Versen geschrieben. Sie ist nach meinem Gefühl vortrefflich. Ich schrieb sie für Dich ab und hier hast Du sie:

Wie wenn gelind anfächelt der West, vom Gipfel des Mastbaums
Vielgeschlängelt, in wechselndem Schwung das Wipfel herabschweift,
Bald in die Länge gestreckt, bald eingeschlürft im Geringel,
Fallend und wiedergehoben, ein Spiel des scherzenden Zephirs,
Immer wenn kaum es die Welle berührt mit der züngelnden Spitze,
Zuckt es zurück, stammt schollernd empor und flattert am Himmel:
Also schwebt in der wehenden Luft der ätherische Gießbach
Mannigfaltig bewegt, vom Rande der ragenden Felswand
Hochabwallend, gefangen im Fall, nun hierhin und dorthin
Flatternd, ohne den Grund mit dem flutigen Schweif zu berühren.
Oben erscheint er als Strom, ein der Luft entstürzender Meerschwall,
Hoch in der Mitt' ein Gewölk und unten ein weißlicher Nebel;
Dann in der Tiefe hinab des hundertklaftrigen Jähfalls
Löst sich die Woge verdünnt zur Wölk' und verdunstet als Rauchdampf.
Nur hoch oben donnert er stets und droht in dem Hersturz
Alles mit reißender Flut zu verschwemmen; allein es verwandelt
Sanft sich in Milde die Wut und er netzt staubregnend das Hüglein,
Daß auch die zartesten Kräuter des Frühlings unter ihm aufblühn.

Aber so Großes und Prächtiges mir auch die Alpen schon gezeigt, ich war noch lange nicht von ihrer Schönheit gesättigt. Ich dürstete, ihre geheimsten Reize zu erblicken, die sie fernab vor den Blicken derer birgt, welche nur die gewohnten Touristenpfade treten. Mich verlangte nach einer echten und gerechten Gletscherfahrt. Zwei Gemsjäger, nachdem sie mich prüfenden Blickes gemustert, ob meine Gliedmaßen so einem Gange auch gewachsen seien, erboten sich, mich wohlbehalten über das Eismeer zu bringen, welches zwischen dem Lauterbrunner und dem Kanderntal lastet.

Noch funkelten die Sterne am Himmel, als wir in der Morgenfrühe von Lauterbrunnen aufbrachen. Am Schmadribachsturz vorbei, einem der herrlichsten der Schweiz, geht es bergan, mählich, dann steiler, bis zur Moräne des unteren Tschingelgletschers. Weißt Du, wie es einem wird, wenn man zum erstenmal über einen Gletscher wandert und über die grünblau klaffenden Schlünde springt, in welchen tief unten die Gletscherbäche in der Finsternis tosen? Es ist einem zumute, als wandelte man über einen gefrorenen Orkan. Anfangs gar nicht sehr heimelig. Du mußt Dich erst mit diesen ungewohnten Tönen, mit dem Gekrache des Eises, mit dem hohlen Gebrause der darunter strömenden Wasser befreunden. Dein Auge muß schwindelfrei, Dein Fuß fest sein, dann hat es, bei hellem Wetter und mit einem zuverlässigen Führer an der Seite, keine große Gefahr.

Wie mit einem ungeheuren Schwung wirft der obere Tschingelgletscher seine Eismassen auf den untern herab. Da galt es, einige tausend Fuß hoch eine völlig senkrechte Felswand emporzuklimmen. Das ist der Tschingeltritt. Ich erklärte das Unternehmen für unmöglich. Dennoch zeigten mir meine Führer die Möglichkeit. Das Klimmen begann. Bei allen Göttern! glaube mir, lieber zehn Schlachten mitmachen, als noch einmal dort hinanklettern. Da hängst Du zwischen dem Himmel droben und dem grün heraufblitzenden schneelosen Eisspiegel drunten. Schaue nicht hinunter, Du schaust in den Tod. Und doch kannst du nicht anders. Aber lege Deine ganze Willenskraft in Füße und Alpstock, stemme Dich fest an – ein Fehltritt, und kein Gott hält deinen zerschmetternden Sturz auf.

Als wir den Rand des obern Tschingelgletschers, dessen kolossale, wildbizarr aufeinander geschichteten Eisblöcke vom Staub des von den Winden zerriebenen Gesteins schwarz gefärbt waren, erreicht hatten, ruhten wir aus und schauten uns um. Wie glühten sie prachtvoll in der Morgensonne, die Kuppen des Tschingelhorns, des Breithorns, der Jungfrau und alle die herrlichen Kolosse! Tief ergriff mich die Poesie in dem Ausdruck des ältern Führers, das seien die Leibgrenadiere des Herrgotts.

Weiter, weiter hinein ins Allerheiligste der Wildnis! Du bist darin, wenn Du über den Blümlisalpgletscher hinschreitest. Sanft abgedacht, steigt er in einer Länge von etwa drei Stunden hinan. Frischer Schneefall hatte seine Eismassen mit einem blitzenden Weiß überzogen. Die Blendung der von der Schneedecke zurückprallenden Sonnenstrahlen vermag die Sehnerven zu lähmen. Schlage daher das schleierartige Tuch vor das Gesicht und lüfte es nicht zu oft, um immer und immer wieder die Prachtsäulen dieses Riesendomes, welchen Du durchwandelst, anzustaunen. Aber Du kannst nicht anders. Du mußt Dir das unbeschreibliche Bild von erhabener Wildheit und einsamer Majestät in die Seele prägen, welches zwischen der Blümlisalp, dem Gspaltenhorn, Doldenhorn, Zackhorn, Schildhorn, Balmhorn und Altels Deinen Blicken aufgerollt ist.

Auf der Höhe des Gletschers standen wir zehntausend Fuß hoch und drüber ob dem Meeresspiegel. Berge, die von drunten angesehen den Himmel zu tragen scheinen, lagen ganz unansehnlich unter uns, indem sie kaum mit ihren höchsten schneebekrönten Spitzen über den Gletschervorhang aufragten. Was für Strapazen hatte es gekostet, so hoch zu klimmen! Aber die stahlkräftige Luft hier oben, welche die Lungenflügel bis zum Bersten weitet, läßt keine Ermattung aufkommen. Du fühlst Dich so leicht, so froh und frei wie die Gemsherde, welche dort drüben an der Wand des Zackhorns mitten zwischen Eis und Schnee einen Grasplatz gefunden hat. Ganz eigentümlich imponierend und ergreifend ist die Stille, das erhabene Schweigen dieser Regionen. Nur zuweilen wird es unterbrochen durch einen heiseren Schrei, und aufblickend siehst Du einen Adler oder Lämmergeier majestätischen Flügelschwunges über die prachtvolle Öde hinstreichen.

Meine Führer machten mich noch auf einen schmalen Grat aufmerksam, von dessen Scheitel man hinaussehe nach Deutschland und Frankreich. Ich kletterte mühselig hinan. Der von der Mittagssonne aufgeweichte Schnee löst sich bei jedem Tritt unter den Füßen, rollt mit wachsender Schnelle abwärts, ballt sich, schiebt immer größere Massen vor sich her, und wenn Du Dir getraust, in die gähnenden Schlünde zu blicken, siehst Du drunten die donnernde Lawine auf Eisblöcken zerschellen. Droben sah man wirklich weit hinaus in die Lande. Die dunkeln Streifen dort seien der Schwarzwald und die Vogesen, sagten meine Begleiter. Aber von solcher Höhe herab gesehen, verschwimmen Formen und Farben zu grauen und braunen Massen. O, wie so tief und weit lag die Welt unter mir! Sie mutete mich an wie eine halbvergessene Melodie, wie ein Lied, von welchen man nur noch einzelne Worte und Klänge in der Seele hat.

Der wildverworrene Eissturz, welcher zwischen das Doldenhorn und Zackhorn eingeklemmt ist, bildet die Grenzscheide des Blümlisalp- und des Kanderngletschers. Seitlängs des letztern stiegen wir, nachdem wir den ganzen Tag in der Gletscherwelt verbracht, wieder zu Tale, hinab nach Kandersteg. Von da machte ich an den folgenden Tagen noch Ausflüge in das Gasterntal, in dessen lieblichst grüne Matten herab ringsher aus vergletscherten Felswänden silberne Bäche springen, wie aus Himmelshöhen, und in das Öschinental, in dessen mit allem Zauber heiligster Bergeinsamkeit geschmücktem See Doldenhorn und Blümlisalp ihre Schnee- und Eisfelder spiegeln. Dann ging ich über den Gemmipaß ins Wallis hinüber und hinab an den schönen Leman.

Es ist sehr seltsam! In dem Maße, in welchem ich mich wieder den Wohnstätten der Kultur näherte, regte sich auch wieder mehr und mehr die Leidenschaft in mir. Ich hatte in Montreux und Vevey, auf meinem Wege nach Lausanne, Spuren von Lauretta und ihrer Reisegesellschaft gefunden. Sie mußten, vermutete ich, vom Urserental aus zwar über die Furka, aber nur bis zum Rhonegletscher und von dort das Wallis hinabgereist sein. Ich verfolgte die aufgefundenen Spuren mit brennender Sehnsucht. Sie leiteten mich hierher nach Genf. Das Resultat meiner Nachforschungen ist, daß Lauretta unzweifelhaft hier war. Aber wo ist sie jetzt? Der Faden ist wieder gerissen.

Eine sehr unsichere Vermutung läßt mich annehmen, die Gesuchte sei das Arvetal hinauf nach Chamounix gegangen. Ich werde mich heute noch dahin auf den Weg machen, denn ich will und muß sie noch einmal sehen, und wäre es zuletzt auch am Hofe des Herzogs von S. G.

Nenne mich einen Toren, teurer Freund, aber laß mir die Hoffnung, daß ich Lauretta wiederfinden werde. Ach, ich kann nicht, wie ihr Dichter tun könnt, über meine Leidenschaft mich erheben, indem ich sie zu einem künstlerischen Objekt mache, ich muß sie durchleben, weil ich wie ein einfacher Sterblicher darin befangen bin. Ob meine Beharrlichkeit vergeblich sein wird? Es kann, es darf nicht sein! Steht nicht geschrieben, daß die Liebe alles überwinde? Die Götter geben's!«


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